177531.fb2 Tod auf der Northumberland - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 38

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»Gottverdammt!« Das Schicksal wollte, dass es Midshipman Gore war. »Einer hat ihn gekillt, Sir! Gottverdammt! Einer hat den Jungen gekillt, unsern George!«

104.

Gowers hatte gerade den Fundort untersucht und überlegte noch, wie er nahe genug an die Leiche herankommen könnte, als Braddock schon an die Tür klopfte.

»Äh … Guten Tag, Mr. Thompson. Könnte ich wohl Doktor Van Helmont sprechen?«

Natürlich durfte der Investigator als »Van Helmonts Assistent« an der Obduktion teilnehmen, die im Quartier des Schiffsarztes auf einem niedrigen Behandlungstisch stattfand. Ein paar Matrosen hatten George in Braddocks Obhut gegeben, nicht weil sie glaubten, dass noch medizinische Hilfe nötig oder möglich sei, sondern weil schließlich irgendwas mit dem Jungen geschehen musste.

Die Leichenstarre war schon so weit fortgeschritten, dass der Körper sich vorläufig nicht mehr aus seiner zusammengekauerten Haltung bringen ließ. Es war deshalb ein sehr unwürdiger Anblick, als der Schiffsarzt das weiße Tuch wegnahm und George Barclay halb nackt und mit angezogenen Beinen auf dem Tisch lag wie ein überdimensionaler Säugling.

»Schneiden wir erst mal die Sachen runter«, sagte Van Helmont so sachlich wie nur je ein Mann, der schon Tausende kalter, toter Körper gesehen hatte.

»Moment!« Gowers untersuchte zuerst den Gürtel, die Hose, die Haut an den Hüften, den unteren Rand des Hemds. »Nichts zerrissen, keine Kratzer«, murmelte er und stellte mit einem raschen Blick zu Van Helmont fest: »Er muss sich selbst ausgezogen haben.«

Während Braddock noch über den Sinn dieser Worte nachgrübelte, seufzte Van Helmont wie jemand, dem die unangenehmste Aufgabe des Tages bevorsteht, trat dann dicht an die Leiche heran und nahm eine Stelle in Augenschein, die der Schiffsarzt gar nicht oder doch erst sehr viel später näher untersucht hätte.

»Keine Penetration!«, sagte Van Helmont nach einer Weile knapp, und Braddock merkte sich mit ernstem Nicken Worte und Handlung für die kommenden Obduktionen seiner medizinischen Praxis – wo beides für viele ungläubige und entrüstete Blicke sorgte, vor allem wenn es sich bei den Leichen um die würdigen Überreste eines Richters, Kaufmanns oder Bürgermeisters handelte.

Sie entfernten die Kleider mit einer Schere und den entsprechenden Umständen. George Barclays Gesicht tauchte auf, seine Augen waren weit geöffnet und aus den Höhlen getreten. Van Helmont zog an dem heraushängenden Ende des schmutzigen Lappens in seinem Mund, aber die toten Kiefer hielten ihn fest, und die ganze Leiche bewegte sich wippend, sooft der Arzt anzog.

»Da hat er sich ganz schön drin verbissen!«

»Ist das wichtig?«, fragte Braddock, während Van Helmont einen großen Metallspatel aus der Instrumentenkiste nahm, um dem Toten den Mund aufzubrechen. Gowers erklärte es ihm.

»Das bedeutet, dass er sehr wahrscheinlich erst verprügelt und dann getötet wurde. Er hat sich den Schmerz verbissen.«

Mit einem widerlichen Knirschen öffneten sich die Kiefer, der Arzt entfernte das Tuch und verhinderte mit seinem Spatel geschickt, dass sich der Mund wieder schloss.

»Blut in der Mundhöhle«, sagte er brummend und schob mit zwei Fingern die Zunge hin und her. »Die Zunge ist an den Rändern zerbissen und sehr weit herausgetreten. Das kann eigentlich nur bedeuten …« – ein kurzer Blick in den Rachen und ein längerer auf Hals und Nacken des Toten bestätigten den Verdacht – »… der arme Junge ist erwürgt worden.«

Van Helmont trat nach Feststellung dieses ersten und wesentlichsten Ergebnisses zurück und überließ es Gowers, die Hände und Fingernägel des Opfers zu untersuchen. Ein helles Knacken verriet ihm, dass auch das nicht ohne Gewaltanwendung möglich war; die Finger waren ineinander verklammert wie bei einem Betenden und die Hände an den Gelenken so stramm gefesselt, dass sich an beiden Seiten bläuliche Hautwülste gebildet hatten. Gowers nahm sich mithilfe einer Lupe jeden Finger einzeln vor.

»Nichts«, sagte er. »Keine Haut, kein Blut, nur Schiffsdreck. Er scheint sich nicht sehr gewehrt zu haben.«

»Drehen wir ihn um«, sagte Van Helmont, und eine halbe Minute später hockte der Schiffsjunge auf dem niedrigen Tisch wie ein toter Frosch. Mit einer Handbewegung ließ Van Helmont diesmal dem jungen Braddock den Vortritt, weil der sich offenbar allmählich überflüssig vorkam.

»Schläge auf Rücken und Gesäß«, konstatierte der Schiffsarzt mit der fachmännischen Kürze, die er an den anderen so bewundert hatte, aber das hätte auch ein Blinder sehen beziehungsweise an dem kalten Körper ertasten können. Die Striemen waren blauschwarz geschwollen von dem unter der Haut zusammengeströmten Blut.

»Hautverletzungen?«, fragte Van Helmont.

»Nur wenig«, erwiderte Braddock. »Und das sind eher Kratzer, jedenfalls ist nichts richtig aufgeplatzt.«

»Also eine Gerte oder eine leichte Peitsche«, murmelte Gowers. »Wie breit sind die Striemen?«

»Eher schmal«, sagte Braddock. »Ich würde auf eine Peitsche tippen.«

»Gute Arbeit!« Van Helmont drückte seinem jungen Kollegen die Hand und deckte den Leichnam wieder ab. Gowers war der Letzte, der ihm in die Augen sah. George Barclay hatte alles gesagt, was er noch sagen konnte.

105.

Seine Lordschaft bemerkte eine deutliche Abkühlung im gesellschaftlichen Umgang an Bord. Kaum jemand sprach noch mit ihm, viele drehten ihm einfach den Rücken zu und schnitten ihn ganz offen. Er lachte nur darüber.

In Cambridge war es ähnlich gewesen, zum Schluss, aber es hatte stärker geschmerzt. Dort war seinesgleichen ihm aus dem Weg gegangen, hatten ihn Peers, die schönsten Früchte der hohen und mittleren Aristokratie, geschnitten. Hier waren es Commons, niederes Volk, ein paar Kaufleute, Offiziere, deren kaltes Schweigen der junge Lord eher als die allgemeine Sprachlosigkeit dieser Klasse ansah. Nach der Meinung der Seeleute schließlich fragte er genauso wenig, wie er nach der Meinung der Fische gefragt hätte, die zum Dinner auf seinem Teller landeten und ihn aus toten Augen anstarrten. Bis zu diesem Abend.

Eden war in der Messe gewesen, hatte dort wieder keine Ansprache gefunden, durch sein spöttischstes Lächeln zu verstehen gegeben, wie wenig ihm das ausmachte, und gemütlich für sich eine Flasche Port geleert. Es war kaum später als neun Uhr abends und der Himmel noch relativ hell, als er die Messe verließ und nicht bemerkte, dass der Steward die Tür hinter ihm abschloss.

Die See war rauer geworden, aber da sich sein Magen schon lange an die Schaukelei gewöhnt hatte, sah er das Gewimmel der hochgehenden Wellen nicht ungern, spürte auch angenehm berührt, wie der auffrischende Wind an seinen Locken zerrte, und genoss die Brise in seinem Gesicht.

Dann bemerkte er, dass am Niedergang zu den Kabinen der ersten Klasse im Heck erstaunlich viele Matrosen anscheinend müßig herumlungerten, aber er war so sehr ein Kind seines Standes, dass er keck sein Stöckchen schwang und mitten in die bedrohlich schweigende Gruppe hineinschlenderte. Erst als ihm jemand unmittelbar den Weg versperrte, tauchte in seinem Kopf der vage Gedanke auf, dass diese merkwürdige Zusammenkunft ihm gelten könnte. Aber auch jetzt fühlte er sich nicht sonderlich bedroht.

»Würden Sie bitte zur Seite treten, mein Guter?!«, fragte, sagte, befahl Eden. Aber der Mann hielt ihm stattdessen ein eng zusammengerolltes ledernes Bündel unter die Nase, aus dem ein Schlangenkopf herausragte und in dem Eden seine Peitsche erkannte. Er lächelte, offensichtlich noch immer ahnungslos.

»Ich danke Ihnen, mein Freund. Die habe ich schon überall gesucht. Hier!« Er zog eine Fünf-Shilling-Silberkrone aus seiner Westentasche, wo sich für solche Zwecke stets eine kleine Münze befand. »Betrinken Sie sich in Kapstadt auf meine Rechnung. Oder leisten Sie sich ein Mädchen. Ich habe mir sagen lassen, dass die Kaffernweiber aparte Künste beherrschen!«

Eine Hand legte sich schwer auf seine Schulter, aber er schüttelte sie nur ab. Erst als sie von allen Seiten auf ihn eindrangen, nach ihm griffen, erkannte er, dass er das war, worauf sie gewartet hatten, und die sichersten Instinkte seiner Klasse erwachten in ihm. Er schlug dem Erstbesten seinen Spazierstock über die Schulter, dass er zerbrach.

Da trafen ihn selbst die ersten Schläge, leichte Schläge, die kaum schmerzten, aber ihn doch aus seiner Selbstgewissheit rissen. Wenn die Erde selbst aufbegehrte, die groben Schollen sich erhöben gegen den Bauern, der mit dem Pflug über sie geht – der Mann könnte nicht überraschter sein als der dritte Lord Eden in diesem Augenblick. Und binnen Sekunden wurde er zu einem Wesen, das wusste, dass nur die Schnelligkeit seiner Beine und die Kraft seiner Muskeln es retten konnten.

Eden war viel stärker, als man ihm ansah, stark und gewandt. Er schlug nach rechts und links, trat und hatte dabei den Vorteil, dass seine vielen Gegner ihn offenbar nicht totschlagen, sondern lebendig ergreifen wollten. Nie war er sich seines geschmeidigen jungen Körpers so bewusst gewesen, auch vor seinem hässlichen kleinen Spiegel nicht, wie in diesen wenigen Minuten, in denen er um sein Leben lief, floh, Haken schlug, vom Heck bis zum Bug rannte, ohne einen Ausweg zu finden.

Was ihn entsetzte, war die völlige Lautlosigkeit dieser Jagd. Niemand erschien auf seine verzweifelten Hilferufe, obwohl das ganze Schiff zweifellos wach war. Es war absurd. Hörnerklang, Hufe, Hundegebell – selbst ein Fuchs oder Hase hatte einigermaßen klare Vorstellungen davon, was ihn erwartete, oder fand ein Loch, in das er kriechen konnte. An Bord des Schiffes gab es keine Zuflucht, wohin er auch kam und so schnell er auch lief. Und vorn erwartete ihn der Mann mit dem Tauende, einem Seil, das direkt aus dem Meer zu steigen schien, das von außen über die Steuerbordreling kroch.

Er stutzte vor Unverständnis. Da hatten sie ihn, war er in ihren Händen. Sie packten ihn rau, taten ihm aber nicht wirklich weh. Sie rissen ihm die Kleider vom Leib, warfen ihn nackt zu Boden. Er fühlte sich in einer perversen Weise wohl, es erinnerte ihn an die Äquatortaufe. Auch da war er nackt zwischen all diesen Männern herumgesprungen, und sie hatten gelacht.

Er spürte das Tau an den Füßen, den Fußknöcheln, der Knoten war grausam stramm. Er wand sich am Boden, genoss die Berührung der harten Planken an seiner Haut. Dabei sah er die Männer an Backbord, die auch ein Tau in den Händen hielten, das im Meer verschwand. Ein Seemann wäre bei diesem Anblick gestorben vor Angst. Eden verstand es nicht.

Zwei Männer ergriffen ihn an Armen und Beinen, schwangen ihn zwischen sich hin und her, und zum ersten Mal sagten sie etwas: Sie zählten auf drei. Seine Lordschaft kam sich vor wie der alberne Mittelpunkt eines Kinderspiels. Bei drei flog er weit hinaus, über die Steuerbordseite, und fiel sechs Meter tief, bis ihn die Wellen verschluckten.

Eden kam fast sofort wieder hoch, spuckte aus, ruderte heftig mit Armen und Beinen, um über Wasser zu bleiben, und versuchte, an den Knoten an seinen Füßen heranzukommen. Wollten sie ihn ersäufen?

Das Schiff zog langsam an ihm vorbei, an der Reling erschienen Gesichter, die ihm und seinem verzweifelten Kampf zugewandt waren. Dann kam das Kommando: »Hiev!«, und auf dem Rücken, mit den Beinen voran, wurde er langsam in Richtung Schiff gezogen, während die flatternden Arme seinen Kopf über den Wellen hielten.

Der Himmel war immer noch hell. Er sah wildes Gewölk, bekam Gischt in die Augen. Seine Seite brannte vom Aufschlagen auf das Wasser. Aber was taten diese Idioten? Er war noch nicht weit genug achtern, er würde nicht um das Schiff herumkommen.

Riesig, dunkel und hart wuchs die Bordwand vor ihm aus dem Meer.

106.

Das Kielholen war eine Strafmaßnahme, die in der britischen Marine seit über fünfzig Jahren verboten war. In den Napoleonischen Kriegen hatte man sie noch hin und wieder praktiziert, aber auch dann nur in schweren Fällen von Desertion, Verrat oder dem Angriff auf Vorgesetzte. Die Männer, die dieser Strafe ausgesetzt wurden, starben zwar nicht unbedingt daran, wünschten sich aber nichts sehnlicher als den Tod, wenn es erst einmal angefangen hatte.

Es waren nicht nur alle Qualen des Ertrinkens, nicht nur der scharfe Schmerz, wenn die am Schiffsrumpf festgewachsenen Muscheln und Bohrwürmer, eisernen Kanten, Vorsprünge die Haut von den Knochen schabten, tief durch lebendiges Fleisch schnitten. Es war auch das Entsetzen, den ungeheuren kalten Leib über sich zu fühlen, langsam zermalmt zu werden wie ein Wurm im Schlamm. Es war die vollkommene Agonie, ein grausamer Todeskampf ohne die Erlösung des Todes.

Was schließlich nicht nur die stärksten Körper, sondern auch die Seelen zerbrach, war die völlige Ohnmacht, dem Tau und den Männern, die daran zogen, ausgeliefert zu sein, das Gefühl, menschlicher Gemeinschaft nicht mehr anzugehören, nur noch ein Köder zu sein für die grauen Räuber des Meeres.

Als sie ihn, die Füße voran, Backbord hochhievten, glich der dritte Lord Eden einer abgezogenen Rinderhälfte. Blut und Wasser tropften aus den blonden Haaren. Bei dem Versuch, ihn mit einem Ruck über das Schanzkleid zu ziehen, brach sein rechtes Schienbein, und sie sahen an seinem wilden Zucken, dass noch Leben in ihm war. Sobald das Opfer vor ihr lag, zerstreute sich die Menge, und jeder kämpfte für sich mit seinem Gewissen und dem Gefühl, eine gute Tat begangen zu haben.

Jetzt erst wagten sich Gowers und Van Helmont heran. Der Arzt untersuchte den halb toten Menschen, die nicht sonderlich tiefen, aber grausamen Wunden, in denen das Salzwasser brannte. Eden erbrach sich, rang nach Luft, heulte vor Entsetzen und fiel schließlich in Ohnmacht.