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Die Franzosen hatten immer schon hübschere Uniformen als wir!, dachte etwa der Hauptmann Bledsoe mit einem Anflug von jähem Neid. Aber es kommt auf die Kerle an, die in den Uniformen stecken, beruhigte er seine patriotischen und persönlichen Gefühle sofort wieder, als der Colonel die kleine Freitreppe des Hauses herabschritt. Da schleift ja der kürzeste Säbel nach!
Gowers fühlte beim Anblick des Hauses in der Morgensonne zum ersten Mal, seit er auf St. Helena war, so etwas wie den Hauch der Geschichte und dachte an ein Zitat über die Sonne von Austerlitz, das ihm partout nicht im Wortlaut einfallen wollte.
Van Helmont schien ähnlich zu empfinden, denn mit Blick auf die idyllische kleine Plantage und den darüber heraufziehenden strahlenden Tag sagte er: »Ich weiß nicht, warum sich der Mann so angestellt hat. Eigentlich ist das doch ein ganz erträgliches Exil!«
Lucia, die auch das Zitat natürlich auf Anhieb gewusst hätte, lachte leise. »Ja, vielleicht. Es sei denn, dass man vorher in den Tuilerien gewohnt hat, Kaiser von Frankreich und Herr über halb Europa war, dann nicht.«
Der bleichgesichtige Leutnant der 16. Füsiliere kam selbst in Gedanken nicht über ein pulsartiges: Emmy-Emmy-Emmy hinaus, und das Objekt seiner stummen Anbetung dachte überhaupt nicht, hing nur am Hals des jungen Helden und ließ ihren heißen Tränen freien Lauf.
100.
»Meine ’erren Kombattanten und Sekundanten, treten Sie ’eran, bitte sehr!«, sagte der französische Unparteiische, als Gowers und Carver Mantel und Rock abgelegt hatten. »Isch erlaube mir, Sie im Nam’ Seiner Kaiserlichen Majesté Napoleon III. zu diesem Ehren’andel zu begrüßen. Die Regeln sind die folgt: Sie werden mit die Rücken an die Rücken stehen, mit geladene Pistol’, man versteht? Sie werden gehn auf mein Kommando, ein Mann, zehn Schritt, die isch mir erlaube zu zählen, man versteht? ’ierauf drehen Sie sich um und feuern einander ebenfalls auf mein Kommando, bitte sehr! Ihr ’erren Sekundanten, isch erlaube mir zu sehen die Pistol’.«
Van Helmont holte das hölzerne Kästchen mit den Einlegearbeiten aus der Kutsche, wo Lucia es bereithielt. Währenddessen fuhr der Franzose mit der Mörserfigur – Kaliber 100, dachte Hauptmann Bledsoe – den Regeln gemäß fort: »Sie ’aben noch etwas zu sagen einander, meine ’erren?!«
»Ich entschuldige mich in aller Form bei Leutnant Carver für die Beleidigung und wünsche nicht, dass ihm mein Tod zur Last gelegt werde«, sagte Gowers, den abgestandenen Duellgesetzen seines Jahrhunderts folgend.
Carver holte tief Luft und entgegnete ebenso formvollendet: »Ich akzeptiere die Entschuldigung meines Gegners und wünsche nicht, dass ihm mein Tod zur Last gelegt werde.«
Bledsoe strahlte übers ganze Gesicht und drückte seinem Mann die Hand.
»Oh, qu’est-ce …?«, rief in diesem Augenblick unheilverkündend der Colonel: »Wo’er Sie ’aben französische Pistol’, wenn isch darf fragen?«
»Sie stammen aus meinem Besitz«, sagte Lucia Elizabeth Abell und kam näher. »Sie sind völlig in Ordnung. Schon Emanuel Las Cases und General Gourgaud wollten sich damit duellieren, aber der Kaiser hat es ihnen verboten. Ich hoffe, das macht nichts aus.«
»Mon Dieu!«, rief der Franzose mit gut gespielter Empörung. »Dies sind ’istorische Pistol’! Nicht zu denken aus, wenn da etwas voler en éclat, une destruction.« Mit sehr entschiedener Miene klappte er das Kästchen wieder zu und verkündete: »Messieursdames, isch untersage ’iermit den Gebrauch von diese Pistol’ und requiriere sie im Nam’ Seiner Kaiserlichen Majesté Napoleon III., man versteht!« Mit einer sehenswerten Kehrtwendung drehte er sich zum Haus um, während er leise vor sich hin murmelte: »Ventresaintgris! Les Anglaises!! C’est à devénier fou!«
»Was sagt der Mann?«, fragte Hauptmann Bledsoe, dem bei all dem unverständlichen Palaver nichts Gutes schwante. Als die anderen nur die Achseln zuckten, lief er dem Colonel hinterher. »Hee, Sie! Monsieur! Mon Capitaine, warten Sie!«
Die Grande Nation und Merry old England diskutierten eine Weile auf dem Gartenweg, wobei eigenartigerweise der kühle Engländer aufgeregt gestikulierte und sein immer heißerer Atem einen Nebel vor seinem Gesicht erzeugte. Verwirrt und geschlagen kehrte Hauptmann Bledsoe dann zu der jetzt doch recht zwanglosen kleinen Gruppe zurück. »Nicht zu reden mit dem Kerl!«, sagte er wütend. »Schon gar nicht in einer vernünftigen Sprache.«
»Sie meinen, es geht nicht?«, fragte Emmeline freudestrahlend.
»Nein«, sagte der tapfere Hauptmann. »Jedenfalls nicht mit diesen ’istorische Pistol’! Wo haben Sie die bloß aufgetrieben, Mann?!«, fuhr er Van Helmont an.
»Ich muss doch sehr bitten«, wehrte sich der Arzt. »Da besorgt man extra echte Duellpistolen, damit die Herren sich in aller Form umbringen können, und was ist der Dank?«
»Meine Pistolen!«, mischte sich eine scheinbar aufs Äußerste erregte Witwe Abell in den Disput der Sekundanten. »Damit kommt er nicht durch! Ich gehe zum Gouverneur, ich schreibe ans Unterhaus! Warten Sie, in zwei, drei Jahren darf sich mit meinen Pistolen erschießen, wer immer Lust dazu hat!«
Carver räusperte sich.
»Dann also ein anderes Mal!«
»Nein!«, hielt ihn sein Sekundant flüsternd zurück. »Er hat sich entschuldigt, Sie haben die Entschuldigung angenommen. Das heißt: jetzt oder nie!«
»Aber wenn es doch jetzt nicht geht.« Emmeline schien glücklich auf ganzer Linie.
Auch ihr Held hatte seine kräftige Farbe in den letzten Minuten deutlich zurückgewonnen. Und während er noch einmal vor den Duellgesetzen strammstand, räusperte er sich erneut und sagte dann volltönend: »Meine Herren, ich erkläre Satisfaktion!«
Alle Beteiligten schüttelten sich die Hand, nur Bledsoe zögerte ein wenig. Wie schön wäre doch dieser Kampf gewesen, in der aufgehenden Sonne, vor dieser Kulisse! Als die Kutsche der Kontrahenten schon abgefahren war und Carver sein nunmehr vor ausgestandener Angst weinendes junges Weib an seiner gleichfalls nicht wenig aufgewühlten Brust beruhigte, wandte sich der Hauptmann deshalb noch einmal wütend zum letzten Heim des großen Bonaparte zurück und schrie: »Froschfresser!«
In der Kutsche küsste Gowers seine lächelnde Retterin, ohne darauf zu achten, dass Van Helmont amüsiert zusah.
»Für die Pistolen werde ich natürlich bezahlen!«
»Nicht nötig«, sagte Lucia. »Er wollte sie schon seit Jahren für sein Museum kaufen und war froh, sie endlich zu einem vernünftigen Preis zu kriegen.«
»Aha«, sagte Gowers ernüchtert. »Ich nehme an, du hast gefeilscht?!«
»Natürlich«, erwiderte die Witwe Abell. »Ich bin Engländerin.«
101.
Das Mädchen in dem himmelblauen Kleid sah ihn zuerst überhaupt nicht oder tat jedenfalls so. Sie war ideal. Elf oder zwölf und einen Kopf größer als er, verfügte sie doch schon über alle Einbildung des gehobenen Standes.
Er sah es an der Art, wie sie in die Welt, auf die Straßen schaute. Diesen Blick hatte sie vermutlich von ihren Eltern abgeguckt, an deren Hand und in deren sicherem Dunstkreis sie bisher der großen Stadt entgegengetreten war. Allein war sie dagegen noch nicht oft ausgegangen. Auch das sah er an ihren Augen.
»Willst du meine Kätzchen sehen?«
»Ich kenne dich ja gar nicht.«
»Ich heiße Bob Jenkins. Ich wohne gleich dahinten.«
Seine Mutter hatte ihm beigebracht, dass man sich nennen kann, wie man will, jedenfalls wenn es seinen Zweck erfüllt. Das Mädchen wurde unsicher. Der Junge war kleiner als sie, höchstens zehn. Er war sauber gekleidet, keiner der kleinen Straßendiebe, vor denen ihr Vater sie immer gewarnt und die er ihr sogar mehrmals gezeigt hatte.
»Mama hat gesagt, ich soll nur Nähgarn kaufen und dann gleich zurückkommen.« Sie sagte nicht, dass sie darum gebettelt hatte, allein ausgehen zu dürfen, weil sie sich dabei schon so herrlich erwachsen vorkam.
»Es ist ja nicht weit. Gleich da drüben. Es sind fünf, weißt du, ganz klein und ganz weich. Und alle haben noch die Augen zu.«
Das Mädchen schwankte, stellte sich fünf kleine Kätzchen vor, eng zusammengerollt unter dem warmen Bauch ihrer Mutter. Das konnte ja nicht allzu gefährlich sein. Außerdem war sie bestimmt stärker als Bob Jenkins.
»Aber nur ganz kurz.«
»Na klar. Aber angucken musst du sie. Vielleicht schenke ich dir eins.«
»Wirklich?«
»Sicher. Du musst dir nur eins aussuchen.«
Ein eigenes Kätzchen zu haben wäre bestimmt schön. Aber was würde ihre Mutter dazu sagen, wenn sie mit dem Tier heimkam? Sie hatten die belebte Straße überquert und waren erst wenige Schritte in die enge Gasse hineingegangen, als das Mädchen es doch mit der Angst bekam und stehen blieb.
»Ich gehe doch lieber nicht mit.«
Aber da war die unbekannte Frau schon hinter ihr, über ihr, packte ihre Hand fest wie ein Schraubstock und zog sie mit sich, die Stufen eines Kellereingangs hinunter. Das Mädchen wehrte sich, schrie um Hilfe, und an der Mündung zur Gasse blieb ein Mann stehen und blickte aufmerksam zu der kleinen Gruppe hinüber.
»Komm schon, verdammtes Balg«, schimpfte, keifte die Frau, den Passanten aus den Augenwinkeln im Blick. »Heute wird gebadet, da hilft dir niemand. Nichts als Ärger und Arbeit hat man mit den Gören!«