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»Ich wusste gar nicht, dass es das Schiff noch gibt«, sagte Lucia Elizabeth Abell, als sie mit zwei Tassen Tee wieder hereinkam. »Bis sie vor anderthalb Jahren plötzlich hier aufkreuzte.«
»Sie war schon mal hier?« »Aber sicher. Alles, was Northbrook gestern erzählt hat, haben wir damals schon gehört, Wort für Wort.« Sie lachte. »Wir sind hier nicht sehr wählerisch bei unseren kleinen Unterhaltungen. Vermutlich werden wir es in anderthalb Jahren noch mal hören, falls das alte Wrack dann noch schwimmt.«
Sie ließ erfreulich offen, ob sie das Schiff oder den Gouverneur meinte. Dann nahm sie die Brille ab, die sie zum Studium der verschiedenen Bücher aufgesetzt hatte und die ihre dunklen Augen so sehr vergrößerten, dass man kaum daran vorbeisehen konnte.
»Ich könnte Ihnen auch meine Zeichnungen überlassen. Ich war beim letzten Mal an Bord und habe alles ausgemessen, nach Montholon. Ich weiß, wo die Quartiere waren, wer wo gewohnt hat …«
Sie warf die letzten Sätze aus wie einen Köder, und Gowers wurde so unruhig wie ein hungriger Hai. Da legte sie ganz plötzlich ihre Hand auf sein Knie und sagte ein bisschen spöttisch, ein bisschen mitleidig: »Daniel, Sie suchen doch nicht danach. Oder?«
»Ich suche nicht wonach?«, fragte Gowers zurück, dem die Berührung angenehmer war, als ihm im Augenblick lieb sein konnte. Da nahm sie ihre Hand auch schon wieder weg und lehnte sich bequem in ihrem Schaukelstuhl zurück.
»Immer wieder tauchen auf dieser Insel Leute auf, die nicht glauben können, dass der Mann ohne einen Pfennig gestorben ist. Sie suchen Napoleons Schatz!« Lucia Elizabeth Abell sah in diesem Moment aus, als ob ihre Lachfältchen von ihrer Belustigung über diese Leute herrührten. »Einige suchen auf Korsika, andere auf Elba, manche sogar bei Waterloo! Die Verrücktesten kommen hierher. Im Moment sind es die Franzosen. Seit sie Longwood vor vier Jahren gekauft haben, wühlen sie heimlich da oben herum. Sie sagen, es soll ein Museum werden.«
Sie wippte in ihrem Stuhl leicht hin und her und lächelte dabei so schelmisch, dass er am liebsten seine Hand auf ihr Knie gelegt hätte.
»Woher wissen Sie das alles? Dass er kein Geld hatte?«
Sie stand auf und zog ein Buch aus dem untersten Regal, Abells Recollection of the emperor Napoleon. Gowers wollte eine anerkennende Bemerkung machen, konnte aber dann nicht mehr als ziellos in ihrem Werk herumblättern, denn die schöne Autorin hatte sich neben ihm auf dem Boden niedergelassen und lehnte sich an seinen Sessel. Eine Haarsträhne hatte sich gelöst und ringelte sich in ihrem Nacken. Sie war von einem seidigen Schwarz.
»Ich kannte Betsy Balcombe. Und Betsy kannte Bonaparte, sie war fast täglich bei ihm in Longwood, drei Jahre lang.«
Als das Blättern und das Schweigen ihm zu dumm wurden, schob er seine Hand über die Sessellehne und begann, mit der Haarsträhne in ihrem Nacken zu spielen, ohne dass sie ihn durch irgendeine Regung, Bewegung daran gehindert hätte. So weit gekommen, wollte er sie küssen, aber sie nahm ihm zuerst die Teetasse ab und stellte sie auf ein niedriges Tischchen, in sicherer Entfernung. Ihre Bewegungen dabei, mit den Knien am Boden, waren mühelos, geschmeidig, ohne Alter.
Und bevor sie ihn zu sich herabzog, sagte sie noch: »Ich bin eigentlich keine Witwe. Ich war nie verheiratet. Aber vieles ist leichter, wenn die Leute das denken.« Vieles ist leichter, wenn eine Frau so denkt, dachte Gowers und küsste die kleinen Druckstellen, die die Brille auf ihrer Nase hinterlassen hatte.
Nachdem sie sich satt geküsst hatten, nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn ins Schlafzimmer.
»Wie kommst du hierher?«, fragte er, nur um noch irgendetwas zu sagen, bevor sie sich ausziehen würden.
Sie lachte. »Ich sage doch: Die Verrücktesten kommen hierher!«
In diesem Moment ging die Türglocke, und sofort, fast mechanisch ordnete sie ihr Haar, ihre Kleider.
»Lass doch!«, sagte er ärgerlicher, als er wollte, aber sie schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid, aber hier muss man jede Abwechslung wahrnehmen!«
Er hörte nur einen kurzen Wortwechsel, dann schwere, schnelle Schritte, die ins Wohnzimmer stapften. Lucia steckte, zum ersten Mal stirnrunzelnd, ihren Kopf durch die Tür: »Für dich!«
Zumindest habe ich die Stiefel nicht ausgezogen, dachte er fluchend, ging zurück ins Wohnzimmer, wo sein Tee noch nicht kalt geworden war, und stand vor einem einmal mehr hochroten Leutnant der 16. Füsiliere.
»Oh. Hallo, Charles. Sie stören überhaupt nicht!«
Die Augen des Mannes funkelten wütend. »Mein Name ist Carver. Mein Rang ist Leutnant. Und das ist für Sie, wie immer Sie heißen!«
Er schlug Gowers mit einem Paar weißer Handschuhe ins Gesicht, die er offenbar extra zu diesem Zweck aus seinem Gepäck hervorgesucht hatte, denn sie rochen nach Mottenpulver und waren steif, ungetragen, was den eigentlichen Schlag mehr als harmlos machte. So schnell und erregt, wie er gekommen war, stürmte Carver dann auch schon wieder hinaus und ließ nur sein »Ich erwarte Ihre Sekundanten!« im Zimmer zurück wie einen schlechten Geruch.
»Du bist ja noch romantischer, als ich dachte«, sagte Lucia Elizabeth Abell. »Wie immer du heißt!«
93.
Hauptmann Bledsoe hatte seine Kabine geräumt und sich einen Stuhl in den Kabinengang gestellt, um seinem jungen Kameraden Carver die Möglichkeit zu geben, die Angelegenheiten zu ordnen, die ein englischer Gentleman in einer derartigen Situation zu ordnen hatte. Er verschaffte ihm sozusagen die Ruhe, die ein Mann braucht, um dem Tod ins Auge zu sehen, und die Carver in einer Kabine mit seiner schluchzenden jungen Ehehälfte begreiflicherweise nicht fand.
Der taktvolle Hauptmann kämpfte gerade mit einer Pfeife, die partout nicht in Brand geraten wollte, als der Arzt auftauchte.
»Hallo, Doc. Sie sind es also.«
»Wer soll es sonst sein?«
»Verfluchte Sache, wie?« Bledsoe ließ die Pfeife sinken, in der die Glut noch immer nicht gefasst hatte. »Und er weigert sich zu sagen, weshalb!«
»Kann ich ihn kurz sprechen?«
»Oh, ich fürchte, das ist gegen die Regeln, alter Freund. Wozu sind wir Sekundanten?«
»Wozu sind wir Freunde, wenn wir uns nicht hin und wieder eine blöde Idee ausreden können?« Obwohl es die Familie Thompson eigentlich gar nicht gab, spielte Van Helmont die Rolle eines engen Freundes derselben mit einer Selbstverständlichkeit, die ihn beinahe selbst überzeugte. Hatte man nicht schon fast alles erlebt, was die Gemeinsamkeit einer Familie gemeinhin auszumachen pflegt, Beerdigungen, Hochzeiten und nun gar ein Duell unter Schwägern?
Bledsoe gab, offensichtlich von ähnlich sentimentalen Überlegungen getrieben, den Weg frei, sagte aber kopfschüttelnd: »Wie wollen Sie ihm denn etwas ausreden, was Sie gar nicht wissen?«
»Ich bin Amerikaner«, entgegnete Van Helmont schlicht. »Wir können so was.«
Charles Carver formulierte gerade den schwersten Brief seines Lebens, einen Abschiedsbrief an seine Mutter, zuzustellen »im Falle meines Todes«. Als er diese Worte schrieb, hoffte er allerdings sehr, dass er das Duell überleben würde – vor allem weil ihm der vermaledeite Brief nicht wirklich gelingen wollte. Schlicht sollte er sein und männlich, unsentimental. Und doch tiefe Gefühle von Dankbarkeit, Wärme und Liebe erkennen lassen.
Unter so vertrackten Vorgaben schwitzte der Leutnant allmählich seine Uniform durch. Was ihm besonders zu schaffen machte, war die Tatsache, dass er natürlich noch keine Gelegenheit gefunden hatte, seiner Mutter mitzuteilen, dass er verheiratet war. Umso schwerer war es, in möglichst markanten Sätzen klarzustellen, dass sein Schwager nicht sein Schwager war und »wenn Du diese Zeilen liest« höchstwahrscheinlich sogar der Mann sein würde, der ihn »vom Leben zum Tode«, »schmerz-aber nicht ehrlos«, »ohne Flecken an Schild und Wappen der Carvers«, eben wie »der Gentleman, zu dem Du mich stets erzogen hast« und so weiter.
Fetzen solcher Formulierungen spukten dem Todgeweihten im Kopf herum und füllten diverse zusammengeknüllte Papierbällchen, die um ihn her verstreut lagen wie die Patronenhülsen eines Kampfes auf verlorenem Posten. Es war ihm mächtig peinlich, dass ausgerechnet Van Helmont diese Späne seiner fruchtlosen Bemühungen zweifelsohne bemerkte, als er eintrat, und Carver sagte möglichst schroff: »Was wollen Sie denn hier? Es ist alles gesagt! Bis auf Ort, Uhrzeit und Waffe …« Dieser Satz kam ganz spontan und verblüffte ihn selbst. Sofort nahm er sich vor, ihn in seinem Brief unterzubringen, wenn sich das auch nur irgendwie machen ließ.
»Von wem ist das denn?«, entgegnete Van Helmont spöttischer, als er wollte. »Sir Walter Scott?«
Carver lief in Bruchteilen von Sekunden rot an, seine Ohren spielten ohnehin bereits wieder ins Purpurne. »Werden Sie nicht frech! Ich habe noch nicht über Ihre Rolle in dem Schmierentheater nachgedacht.«
»Haben Sie überhaupt richtig nachgedacht? Unser Mörder wird sich fragen, warum Sie ausgerechnet Ihren Schwager …«
»Sie wissen genau, dass er nicht mein Schwager ist!«
»Ein Grund weniger, ihn umzubringen. Er tut doch nur seine Arbeit. Und er ist nahe dran, unseren … den Mörder Ihres Schwiegervaters zu überführen. Wollen Sie das vermasseln?«
»Emmy sagt da was anderes. Und er hat mich zum Narren gehalten. Er hätte mich aufklären müssen, unter vier Augen.«
Van Helmont seufzte. Was diese Engländer immer für einen Wirbel um solche Sachen machten! »Kommen Sie, Sie haben doch Shakespeare gelesen. Man kann nicht immer so, wie man will. Was, wenn Sie der Mörder gewesen wären? Ein Mitgiftjäger?!«
Carver, der bisher über seinem Brief gesessen hatte, hielt es für unumgänglich, bei diesen Worten aufzuspringen. »Hat dieser Bastard eine Waffe gewählt? Sonst nehmen wir meine Gewehre!«
Obwohl er wusste, dass sein Spott die Sache nur schlimmer machen würde, konnte der Arzt seine Zunge nicht mehr im Zaum halten. »Gewehre? Warum nicht gleich Kanonen? Kapitän Radcliffe ist ein Ehrenmann, der leiht Ihnen sicher welche. Pro Mann ein Schuss, auf eine Dreiviertelmeile …«
Der Leutnant sprang mit bemerkenswerter Gewandtheit hinter dem kleinen Tischchen hervor und riss, bis in die Tiefen seiner Seele erbost, Tür und Mund auf: »Raus!!«