177531.fb2 Tod auf der Northumberland - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 30

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Es schmeichelte Lady Ashley, dass man ihren Rat bis an die schottische Grenze suchte, dass ihr Ruf als Philanthropin so weit gedrungen war. Die junge Frau, die in der Halle wartete, sah allerdings nicht aus, als müsste sie noch zur Schule gehen oder als würde sie einen christlichen Ratschlag suchen, geschweige denn einen annehmen, wenn sie ihn bekam. Vielleicht lag eine Verwechslung vor?

»Sie sind Jane, Tochter von Reverend Joseph Gowers?«, fragte sie misstrauisch geworden.

»Nicht mehr, Mylady. Mein Vater hat mich verstoßen.«

Großer Gott, eine Gestrauchelte, ein verkommenes Geschöpf, dachte Lady Emily Ashley, und: Wie dreist doch das Bettelvolk wird, wenn einer erst einen guten Namen hat! Ihre Fragen wurden so scharf, wie ihr christliches Gewissen es eben noch zuließ.

»Was wollen Sie hier?«

»Nur einen Moment Ihrer Zeit.«

»Wozu?«

Jane hatte nicht darüber nachgedacht, was sie auf diese Frage antworten würde. Sie konnte auch nie erklären, warum sie tat, was sie tat. Erinnerte sich nur, dass die Schutzflehenden ihre Hände erhoben in allen griechischen oder lateinischen Klassikern. Und Jane hob ihre Hände, die drei Jahre lang Kohle gegraben, geladen, geschleppt hatten, bis sie dicht vor den Augen der Dame waren.

»Für einen Bericht aus den Minen im Norden!«

83.

Zumindest das Gerücht davon, wer den Gott des Meeres mit solcher Inbrunst und ohne jede Scham verkörpert hatte, begleitete Eden seit Tagen auf Schritt und Tritt. Emmeline war deshalb wenig angetan von dem Gedanken, dass eine solche Skandalfigur ihr Trauzeuge sein sollte. Aber Carver, in blindem Stolz auf die Bekanntschaft mit einer so hochgestellten Persönlichkeit und wild entschlossen, für den Rest seines Lebens mit all den wundervoll abenteuerlichen Umständen seiner Hochzeit anzugeben, bestand auf Seiner Lordschaft.

Die Messe wurde für eine kleine Feier hergerichtet, und auf 32° 18’ West und 12° 26’ Süd sprachen Emmeline Thompson und Charles Carver das große Volo und waren nun offiziell Mann und Frau. Kapitän Radcliffe hielt keine bewegende Ansprache, sagte aber das Nötige, ohne die Anekdote zu erwähnen, die er Gowers erzählt und die dieser eigentlich jeden Moment erwartet hatte. Einen kleinen Seitenhieb konnte er der jungen Braut jedoch nicht ersparen, indem er sagte: »Ich freue mich, dass Sie so schnell Trost finden konnten, Mrs. Carver!«

Emmeline ärgerte sich schrecklich darüber, dass sie nun die erste Anrede mit ihrem neuen Namen ein Leben lang mit dieser versteckten Zurechtweisung in Verbindung bringen musste, wurde aber schnell durch das Ständchen versöhnt, das Charles’ zahlreich erschienene Kameraden zu diesem Anlass einstudiert hatten.

Gowers, dem solche Veranstaltungen gemeinhin schon als Zuschauer eher peinlich waren, hatte bereits in dem Augenblick, als Carver damals seinen Antrag machte, insgeheim befürchtet, eine Rede halten zu müssen. Er hatte sogar verschiedene Entwürfe gemacht und war dabei schon in Gedanken so schüchtern geworden, als wäre er die Braut. Darum war er gleichermaßen hocherfreut und tief erleichtert gewesen, als Hauptmann Bledsoe von den 16. Füsilieren zu erkennen gab, dass er sich selbst gerne reden hörte und es als Auszeichnung betrachten würde, diese ehrenvolle Aufgabe zu übernehmen. Der gute Mann schüttelte auch derart viele Metaphern über das Meer der Liebe und das Schifflein des ehelichen Bundes aus dem Ärmel, dass Van Helmont die Zigarre ausging und Kapitän Radcliffes Backenbart sich zu kräuseln begann.

Zum Eklat – jedenfalls für Gowers – kam es dann erst, als man im Anschluss an Bledsoes Ergüsse zum unvermeidlichen Punsch überging. Irgendjemand sprach über den zurückliegenden Spaß der Äquatortaufe, und wohl um von seiner unrühmlichen Rolle bei diesem Ereignis abzulenken oder aber besonders darauf hinzuweisen, fragte Lord Eden verschiedene der Anwesenden, ob sie vorher schon einmal jenseits der Linie gewesen seien, unter anderem Gowers.

Der sagte, ohne darüber nachzudenken: »Ja, zweimal. Einmal runter, einmal rauf!«

»Und auf welchem Schiff?«, fragte Eden provokativ.

»Investigator«, rutschte es Gowers heraus, und er hoffte schon, dass es im allgemeinen Gelächter niemand richtig gehört hatte, da fragte der Erste Offizier Bell verblüfft und laut: »Sie waren auf der Investigator, Mr. Thompson?!«

»Ja, Sir«, erwiderte Gowers so leise wie möglich. Aber nun hatten es alle gehört.

»Meinen Glückwunsch, Sir«, sagte Bledsoe und drückte ihm die Hand. »Und meine Hochachtung!«

Carver geriet ins Stottern. »Daniel, ich … ich wusste ja gar nicht, dass du …«

»Was ist mit der Investigator?«, fragte Emmeline naiv, und Gowers atmete beinahe hörbar auf, als sich der redselige Hauptmann wieder einschaltete: »Ja, was ist mit ihr? Ist wohl noch immer da oben, das tapfere alte Mädchen?!«10

»Ich denke ja«, sagte Gowers und überlegte krampfhaft, wie er ohne größeres Aufsehen das Thema wechseln könnte. Aber leider war nicht einmal Van Helmont geistesgegenwärtig genug, Emmeline von ihrer zweiten dummen Frage abzuhalten.

»Was ist so Besonderes an diesem Schiff?«

Die anderen Gespräche verstummten endgültig. Und es war der dicke Kaufmann Merriwell, der es ihr merkwürdig kalt lächelnd erklärte. »Mit der Investigator entdeckte Commander McClure die Nordwestpassage.«

Emmeline war sich nun immerhin über ihren fatalen Schnitzer im Klaren, aber anstatt den Mund zu halten, wollte sie die peinliche Situation anscheinend durch Naivität überspielen. »Oh, davon hast du mir ja nie was erzählt!«

Unglücklicherweise war sie keine sehr begabte Schauspielerin, und Gowers wäre am liebsten im Erdboden versunken, wenn einer da gewesen wäre. Der dritte Lord Eden fragte mit allem verfügbaren Hohn: »Ihr Bruder hat also die Nordwestpassage entdeckt und vergessen, diesen spaßigen kleinen Umstand Ihnen gegenüber zu erwähnen?!«

Endlich schaltete sich Van Helmont ein und machte wie immer einen halbwegs gelungenen Witz aus der Situation. »Das nenne ich echt britisches Understatement. Wenn bei uns ein Yankee auch nur entdeckt, dass er die Brille auf der Nase hat, schreibt er gleich eine Artikelserie darüber.«

Carver wollte noch eine verständnislose Bemerkung machen, aber auch ihm stopfte der wackere Arzt das Maul. Während er den jungen Füsilier am Arm fasste und mit dem Finger auf Gowers deutete, sagte er: »Wussten Sie, dass er auf Seiten der Yankees gekämpft hat? Im Range eines Captains, nicht wahr?«

Gowers konnte nur noch nicken, und Van Helmont ließ nun den Leutnant los, warf ihm einen Blick scheinbar unendlichen Mitleids zu und sagte kopfschüttelnd zu den umstehenden Offizieren: »Was für eine entsetzliche Vorstellung, Gentlemen: vor seinem Schwager salutieren zu müssen!«

Lautes Gelächter und eine dritte oder vierte Runde Punsch beendeten die unsägliche Szene, und das jäh aufgeflammte Misstrauen verschwand aus den Blicken. Wenn auch nicht aus allen.

84.

Das einzig Schlechte in diesem Frühling 1842 war, dass Beth angefangen hatte zu trinken. Sie wurde nicht widerlich wie die meisten Trinker, aber in einer Weise bitter, die anzusehen und zu hören vielleicht noch stärker wehtat.

»Gut, dass sie weg ist, wie«, sagte sie und sprach von ihrer Tochter. Sie sprach fast nur noch von ihrer Tochter. »Da habt ihr mehr Platz in euerm Bettchen!«

Jane schossen die Tränen in die Augen, vielleicht weil es so ungerecht war, vielleicht auch, weil es die Wahrheit war, und sagte, sie würde nackt auf dem Boden schlafen, wenn Mary-Ann dadurch wieder lebendig würde.

Beth sah sie lange an, verstand alles und sagte deshalb verächtlich: »Bloß gut, dass das nicht geht, was, Schätzchen?!«

Da wusste Jane, dass sie nicht mehr lange bleiben würde.

Sie war ohnehin die meiste Zeit in ihrer Schule, einem ehemaligen Vorratslager, Anbau der alten Mühle, klein, zugig, unbeheizt. Aber Jane war dabei, all diese Missstände zu beheben, mithilfe der vier Pfund, die Lady Ashley ihr gegeben hatte, »für Ihre Auslagen«. Sie hatte Stühle und Bänke gekauft, und im nächsten Winter würden sie einen Ofen haben.

Es kamen jetzt auch immer mehr Kinder, sogar ein paar Erwachsene, unter ihnen Tom Peters, obwohl der nichts lernen wollte. Sie würde bald einmal mit dem Jungen reden müssen, damit er sich keine falschen Hoffnungen machte oder gar welche verbreitete.

Jane begann in diesem Frühling, sich wie eine Lehrerin zu fühlen. Ben wurde sechs und war ihr bester Schüler. Dann kam Ashleys Mines Act.

Der Bericht über die Arbeitsbedingungen in den Gruben von Northumberland war das meistgelesene Dokument des 19. Jahrhunderts, vielleicht das erschütterndste, ganz sicher das einflussreichste. Ashley hatte mit einigen Künstlern und Journalisten zusammengearbeitet, und in Zeitungen, auf fliegenden Blättern, Plakatwänden sah man einen Sommer lang nichts anderes mehr als kriechende Frauen und Kinder im Geschirr oder nackte junge Männer, denen die Zeichner aus Gründen des Anstands unförmige Unterhosen angemalt hatten.

In Bischofssitzen, Handelskontoren und unter den Bettlern auf den Straßen wurde über nichts anderes geredet, Moritatensänger verbreiteten Schauerliches über die Schändung von Jungfrauen in der ewigen Nacht. Bürgerkomitees zur Rettung der Arbeiterkinder bildeten sich, ehrbare Hausfrauen, die in ihrem ganzen Leben niemandem widersprochen hatten, stritten sich mit Professoren aus Oxford. Halbgare Jünglinge erzählten sich schmutztriefende Geschichten aus den Minen, geistreichere Spötter schrieben vom »Venusberg«.

Es kam zu Unruhen in der Arbeiterschaft, überall flammten Streiks auf, es gab Tote in diesem Sommer. Friedrich Engels lernte Karl Marx kennen, Die Lage der arbeitenden Klasse in England nahm Gestalt an. Unterhausabgeordnete weinten, als Lord Ashley am 7. Juni 1842 die größte Rede seines Lebens hielt, und die Regierung Peel konnte nicht mehr über ein neues Gesetz diskutieren, konnte sich nur noch der gärenden Volksmeinung anschließen und es erlassen.

Die Mines Act war eigentlich nur noch ein Federstrich, etwas gleichsam Selbstverständliches, und jedermann fragte sich, warum man nicht viel früher an so etwas gedacht hatte. Inspektoren wurden eingesetzt, die über ihre Einhaltung wachen sollten. Tatsächlich war dieses Gesetz der erste ernsthafte Versuch, eine staatlich kontrollierte Sozialpolitik zu betreiben.

Die Herren Hollister, Burdette, Charlton bekamen sehr schmale Münder, ihre Frauen weinten sich in den Schlaf. Steine flogen durch ihre Fensterscheiben, und sie begannen, zwei und zwei zusammenzuzählen. Ihre Rechnung war nicht aufgegangen. Das Gesetz verpflichtete sie dazu, Wetter-und Rettungsschächte niederzubringen, Minimalhöhen in Strecken und Stollen einzuhalten, selbst der Ausbau vor Ort wurde reglementiert, und plötzlich sprach man von Mindestlöhnen …

Dann der soziale Fortschritt! Kinder unter zehn Jahren durften nicht mehr beschäftigt werden, und, was das Gewissen eines ganzen Volkes, Zeitalters am meisten beruhigte: Nicht allein die Arbeit unter Tage, sondern die, wie es hieß: physische Präsenz von Frauen in den Minen war mit sofortiger Wirkung verboten.

85.

Letztlich war es das Wetter, das ihm das Leben rettete. Es hätte nicht mal ein Sturm sein müssen, nur eine etwas rauere See, um weniges höhere Wellen, ein bisschen mehr Fahrt – und John Gowers wäre Geschichte gewesen.

Er zitterte noch nach zwei Tagen an allen Gliedern, wenn er daran dachte, wenn er wieder die riesige Hand fühlte, die sich schwer und schwarz um seinen Körper geschlossen hatte. Van Helmont hatte einen Schock diagnostiziert und ihn mit allen Arten von Alkohol abgefüllt, einen Tag und zwei Nächte lang. Ein entsprechender Katzenjammer stellte sich ein und wurde zum ersten Mal im Leben begrüßt wie ein lange verschollener Bruder.

»Wie herrlich, wenn einem so richtig schön schlecht ist, Doc!«