177531.fb2 Tod auf der Northumberland - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 3

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»Du darfst das nicht sagen.«

Sie schüttelte wieder den Kopf, dann überlegte sie es sich anders und nickte heftig. Gowers starrte auf den undefinierbaren Haufen Müll, den sie zusammengekehrt hatte.

»O Sir!« Sie verstand den Blick falsch, fiel auf die Knie und kramte eine Handvoll zerknickte, halb zerrissene Aufnahmen aus dem Abfall. »Sie wollen Bilder kaufen? Schöne Bilder? Ein paar sind noch … Ein paar …«

8.

Diesmal nur Mädchen. Oder Frauen, die versuchten, wie Mädchen auszusehen. Auch die Farbige selbst, in deutlich jüngeren Jahren. Und alle lächelten angestrengt und falsch, ein Lächeln wie aufgemalt, während weiße Knicke, Falten über ihre Gesichter liefen und die traurigen nackten Leiber zerrissen.

Gowers sah sich noch einmal im Zimmer um, scharrte hier und da mit den Füßen in der Verwüstung und wusste endlich, was er nicht sah: Überreste, Fetzen der gewachsten Papiernegative, deren Herstellung sich William Henry Fox Talbot vor einem Vierteljahrhundert hatte patentieren lassen.

»Wo …«, begann er, aber instinktiv wusste sie, wonach er jetzt suchte, und stellte sich ihm in den Weg. Sie schien mit einem Mal überhaupt nicht mehr naiv, vielmehr entschlossen, ihre letzte Hoffnung auf eine Zukunft mit Fred Tingle bis aufs Leben zu verteidigen. Gowers hob beschwichtigend die Hände.

»Nur eins! Ich will nur ein einziges. Und ich bezahle.«

Zehn Minuten später trug er Caroline Blandon, verewigt in Sodiumchlorid und Silbernitrat, auf seinem Herzen respektive in der Brusttasche. Aber er war noch keinen Block weit gegangen, als er sie sah. Den unvermeidlichen Besuch in seinem Büro hatten sie offenbar noch einmal aufgeschoben, Dringenderes war zu erledigen.

Vier gut, sehr gut gekleidete Iren waren im New York von 1865 eine einigermaßen auffällige Erscheinung. Einer von ihnen war tatsächlich über zwei Meter groß, und alle hatten sie die grimmigen Gesichter von Männern, denen gerade jemand den wesentlichen Unterschied zwischen Calo-und Daguerreotypie klargemacht hatte. Die nun mit Glasplattennegativen, Bleiabzügen und dem übrigen Groß und Klein der Fotochemie auf Du und Du standen und entschlossen waren, ihren Fehler wiedergutzumachen.

Gowers wollte zuerst auf die gegenüberliegende Straßenseite ausweichen. Dann fielen ihm die Farbige und ihr verzweifelter Mut ein, er dachte auch daran, dass die Iren jetzt und hier noch nicht mit ihm rechneten. Er kniete nieder und nestelte an seinem Stiefel herum. Zuerst der Riese!, dachte er noch, und als die Schläger auf seiner Höhe waren, schnellte er aus seiner geduckten Position hoch und trat dem völlig überraschten Mann die Hoden bis weit in die Leisten hinauf. Den zweiten traf er mit dem Totschläger genau zwischen die Augen. Die Wucht seines eigenen Schlags riss Gowers herum, und ein furchtbarer Ellenbogenstoß in die Herzgrube beendete die überraschten Abwehrbewegungen eines dritten Schlägers.

Erst der vierte kam überhaupt dazu, sich zu wehren. Ein ganz junger Bursche, Gowers bewunderte ihn fast ein wenig für seinen Mut. Seine älteren, weit stärkeren Genossen waren innerhalb von zwei Sekunden zu Boden gegangen, aber der Junge dachte gar nicht daran wegzulaufen. Sein Schlag streifte Gowers am Ohr, aber der Investigator packte den Arm und drehte ihn mit einem kraftvollen Ruck aus dem Schultergelenk. Der Junge schrie wie am Spieß, blieb aber auf den Beinen, bis ein Tritt in die Kniekehle auch ihn zu Fall brachte. Alles ging so schnell, dass einige wagemutige Passanten erst stehen blieben, als es schon vorbei war. Gowers wusste, dass diese Männer gekauft waren und sich immer wieder kaufen lassen würden. Dass sie kein Mitleid kannten und keins erwarteten und sich rächen würden, sobald sie wieder dazu in der Lage wären. Ohne weitere Bedenken machte er sich an die hässliche Arbeit des Knochenbrechens.

9.

Der Leutnant versuchte, sich auf dem Tisch abzustützen, aufzuspringen, aber da waren plötzlich keine Muskeln mehr, nur ein nasses, warmes Gefühl auf seinen Schenkeln und Geschlechtsteilen. Er krümmte sich unwillkürlich und fiel mit dem Gesicht auf die Tischplatte. Das Ding ging weiter, immer weiter, schräg aufwärts durch ihn hindurch. Es schien endlos zu sein. Erst der Widerstand, den sein Rückgrat bot, schob seinen Körper mitsamt dem Stuhl ein wenig zurück, und der entsetzliche Druck ließ nach. Der Besucher hatte den Griff des Degens losgelassen und stand auf.

Charles Turner stieß sich nun doch vom Tisch ab und fiel auf die Knie. Er öffnete den Mund, um zu schreien, aber er brachte nur eine Art Seufzen hervor, ein langgezogenes »Aaaach!«. Ratlos griff er nach der Klinge, die ihn durchbohrt hatte, und zerschnitt sich die Finger an der scharfen Schneide. Der Griff schien aus Gold zu sein und ragte gut anderthalb Fuß weit aus seinem Körper hervor.

»Ich sehe, Sie interessieren sich für die Waffe, Charlie«, sagte der Mörder trocken. »Keine gewöhnliche Klinge, wissen Sie. Ein Ehrendegen, verliehen an Major Burtlock, für hervorragende Verdienste während der indischen Rebellion.«

Turner hatte begonnen, auf allen vieren zur Tür zu kriechen, wobei der Degengriff schwankte wie ein Grashalm. »Hilfe!«, flüsterte er und hinterließ eine breite Blutspur im Zimmer, ehe der Mörder ihn durch einen Tritt in den Hintern zu Fall brachte. Seit er das Zimmer betreten hatte, waren noch keine fünf Minuten vergangen.

Der tödlich Verwundete zog sich jetzt langsam zum Bett hoch, wogegen der Mörder nichts zu haben schien. Turner wollte immer noch schreien, aber da die weitaus meisten seiner Bauchmuskeln durchschnitten waren und nur noch zu ziemlich sinnlosen Kontraktionen in der Lage, kam nicht mehr als ein Wimmern über seine Lippen, dem verzweifelten Weinen eines Kindes vergleichbar. Er krümmte sich auf dem Bett zusammen, in der kleinen Mulde, die Madeleines schmaler Körper hinterlassen hatte, und versuchte noch einmal vergeblich, die Klinge aus seinem Leib zu ziehen.

Der morgendliche Eindringling hatte seinen Hut wieder aufgesetzt und betrachtete sich im Spiegel. Hinter sich erkannte er das Bett, und er fragte sich, wie er es in Hotelzimmern schon häufig getan hatte, was ein solcher Spiegel wohl schon alles gesehen hatte. Dann wandte er sich wieder seinem Opfer zu, dem inzwischen Blut aus Mund und Nase lief, das aber noch bei vollem Bewusstsein war.

»Immer noch nicht tot?« Er zog den Degen ein Stückchen heraus und drehte ihn in der Wunde, sodass die Schneide Richtung Kopf zeigte. Turner schrie nun doch, aber es klang wie ein helles Gurgeln, und das Blut vor seinem Mund wurde schaumig. Keuchend trieb der Mörder die Klinge durch Eingeweide und Muskeln zum Brustbein hoch, eine schwere, langsame Arbeit, bei der seine Worte seltsam abgehackt wirkten.

»Nun müsste – aber langsam – Ihr Herz kommen – alter Junge!«

Der Körper hörte endlich auf zu zucken, Charles Turner war offensichtlich tot. Aber wenn es stimmt, dass die Seelen der Verstorbenen noch eine Weile am Ort ihres Todes herumschweben, ohne Hass, im vollkommensten Frieden von der Zimmerdecke zurückschauen, dann konnte die Seele des Leutnants über seinen jetzt regelrecht geschlachteten Körper hinweg beobachten, wie der Mörder langsam, als müsse er jeden Schritt bedenken, ans offene Fenster trat und in der hereindringenden Brise tief durchatmete.

Falls man auch noch etwas hört, außer der Stille vor dem Einsatz der himmlischen Chöre, vernahm Turner die wie sinnlos dahingemurmelten Worte: »Die See, Charlie, die See!«

Weit hinten am Strand war schon früh am Morgen ein junges Mädchen im Sommerkleid mit ihrem Hund unterwegs. Sie warf ein Stöckchen, und das alberne Tier sprang ihm nach in die kurzen, kalten Wellen.

Danach soll man angeblich ein helles Licht sehen.

10.

HARPER’S WEEKLY, Journal of Civilization, stand dem Tammany-Ring und seinen korrupten Mitgliedern unversöhnlicher gegenüber als jede andere Publikation. Diese Feindschaft und Caroline Blandon – (gut gewachst und schimmernd von Silbernitrat, wie er obszön dachte) – brachten Gowers doch noch eine beachtliche Summe ein, obwohl sie das Bild natürlich nie veröffentlichen würden. Wahrscheinlicher war, dass die Zeitung mit diesem Druckmittel einen hochrangigen neuen Informanten aus dem direkten Umfeld des verhassten Rathauschefs gewann.

Sicher war hingegen, dass der Senator Mittel und Wege finden würde, sich zu revanchieren. Nicht heute, nicht morgen, aber irgendwann in einer der dunklen Straßen, die zu betreten Gowers in seinem Beruf kaum vermeiden konnte. Jeder neue Klient konnte ein Strohmann sein, jede neue Ermittlung in eine Falle führen. Er schwor sich, nie wieder für einen Politiker zu arbeiten, und begann, seine Sachen zu packen. Wie immer fiel ihm dabei seine Mutter ein. Durch so endlos viele Zimmer, Pensionen waren sie gemeinsam gezogen und hatten bisweilen zweimal im Monat die Bleibe gewechselt, halb auf der Flucht, halb auf der Suche nach einem besseren Leben. Was ihm davon geblieben war, waren die Leichtigkeit, mit der er sich von Dingen trennen konnte, die er nicht mehr brauchte, und ein sicheres Gespür dafür, welche Dinge das waren. Außerdem, wenn auch eher mechanisch, eine gewisse Systematik beim Einräumen seiner wenigen wirklichen »Habe«.

John Gowers hatte nie mehr besessen, als sich in einem Reisesack verstauen ließ. Einen zweiten Anzug, einige Hemden, Unterwäsche, eine ausgeblichene Offiziersmütze der Nordstaaten, seinen Army-Revolver, ein paar Kisten Zigarren, das holzgeschnitzte Etui mit der blauen Brille und eine abgegriffene Ausgabe der Canterbury Tales. Sein Messer steckte wie immer in einer Lederscheide in seinem rechten Stiefel, sein eiserner Freund, der Totschläger, in der Manteltasche. Er dachte über die Richtung nach, dachte an New Orleans und fragte sich, ob Maggie noch lebte.

Als er leise Schritte vor der Tür seines Büros hörte, glaubte Gowers zuerst, dass Senator Blandon ungeduldiger war, als er erwartet hatte. Dann erkannte er an der Art des Klopfens, dass ein neuer Fall vor der Tür stand, und legte den Revolver weg, den er instinktiv noch einmal aus seinem Gepäck geholt hatte.

»Ja?«

»Sind Sie der Detektiv?«

Eine Engländerin, wusste Gowers, als sie noch in der Tür stand. Etwas über zwanzig, obere Mittelschicht, merkwürdig blass. Eine Krankheit oder eine Seereise, dachte er. Oder beides.

»Investigator«, erwiderte Gowers. »In Amerika sagen wir: Investigator.«

Die Unsicherheit ihres Gangs, die Art, wie sie den Stuhl zurechtrückte, verriet ihm endgültig, dass sie noch keine drei Stunden an Land war und mit der Blandon-Geschichte nichts zu tun haben konnte. Ein durchgegangener Ehemann, Bruder oder Vater, dachte Gowers. Schulden. Oder eine Erbschaft. Er musterte seine Klientin noch einmal. Sie war nicht hässlich, aber auch keine Schönheit, die man auf den Promenaden Londons oder Brightons vermissen würde. Manchmal stahl sich ein unschöner Zug um ihre Lippen, zeigten die Mundwinkel nach unten, als hätte sie in ihrer Jugend auf etwas Saures gebissen und die Erfahrung nie ganz verwunden. Im Augenblick interessierte ihn aber mehr die schmale Taille, der flache Bauch. Keine Schwangerschaft in den letzten Jahren. Aber egal, er würde den Kerl schon auftreiben …

»Mein Name ist Emmeline Thompson, Mr. Gowers. Mein Vater …«

Erbschaft!, dachte Gowers.

»… ist ermordet worden.« Sie schluckte hörbar. »Jedenfalls glaube ich das.«

Gowers nickte ihr ernst zu. Ohne sie aus den Augen zu lassen, holte er eine Flasche Portwein aus den Tiefen seines Schreibtischs und goss der jungen Dame trotz ihrer heftig abwehrenden Handbewegungen das Glas voll, das für seine Kundschaft reserviert war.

»Erzählen Sie mehr«, sagte er und schloss konzentriert die Augen.

11.

Der Investigator wusste, dass die Gegenwart der kleinste Teil der Welt ist; Oberfläche einer sich brechenden Welle, ahnungslos, aber unlöslich verbunden mit der Tiefe, aus der sie steigt, und den Kräften und Widerständen, die sie formen. Seine Mutter hatte ihm von der Welle erzählt, er selbst hatte sie gespürt, in seiner Kindheit schon, und danach in so vielen anderen Zeiten und Situationen, dass man sie verschiedene Leben nennen konnte. Natürlich gab es auch Zufälle, sie waren das Treibgut der Gegenwart und wurden, wenn sie nicht so schnell und spurlos vorübergingen wie ein Fremder in der Menge, ihrerseits Ursache für Wirbel und Strömungen. Die Gegenwart beurteilen, erklären zu wollen, ohne die Vergangenheit zu kennen, hieße, sich von den flüchtigen, oft genug sinnlosen, eben zufälligen Eindrücken des Augenblicks blenden zu lassen, sich nicht an der Sonne, den Sternen zu orientieren, sondern an den Lichtreflexen auf dem Wasser.

Sicher, man musste die Gegenwart im Auge behalten, vor allem, wenn sie etwa in Form von vier irischen Schlägern daherkam. Dann war ziemlich unerheblich, wer diese Männer waren, woher sie kamen oder wie sie wurden, was sie waren. Dann zählten nur ihre unmittelbaren Absichten und was sich dagegen tun ließ. Aber um irgendein fremdes Leben oder Sterben auch nur in seinen Umrissen zu erkennen, Linien und Brüche zu sehen, Verbindungen herzustellen, Schlüsse zu ziehen, Beziehungen, Verhaltensweisen, Handlungen und Nichthandlungen zu begreifen, war es besser, die Augen zu schließen und sich der Tiefe anzuvertrauen.

Nicht so sehr, zu erraten, was man nicht weiß, sondern zu klären und zu ordnen, was man weiß und wissen kann, ist Ermittlungsarbeit. Also fragte John Gowers sich, wer Samuel und Emmeline Thompson waren, der eine, bevor er starb, die andere, ehe sie zu ihm kam. Und Emmeline Thompson, weniger reflektiert, unbewusst, fragte sich: Wer ist John Gowers?

12.

Als sie alles erzählt hatte – von ihrem Vater Samuel Thompson, der unterwegs gewesen war, um Gouverneur von St. Helena zu werden, der sich auf diese Aufgabe gefreut hatte wie seit Jahren auf nichts, seit seine Frau, ihre Mutter, gestorben war – als sie alles erzählt hatte, waren die Augen des Mannes noch immer geschlossen. Und obwohl er keine Miene verzog, hatte Emmeline Thompson das unangenehme Gefühl, dass er mehr wusste, als sie gesagt hatte.

Dieses Gefühl empörte sie. Sie hatte es zum ersten Mal als junges Mädchen empfunden, als im Verlauf einer hartnäckigen bronchialen Erkrankung ein Arzt ihre Brust abgeklopft und angesehen hatte. Zwar war sie diesmal nicht nackt. Aber dieser Detektiv oder Investigator oder wie immer er sich nannte, hatte auch nicht das vertrauenswürdige Alter oder den vertrauenerweckenden Bart wie der Arzt damals, der immerhin auch ihre Mutter behandelt hatte. Was wusste sie von John Gowers?

Nur, dass sein Name als erster gefallen war, als man ihr auf dem Polizeirevier gesagt hatte, dass man für einen Mord auf hoher See nicht zuständig sei, schon gar nicht an Bord eines englischen Schiffes und noch weniger bei dem dringenden Verdacht auf Selbstmord. Da würde sie sich einen privaten Ermittler suchen müssen. War Gowers Name als erster gefallen, weil er so gut war? Oder einfach, weil sein Büro in der Nähe des Hafens lag?

Er sah nicht sehr eindrucksvoll aus, eher harmlos, bis auf irgendetwas in seinen Augen, das sie beunruhigte. Er war allenfalls zehn Jahre älter als sie, kaum über dreißig, nicht besonders groß, nicht besonders kräftig. Nach seiner Kleidung und seinem Büro zu urteilen, nicht einmal besonders erfolgreich. Was würde so jemand schon tun können?

Gowers wusste, dass sie unglücklich war. Schon unglücklich gewesen war, als sie England verlassen hatte. Und auch schon zwei Jahre vorher, genau genommen seit dem Tod ihrer Mutter. Das war der Moment, in dem ihr Leben abknickte wie eine Blume. Bis dahin mochte es Verehrer gegeben haben, Konzerte, Tanzabende. Seither gab es nur noch einen trübsinnigen Vater, die Pflichten einer Haushälterin und die Aussicht auf zehn Jahre Verbannung auf einem Felsen im Atlantik. Nicht gerade das, was man mit zwanzig, zweiundzwanzig vom Leben erwartet.