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»Vor einer Woche«, sagte Emmeline Thompson gereizt. Dann legte sie sekundenlang eine Hand auf ihren Mund, als würden ihr erst in diesem Augenblick die Kürze der Zeitspanne und die Tragweite der Tatsachen bewusst. »Mein Gott, erst vor einer Woche.«
»Wie genau … wodurch ist der Tod eingetreten?«
»Aufgehängt«, sagte sie sehr leise, entsetzt darüber, selbst auszusprechen, was sie nicht glauben wollte. Ihre Lippen begannen zu zittern, und wieder versteckte sie es in der hohlen Hand. »Sie sagten, er hat sich aufgehängt, aber das stimmt nicht. Er war nicht … so verzweifelt.« Die Worte kamen zunehmend schwerer, das Gewicht auf ihrer Brust wuchs, ihre Brauen zogen sich ein wenig zusammen.
Gowers, der schon einige treulose Ehemänner überführt und logischerweise mit ebenso vielen betrogenen Ehefrauen zu tun gehabt hatte, deutete diese Anzeichen richtig und bot ihr ein blütenweißes Taschentuch aus der obersten Schreibtischschublade an. Der Anblick kostete sie endgültig ihre Fassung. Ein sieben Tage lang zurückgehaltenes Schluchzen brach aus Emmeline Thompson heraus.
Gowers zog sich taktvoll zum Fenster zurück und sah hinaus. Erst als er den Geräuschen entnehmen konnte, dass sich seine Klientin wieder im Griff hatte, fragte er weiter.
»Wo? Ich meine, wo hat man ihn gefunden?«
Sie schien beinahe froh, dass es nun wieder um eine rein technische Angelegenheit ging, zu der ihr allerdings das Vokabular fehlte.
»An der … An diesem Ding …«
»An der Rah?«
»Ich weiß nicht, wie man das nennt, das Querding am Mast.«
Gowers war froh, dass er immer noch aus dem Fenster schaute, denn er musste unwillkürlich lächeln, als plötzlich alles vor ihm auftauchte: Royalrah, Bramrah, Marsrah, Großrah, Begienrah … Das Querding am Mast!!
England ist auch nicht mehr das, was es mal war, dachte er, als er sich wieder zu Emmeline Thompson umdrehte.
13.
Wenn es keine so gute Gelegenheit gewesen wäre, New York zu verlassen, hätte er ihr geraten, die Sache zu vergessen, nach England zurückzukehren und ihr Leben von vorn zu beginnen. Nichts war schwieriger, als irgendetwas ergründen oder gar beweisen zu wollen, was auf hoher See geschehen war. Aber Gowers sah sich bereits an Bord dieses Schiffes und ließ sich davon nicht abschrecken.
Samuel Thompsons Passage nach St. Helena war bezahlt, er würde also auf Kosten des Toten reisen – genau genommen sogar noch sieben Tage länger. Wieder hätte er ihr fast ins Gesicht gelächelt, denn so deutlich wie seit Jahren nicht mehr fiel ihm ein, dass sein Vater ein Schotte gewesen war. Wie konnte er der jungen Dame seinen Plan klarmachen?
Emmeline Thompson hatte schon viel von der Rücksichtslosigkeit und Geldgier der Amerikaner gehört. Der Dollar war ihre Moral, ihre Tradition, der Gott, dem ihre Gebete galten. Dass überhaupt jemand auf die Idee kam, am Unglück anderer Menschen Geld zu verdienen, hatte ihr im Verlauf der letzten peinlichen Minuten den Berufsstand der privaten Ermittler vollends suspekt gemacht, ihre anfängliche Empörung bestätigt. Dennoch leuchtete ihr seine Feststellung, dass eine sinnvolle Ermittlung nur an Bord des Schiffes selbst möglich sei, unmittelbar ein. Auch dass diese kaum in den anderthalb Tagen der New Yorker Liegezeit stattfinden konnte, begriff sie sofort. Warum hatte sie nicht selbst daran gedacht? Nun würde sie für diesen simplen Rat viel Geld bezahlen müssen.
Sein Angebot, die Reise aus diesem Grund mitzumachen, überraschte sie nicht nur so sehr, dass ihr Unterkiefer herunterklappte, es erschreckte sie auch. Wie viel um Himmels willen sollte denn das kosten? Als er eine lächerlich geringe Summe nannte, trank sie doch einen Schluck Portwein. Und als er das Fenster schloss, einen fertig gepackten Reisesack hinter dem Vorhang hervorholte und ihr auffordernde Blicke zuwarf, lachte sie trotz all ihrer Verzweiflung.
»Sie … Sie wollen sofort mitkommen!? Einfach so? Nach St. Helena?«
»Ja«, sagte Gowers schlicht, wenn er auch hoffte, den Fall schon früher aufzuklären.
Emmeline Thompson hatte schon viel von der zupackenden, spontanen Art der Amerikaner gehört. Dennoch lief ihr ein Schauer den Rücken hinunter, bekam sie Angst, dass sich die Haare in ihrem Nacken sträuben könnten – als ein Mann ihren Arm ergriff, der in weniger als fünf Minuten bereit war, seine ganze Existenz hinter sich zu lassen. Woher hätte sie wissen sollen, die lange so wohlbehütete Tochter, das Bürgerkind, dass er genau das seit frühester Kindheit gewohnt war?
14.
Das Stottern, Stocken seiner Klientin auf dem Weg zum East River Seaport und die Offensichtlichkeit, mit der sie sich fragte, wer von ihnen beiden den Tag nur träumte, brachten Gowers noch einmal zum Nachdenken. In erster Linie über seinen Plan, aber auch ein wenig über den bevorstehenden Fall.
Die Untersuchung hatte sich auf den Augenschein beschränkt. Auf einem Schiff fragte niemand lange nach möglichen Todesursachen, wenn ein Mann aufgeknüpft an der Großrah baumelte. Da die Kleidung des toten Samuel Thompson keinerlei Spuren eines Kampfes oder sonstiger Gewalteinwirkung aufwies, der Körper keine Kratzspuren, Platzwunden oder Ähnliches, schloss man auf allgemeinen Lebensüberdruss und ein zwar gewaltsames, aber durchaus freiwilliges Hinscheiden. Einen Reim darauf machte sich jeder, der schon mal auf St. Helena gewesen war oder davon gehört hatte.
Nur Emmeline, die Tochter des Toten, war zuerst kaum zu beruhigen und danach nicht zu überzeugen gewesen. Hatte so lange und laut von Mord geredet, bis der Kapitän höchstpersönlich, oberste Polizeigewalt auf allen seegehenden Schiffen Ihrer Majestät Königin Viktoria, ein Machtwort gesprochen hatte. Wer von beiden recht behielt, würde Gowers auf der Reise in den südlichen Atlantik schon herausfinden.
Vielleicht wäre seine Aufgabe aber auch schon auf den Bahamas beendet, vielleicht war es wirklich nur ein Selbstmord gewesen. Vielleicht könnte er von Nassau aus mit irgendeinem Schmuggler nach New Orleans segeln, vielleicht lebte Maggie noch, vielleicht …
Gleichzeitig fragte er sich, wie wohl das Schiff aussehen würde. Rechnete mit einer Brigg, allenfalls einer Dreimastbark, Auswanderer-oder Paketschiff mit vielleicht zwei Decks – und stand dann mit offenem Mund, ehrfürchtig wie in einer Kirche, unter den dreißig Meter hohen Masten des uralten englischen Linienschiffes: Vierdecker, als Vollrigg getakelt, an die zweitausend Tonnen, bei Trafalgar, Navarino oder bei ähnlichen Gelegenheiten sicher nicht unter achthundert Mann gefahren. Die Geschützpforten der vierten Batterie, knapp über der Wasserlinie, waren vernagelt. Auch auf dem zweiten und dritten Deck war kein Geschütz mehr zu sehen, die Luken standen zur Lüftung offen.
Sie war über sechzig Jahre alt, hatte vieles gesehen, alle Meere befahren. Verkauft an die Ostindische Kompanie und mehrfach umgebaut, war sie jetzt ein Indienfahrer für Last-und vor allem Truppentransporte. Ein erheblicher Abstieg, aber dennoch schritt Gowers mit der Begeisterung des geborenen Engländers ihre Länge schon am Kai ab, sah dann ihren Namen am Bug und sein erstes Leben hinter dem Namen:
Northumberland.
15.
Northumberland, benannt nach dem angelsächsischen Königreich Northumbria, war von jeher das Grenzland des wie und durch wen auch immer zivilisierten südlichen Teils der britischen Insel gegen die wilden Stämme des Nordens, zuerst die Pikten, dann die Schotten.
Agricola, der Schwiegervater des großen Tacitus, besiegte im Jahre achtzig die hier lebenden freien keltischen Stämme und legte eine Kette befestigter Punkte zwischen Eden und Tyne. Ein halbes Jahrhundert später verbanden römische Ingenieure diese Befestigungen mit einem siebzig Meilen langen und fünfzehn Fuß hohen Wall, den sie zu Ehren ihres Kaisers Vallum Hadriani nannten.
Zweihundertfünfzig Jahre lang wurde diese Grenze bewacht und nicht überschritten, ehe Pikten, Sachsen und Waliser in nie zuvor und seither nie wieder erreichter Einigkeit den Wall durchbrachen und die Anarchie der Völkerwanderungen die Herrschaft der Römer in England für immer verschlang.
Die angelsächsischen Könige kamen und gingen. Oswin von Northumbria wurde Overlord über alle britannischen Reiche, bis Offa von Mercia im achten Jahrhundert die Führung übernahm.
Siebenhundertvierundneunzig, ein Jahr nach Lindisfarne, landeten die Wikinger in Jarrow-upon-Tyne und zerstörten das Kloster des heiligen Beda. Die große Armee der Dänen besetzte das Land und wurde von den Angelsachsen aufgesogen. Erst Wilhelm der Eroberer setzte der Herrschaft und dem blutigen Streit vieler kleiner Stammesfürsten und Clanchefs ein Ende – und seinen Ritter Percy als ersten Earl of Northumberland über die nördlichste Grafschaft des normannischen England.
Schon die Römer hatten am Tyne nach Kohle gegraben, sie über eine wohlangelegte Heerstraße, den Fosse Way, nach Süden verschickt. Aber ihre Gruben verfielen mit dem Hadrianswall, und nur die Straße wurde von vielen fremden Heeren genutzt, um das Chaos anzurichten, in dem Christentum und Kultur versanken.
Erst im späten Mittelalter nahm man die Arbeit in den nie vergessenen Kohleminen zaghaft wieder auf; primitiven Minen, selten mehr als zehn, vielleicht zwanzig Meter unter der Erde, unbewettert, ständig vom Wasser bedroht. So blieb es ein halbes Jahrtausend.
Der schwarze Prinz starb, die Jungfrau von Orleans wurde geboren und verbrannt, York und Lancaster stritten sich erbittert um die blutige Krone. Heinrich VIII. küsste und köpfte seine Frauen, die Armada versank, und Lilibeth hatte keine Kinder. Der Sohn der Maria Stuart vereinigte die beiden Königreiche, und ihr Enkel verlor Kopf und Krone an Parlament und Volk.
Und die Kohle vom Tyne rollte in den Süden auf der uralten Straße und heizte die Schmelzöfen dieser Geschichte, des Märchens von Merry old England. Oliver Cromwell besuchte angeblich die Gruben von Newcastle, die noch genauso primitiv waren wie zur Römerzeit oder wenig besser.
Und es auch blieben, bis ein Schotte, James Watt, eine Maschine erfand, mit der man das Wasser beherrschen, es heben konnte, tausend Liter in einer Minute. Gleichzeitig verzehrte diese Maschine, überall nachgebaut und zu den unterschiedlichsten Zwecken eingesetzt, zum ersten Mal in der Geschichte nicht mehr die menschliche Arbeitskraft, sondern nurmehr die Energie eines Brennstoffs, und das hieß: neue Minen, größere Gruben!
Nun erst stiegen sie in die Erde, tiefer hinab als je ein Römer, Sachse oder Normanne vor ihnen. Fünfzig Meter, hundert Meter, ja, sie trieben Schächte bis über dreihundert Meter in lichtloses Gestein, Mergel. Sie durchbrachen das Deckgebirge und standen auf dem geronnenen schwarzen Blut der Zeit. In wenigen Jahren schlugen sie mehr davon aus den Adern der Erde als sämtliche Generationen vorher zusammengenommen.
Und das erste Wort, das die Kinder am Tyne nach »Mama« und »Papa« zu sagen lernten, war: »Kohle!«
16.
Joseph Gowers, der Pfarrer von Old Benwell, zwischen Vallum Hadriani und Tyne, saß zitternd vor Ärger und Unruhe in der Sakristei seiner kleinen Kirche und erwartete den Zorn des Herrn über seinem Haupt.
Es war Sonntag, der Tag des Herrn, und schon seit zwei Stunden war er hier, angetan mit dem schlichten schwarzen Talar eines Dieners der anglikanischen Kirche. Er hatte das Heulen und Zähneklappern zu Hause nicht mehr ertragen und war hierher geflüchtet, wo er nun selbst heulte und klapperte. Jedenfalls zitterte.
Aber er würde sich seiner Schande stellen, jawohl, er würde diesen bitteren Kelch bis zur Neige leeren, der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, gelobt sei der Name des Herrn!
Aber warum Jenny? O Herr?
Warum die jüngste seiner sechs Töchter, sein Augenstern, das Licht seiner Tage?
Sie war kein sonderlich hübsches Mädchen. Er hatte viel mehr Angst gehabt um Charlotte Alexandra, seinerzeit, ihrerzeit. Die war groß, war schlank und auf eine herausfordernde Weise blond. Ihre Augen sind wie die Teiche von Heschbon am Tor Bat-Rabbim, von ihren Lippen träufelt Honigseim, ihre Brüste sind wie junge Zwillinge von Gazellen, die unter Lilien weiden. Aber unsere Schwester ist klein und hat keine Brüste … Warum Jenny?
Sie war zu dünn, zu knochig. Allerhöchstens ihre Nase war wie der Turm auf dem Libanon, der gen Damaskus schaut. – Ein Vers, den Ehrwürden Gowers ohnehin nie ganz verstanden hatte.