177531.fb2 Tod auf der Northumberland - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 29

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Noch immer starrte sie ihn an wie eine Erscheinung. »Was?«

»Rittlings ist es sicherer. Geben Sie mir Ihre Hand und schwingen Sie ein Bein über die Spiere.«

»Über was?«

»Die Spiere, das Querholz, das Ding, auf dem Sie sitzen, mein Gott!«

»Oh!« Diese Anspielungen auf ihr Gesäß und was sie damit tun sollte, schien sie bereits für eine grobe Unsittlichkeit zu halten, tat aber schließlich, was er sagte, und saß ihm rittlings, aber immer noch merkwürdig somnambul gegenüber.

»Wie …« Er unterdrückte einen Fluch. »Warum sind Sie hier heraufgekommen?«

»Ich wollte den Sonnenaufgang sehen«, sagte sie geistesabwesend. »Ich dachte, von hier oben aus ginge das schon.«

O Gott, dachte Gowers. »Da müssen Sie noch gute zwei Stunden warten. Soll ich Sie dann abholen, oder soll ich Ihren Vater schicken?«

Diese Drohung machte sie etwas munterer, und er war froh. Er hatte schon befürchtet, sie ohrfeigen zu müssen.

»Nein, bitte, helfen Sie mir. Das Raufklettern war ganz leicht, aber dann habe ich nach unten gesehen und …«

»Konnten sich nicht mehr bewegen, schon gut.« Zwanzig Meter tiefer sah auch Gowers im Grau der Nacht nur die winzigen Lichter der Wache und ab und zu die Schaumkrone einer Welle. Kein Wunder, wenn man sich da an jeden Mast klammerte, den man erreichen konnte. »Tun Sie jetzt genau, was ich sage, und sehen Sie nicht nach unten!«

Es dauerte eine ganze Weile, bis er sie sicher zwischen seinem Körper und den Wanten hatte. Den linken Arm hielt er dicht um ihren Bauch, griff in die Taue und kommandierte den langsamen Abstieg: linke Hand ab, rechter Fuß ab, rechte Hand ab, linker Fuß ab. Zuerst lächelte er in der Erinnerung daran, wie McClure ihn auf seiner allerersten Reise auf die gleiche Weise aus den Wanten geholt und anschließend verprügelt hatte. Dann spürte er, wie ihr Körper sich unter dem schweren Stoff immer sicherer bewegte, und wünschte, sie wäre zwei Jahre älter und nicht ausgerechnet die Tochter dieses Missionars.

An Deck angekommen, knickte sie in den Knien ein, widerstand aber der Versuchung, an seine Brust zu sinken, sondern stützte sich am Schanzkleid ab. Sicheren Grund unter den Füßen, wurde sie dann doch noch einmal sehr unsicher. »Bitte sagen Sie meinem Vater nichts davon!«

»Ihrem Vater würde ich nicht mal sagen, wo oben und unten ist«, erwiderte Gowers knapp. Sie errötete über die Beleidigung, die in dieser Zusage steckte, und vergaß deswegen sogar, sich zu bedanken, als sie mit schwankenden Schritten unter Deck floh.

»Gekonnte Rettungsaktion, Mr. Thompson!«, ertönte eine Stimme hinter ihm, als Gowers versuchte, seine Zigarre wieder anzuzünden.

»Oh, Kapitän!« Der Investigator fing sich bemerkenswert schnell wieder. »Ich musste selbst schon ein paarmal aus der Takelage geholt werden, wissen Sie.«

»Wie zum Teufel ist sie da raufgekommen?«, fragte Radcliffe verständnislos.

»Ich fürchte, das weiß sie selbst nicht, Sir«, erwiderte Gowers galant. Der Kapitän zuckte mit den Schultern.

»Nun ja, es gibt Dinge zwischen Himmel und äh …« Er schaute kurz nach oben, als würde er erwarten, ganze Trauben junger Mädchen in der Takelage hängen zu sehen, »Marsstengen, die sich unsere Schulweisheit nicht träumen lässt.« Radcliffe schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich hoffe nur, Sie wollen das Mädchen nicht heiraten?!«

»Eher friert die Hölle ein, Sir!«

»Das beruhigt mich außerordentlich, Mr. Thompson.« Mit dem gewohnt ironischen Kniff um den wohlbebarteten Mund setzte der Herr des Schiffes seinen nächtlichen Rundgang fort und federte beinahe vor Vergnügen.

80.

Er liebte und fürchtete das Meer auf eine fast religiöse Weise, so wie Einsiedler und Trappisten Gott lieben und fürchten. Ohne Bedingung. Es war das Große, Unbeeinflussbare, das, was immer da war. Er konnte einen Kurs berechnen, Windstärken, Strömungen einschätzen, und der Himmel über dem Meer, am Horizont, sagte ihm viel über das Wetter der nächsten Stunden.

Aber er konnte das Meer nicht verändern, beherrschen, das Meer tat, was es tat. Man musste sich ihm hingeben. Alles Planen, Wollen und Hoffen, jede Art von Geschicklichkeit verschwand irgendwann, unterlag, wurde wertlos – wenn auch nicht unwichtig – auf dieser größten aller Wellen. Gott und das Meer waren deshalb den meisten Menschen unheimlich, sie beteten, opferten in ihren kleinen Kirchen eigentlich nur in der irrsinnigen Hoffnung, dem Unbeeinflussbaren dadurch irgendwie ein Schnippchen zu schlagen. Eine Art Rechtsanspruch auf Seligkeit oder klaren Himmel zu erlangen. Ihr »Nicht wie ich will, sondern wie du willst« blieb ein lebenslanges Lippenbekenntnis, und ihre Gottesfurcht war eine Furcht ohne Respekt, war nichts als die Angst, irgendwann erwischt zu werden, auch wenn sie nicht das Geringste getan hatten.

Noch bei den dümmsten, abgestumpftesten Seeleuten war das anders. Ihre Furcht vor dem Meer war eine stolze, respektvolle Furcht, nur ihre Liebe war demütig. John Gowers hatte das als Vierzehnjähriger erfahren, in einem Sturm, der nicht von dieser Welt war. Zwischen turmhohen Wellen, von denen ein besonders fantasievoller Matrose nachher behauptete, er habe ertrunkene Walfische darin treiben sehen, und gegen die keine Kunst, keine Maschine etwas ausrichten konnte, schon gar nicht der kleine umgebaute Walfänger namens Investigator auf seinem Weg durch den Südpazifik.

Sie hatten gekämpft, wo Kampf sinnvoll war, waren ausgewichen, wenn sie ausweichen konnten. Sie hatten alles richtig gemacht; und wenn man alles richtig macht, das hatte der Junge, mit einem Tau an den übrig gebliebenen Stumpf des Großmasts gebunden, erkannt, dann ist nicht mehr wichtig, ob man überlebt oder untergeht. Denn dann ist auch der Untergang richtig.

John Gowers’ Kämpfe waren seither nur noch die Kämpfe gegen Beeinflussbares gewesen, gegen Umstände, die er verändern konnte. Meist also Kämpfe gegen Menschen. Die hatte ihn nicht das Meer, sondern seine Mutter gelehrt.

81.

Vor St. Stephan’s Hall, den Houses of Parliament sah sie zum ersten Mal, wie aussichtslos ihr Unternehmen tatsächlich war. Hier standen nicht Dutzende, sondern Hunderte von Petenten, wohlgerollte Schriftsätze in den Händen, nie mehr als ein Blatt, leicht zu lesen und hübsch farbig verschnürt. Jane hatte nur das Heft, in das sie in den vielen kurzen Nächten ihre Beobachtungen, Erfahrungen, Geschichten, Gedanken niedergeschrieben hatte, dazu einen kurzen Brief, in dem sie darum bat, dass dieser Bericht gelesen und gewürdigt werden möge.

Als die Abgeordneten aus dem Parlamentsgebäude herausströmten und all diese Kaufleute, Kleinunternehmer, Rechtsanwälte, Hausbesitzer erst die Abgeordneten selbst und dann auch ihre Droschken umlagerten, unablässig ihre Petitionsröllchen schwenkten und dabei ihr »Ehrenwerter Herr, hier«, »Ehrenwerter Herr, da« durcheinanderschnatterten, musste sie lachen. Halb über dieses Bild und halb über die Vorstellung, wie sie selbst ein Teil dieses Bildes sein würde.

Noch erstaunlicher als dieses Schauspiel war die Geschwindigkeit, mit der sich alles auflöste. Keine Viertelstunde nach Ende der Sitzung war der Platz vor St. Stephan’s Hall leer, all die Menschen mit ihren unterschiedlichen Anliegen in die vier Winde der Stadt zerstreut, nur hier und da lag noch eine zertrampelte Bittschrift auf dem Pflaster. Das war Janes erster Eindruck von der hohen Politik.

Unsicher, ratlos darüber, was zu tun sei, was sie tun könnte, ging sie zum Eingang des Gebäudes, bis ein backenbärtiger Polizist, den sie bis dahin gar nicht gesehen hatte, sich ihr in den Weg stellte.

»Kein Durchgang, Madame!«

»Ich muss mit jemandem sprechen.«

»Aber nicht mehr heute, Madame, keiner mehr drin. Sie haben ja gesehn, wie’s geht!«

Erst später wurde ihr klar, dass der Mann das Geschehen auf dem Platz und auch sie selbst sehr genau beobachtet haben musste. Wie sonst wäre sie ihm überhaupt aufgefallen? Sie ging ein paar Schritte zurück, dann überwältigte sie die Verzweiflung, und sie drehte sich wieder zu dem Polizisten um.

»Bitte, können Sie mir sagen, an wen ich mich wenden muss?«

»Frauenfrage?«, schnurrte der Backenbärtige launig herunter. »Bildung? Etwas Kirchliches? Oder etwas Soziales?«

»Ich denke, etwas Soziales«, stammelte Jane.

Etwas an ihrer Hilflosigkeit schien ihn zu rühren oder zu belustigen. »Überspringen Sie die hier alle«, raunte er ihr jedenfalls zu. »Wenden Sie sich direkt an Lord Ashley. Etwas Soziales? Sofort zu Ashley!«

»Wie sieht er denn aus?«, fragte sie, naiver, als sie war, und fügte rot werdend sofort hinzu, was sie eigentlich fragen wollte: »Wer ist Lord Ashley? Und wo finde ich ihn?«

Der Polizist war jetzt nur noch eine Mischung aus Mitleid und milder Verachtung. »Seine Lordschaft pflegt morgens gegen neun Uhr hier einzutreffen. Je früher Sie kommen, desto größer sind Ihre Chancen. Und wenn ich Ihnen noch einen Rat geben darf, liebes Kind: Lesen Sie vorher mal ein paar Zeitungen!«

Er drehte sich abrupt um, und Jane schluckte ein wenig, als sie dem prächtigen Bau den Rücken zudrehte und den fast drei Meilen langen Weg zurück in ihr kleines Quartier antrat. Am liebsten wäre sie gleich wieder heimgefahren. Aber sie dachte an Ben, an Beth, Mary-Ann, Mutter Irvine. Sie dachte an John. Also kaufte sie unterwegs einige Zeitungen, ein paar Bögen Papier und Feder und Tinte.

82.

Anthony Ashley Cooper, einundvierzig Jahre alt, Vater von fünf Kindern, Sohn und Nachkomme von sechs Earls of Shaftesbury – darunter der erste, Staatsmann unter Cromwell und Charles II. gleichermaßen, oder der dritte, Dichter und Philosoph, der ein literarisches Vermächtnis von einigen Dutzend Bänden hinterließ, das für seine unglücklichen Nachkommen zur Pflichtlektüre wurde – Anthony Ashley Cooper war wieder einmal miserabler Laune.

Einen Gentleman, der sich mit jedermann streitet, weil er mit sich selbst uneins ist, hatte ihn die Morning Post genannt; und das roch nach Peel, der ganze Artikel roch nach einer offiziellen Quelle. Seit er sich im Herbst geweigert hatte, Peels Kabinett beizutreten, ging das jetzt so, nannte ihn der Premierminister nur noch »das ehrenwerte Mitglied aus Dorset«, und er hatte noch keinen Weg gefunden, sich dagegen zu wehren.

Die Bittsteller verscheuchte er unwillig, seine Sekretäre drängten sie ab, Jungen aus bester Familie, frisch aus Harrow, gutes Material. Eine junge Frau fiel ihm wegen ihrer Nase auf, war vielleicht auch schon gestern, vorgestern mit dabei gewesen, rief seinen Namen, schwenkte ihre Bittschrift. Wer weiß, vielleicht würde er sie nächste Woche annehmen. Jetzt hatte er andere Sorgen. Solange Peels Kabinett nicht über sein neues Fabrikgesetz diskutieren wollte, würde er diesem Kabinett eben nicht angehören – aber solange er ihm nicht angehörte, würde es eben nicht darüber diskutieren, ob einem frei geborenen Engländer das Recht, vierzehn oder sechzehn Stunden am Tag zu arbeiten, gesetzlich genommen werden darf, und es würde für die Arbeiter niemals den Zehn-Stunden-Tag geben, den Anthony Ashley Cooper ihnen verschaffen wollte. Es war ein verdammter Teufelskreis!

Jane hatte sich schon am zweiten Tag überlegt, dass es andere Wege geben müsste. Sie wusste jetzt, wer Lord Ashley war: ein glühender anglikanischer Christ, Menschenfreund, Vorkämpfer der Sechzig-Stunden-Woche, der durchgesetzt hatte, dass Kinder unter neun Jahren nicht mehr in den Mühlen arbeiten mussten. Er war der Mann, der sie verstehen würde – wenn sie ihn nur sprechen könnte!

Aber die endlosen Wege, das Pflaster der Stadt ruinierten ihre Füße, ihr bestes Kleid; auch das Geld würde nur noch für wenige Tage reichen. Sie hasste sich für die einzige Idee, die sie schließlich hatte.

Lady Emily Ashley, geborene Cowper – Nachfahrin eines Dichters auch sie –, hatte die zerfleischenden Selbsterkenntnisse ihres Gatten stets christlich-sorgend begleitet, wusste um seine inneren Kämpfe, kannte auch die äußeren gut genug und stand ihm in beiden nach Kräften zur Seite. Das Billett einer Pfarrerstochter aus – wie hieß das? – Benwell am Tyne war recht ungewöhnlich, aber vielleicht sollte das Mädchen in London zur Schule gehen, gesellschaftlich zulernen, vielleicht auch in eine ehrbare Stellung vermittelt werden, vielleicht …