177531.fb2 Tod auf der Northumberland - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 40

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Gowers nahm einige tiefe Züge und lehnte sich zurück wie bei einem Schachspiel vor einem schwierigen Zug. Dann fing er an, laut zu denken. »Wenn ich nicht von A nach B möchte, kann das zwei Gründe haben: Ich möchte A nicht verlassen, oder ich möchte nicht in B sein.«

»Oder eine Kombination aus beidem«, warf der Arzt ein.

Gowers schloss die Augen. »Sie wollte England nicht verlassen. Und zuerst haben sie sie gefesselt, damit sie nicht ausreißen kann.« Nicken. »Aber England ist jetzt weit weg. Selbst wenn sie wollte, könnte sie nicht mehr zurück. Und nun plötzlich, nach fast vier Monaten auf See, ist ihre Angst vor Indien so groß, dass sie lieber sterben will, als dort anzukommen. Sie versucht nicht mehr auszureißen, sie versucht, sich zu töten.« Er machte eine rauchumwölkte Pause, dachte an Braddocks Information über die fortwährende Übelkeit seiner geheimnisvollen Patientin und kam zu dem Schluss: »Sie ist schwanger!«

Van Helmont nickte bedächtig. Zweimal.

»Wissen die anderen beiden davon?«, fragte Gowers.

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Aber sie vermuten es, da bin ich ziemlich sicher.«

»Und ist es ausgestanden?« Kopfschütteln. »Sie wird es wieder versuchen?« Nicken. »Solange sie schwanger ist.«

Gowers schwieg eine Weile, dann stand er auf, um zu Bett zu gehen. »Möchte nicht in Ihrer Haut stecken, Doc! Ich glaube, Hippokrates hat sich da eindeutig festgelegt.«

Van Helmont schnaufte verächtlich und drückte dann seine Zigarre aus.

»Ärzte mussten bei schweren Geburten schon immer entscheiden. Zwischen dem Leben der Mutter und dem des Kindes. Ich tue nichts anderes, nur eben ein paar Monate früher.« Er erhob sich und fing an, seine Sachen auszuziehen.

»Verstehen Sie was von Abtreibungen?«, fragte Gowers, der schon auf seiner Koje lag.

»Nicht so viel wie von Amputationen«, antwortete Van Helmont und schnallte sein Holzbein ab. »Aber die schwarzen Frauen im Süden kannten ziemlich wirksame Mittel gegen unerwünschten Nachwuchs. Ein durch jahrhundertelange Praxis und leider auch Notwendigkeit erworbenes Wissen. Ich denke, ich werde solch ein Mittel zusammenstellen, wenn ich in Kapstadt alle Bestandteile kriegen kann.« Seufzend streckte er sich in seiner Koje aus. »Und dann werde ich froh sein, wenn ich dieses Schiff nie mehr wiedersehe. Gute Nacht!«

Er löschte das Licht, fügte aber nach einer Weile noch hinzu: »Sie hatten übrigens recht. Ein Bild von einem Mädchen!«

»Mussten Sie das jetzt sagen?!« Gowers wollte eigentlich über etwas anderes nachdenken.

Der Lauscher, der dem Arzt mit katzenhafter Gewandtheit bis zur Kabine nachgeschlichen war, nahm sein Ohr von der Wand und ging ebenso leise wie schnell seinen Weg zurück, um in der aufziehenden Dämmerung nicht doch noch gesehen zu werden. Er wusste, was er wissen wollte.

109.

Im Hafen unter dem Tafelberg überwachte John Gowers »das Löschen der Ladung«, wie er das Anlanden von Van Helmonts nicht unbeträchtlicher Gepäckmenge ironisch nannte. Der Arzt war zu krank, um sich zu wehren.

Er war schon um sechs Uhr früh in der Stadt gewesen, um ein Hotel zu suchen, das geeignet schien, von dort aus sein weiteres Leben in Ruhe zu planen. Hatte den ersten Sonnenaufgang über Afrika beobachtet und an sich selbst eine Übelkeit diagnostiziert, die diesem melancholisch-schönen Schauspiel kaum entsprach. Es war das Innenohr, das Gleichgewichtsorgan, das ihm zusetzte.

»Fünftausend Meilen Atlantik, ohne seekrank zu werden, und dann kotzt man denen hier als Erstes die Gegend voll!«, ächzte er, weiß im Gesicht, als er sich zum Hafen, zum Schiff und endlich auch in seine Koje zurückgeschleppt hatte. »Soll ich Ihnen was sagen? Ich habe mich noch nie so einbeinig gefühlt wie heute Morgen.«

Gowers lachte. Er wusste, was die erste persönliche Landberührung einem Menschen nach mehrwöchigen, mehrmonatigen, ja mehrjährigen Seereisen antun kann. »Waren Sie wenigstens erfolgreich?«

»O ja, nette Bude. Sehr geräumig. Keine Yankees.«

»Worauf warten wir dann noch?«

»Dass mein Magen wieder weiß, wo sein Platz ist. Außerdem muss ich noch ein gewisses Mittel herstellen.« Van Helmont holte verschiedene Ingredienzen aus seiner Tasche, die er trotz seiner Übelkeit in den Apotheken Kapstadts besorgt hatte.

»Sie hören wohl nie auf, Arzt zu sein, was?«

»Hören Sie irgendwann auf, Detektiv zu spielen?« Das Wort rutschte ihm schärfer heraus, als ihm recht war. »Zu sein,wollte ich sagen. Und werde ich denn nun noch erfahren, wer unser Mörder ist, oder schreiben Sie mir aus Indien?«

»Sie werden, Doc«, sagte Gowers, als hätte er die Spitze nicht gehört. »Ich brauche nur noch einen Beweis, und der dürfte im Marinearchiv von Kapstadt nicht schwer zu finden sein.«

»Weihen Sie mich bloß nicht ein«, stöhnte der Arzt, als er sich trotz seiner Übelkeit von seinem Lager erhob, um die Medizin herzustellen, von der er wusste, dass sie an Bord zumindest ein Leben retten konnte.

»Wo kämen wir hin?«, erwiderte der Investigator. »Sie weihen mich ja auch nicht in alles ein.«

Es klopfte kurz, aber heftig, und einen Augenblick später stand Gowers dem beeindruckendsten Schnurrbart gegenüber, seit er zuletzt ein Walross gesehen hatte. Unwillkürlich fragte er sich, wie dieser Mann nach einer guten Gemüsesuppe aussehen würde, und konnte den Besucher von da an nicht mehr wirklich ernst nehmen, obwohl er sozusagen einen Kollegen vor sich hatte.

E. S. Porter war allerdings im Hauptberuf Rechtsanwalt und von den älteren Mitgliedern der renommierten südafrikanischen Sozietät Babbington, Simmons, Simmons & Porter lediglich damit beauftragt, eigene Ermittlungen über angenommene Fälle anzustellen. Seine aktuelle Mission betraf den beklagenswerten Zustand, in den der dritte Lord Eden an Bord der Northumberland irgendwie versetzt worden war. Die Angaben, die Seine Lordschaft selbst über den Vorgang machte, seit er das Schiff auf einer gepolsterten Krankentrage verlassen hatte, klangen so ungeheuerlich, dass Babbington, Simmons, Simmons & Porter der Sache auf den Grund gehen wollten, ehe sie irgendwelche rechtlichen Schritte folgen ließen.

Es war in der Tat die unglaublichste Geschichte, seit man Lady Diana Kinglake nach dem rein touristischen Besuch einer Diamantenmine gezwungen hatte, sich von der Gattin eines Bergwerksinspektors durchsuchen zu lassen – wobei zwar tatsächlich einige kleinere Diamanten zum Vorschein kamen, aber was änderte das am Tatbestand der Nötigung? Babbington, Simmons, Simmons und vor allem Porter hatten damals immerhin erreicht, dass die auf derart unzulässige Weise aufgetauchten Corpora Delicti im Prozess gegen die junge Dame nicht als Beweismittel verwendet werden durften, sodass die ganze Sache im Sande verlief.

Hier boten sich nun, vorausgesetzt, die Geschichte seiner Lordschaft ließe sich verifizieren, eine ganze Fülle wunderbarster juristischer Möglichkeiten. Man konnte ein ganzes Schiff verklagen, Passagiere, Mannschaft, den Kommandanten, die Reederei, die britische Regierung. Das mochte ein wenig Ermittlung wohl wert sein.

Die häufigste Erklärung, die Porter auf der Northumberland zu hören bekam, sofern er überhaupt etwas Verwertbares zu hören bekam, lief allerdings auf eine etwas überstürzte Rettungsaktion hinaus. Seine Lordschaft sei bei Anbruch einer dunklen und stürmischen Nacht über Bord gegangen und an einem Seil wieder hochgehievt worden, könne noch von Glück sagen, dankbar sein, gottverdammt!

Von den Passagieren wollte niemand etwas bemerkt haben, da machten auch Daniel Thompson und der Burendoktor keine Ausnahme. Blieben Edens Regressforderungen gegen Letzteren, wegen der katastrophalen medizinischen Versorgung im Anschluss an den Unfall oder Vorfall – eine Sache, die sich umso leichter verfolgen ließe, als der Arzt in den Kapkolonien zu bleiben beabsichtigte.

Gowers, immer noch erheitert von seiner Suppenvorstellung, warf den aufdringlichen Advokaten schließlich kurzerhand aus der Kabine. Als er wenig später mit dem Doktor das Schiff verließ, sah er den Mann noch einmal an Deck umherstapfen, den grotesken Schnurrbart durch erregtes Aufblasen der Oberlippe noch zusätzlich gespreizt. Er sah aus wie ein Mann, der gerade ein Tänzchen mit Kapitän Radcliffe hinter sich hatte.

Aufmerksame Augen verfolgten, wie Gowers und Van Helmont schließlich von Bord gingen, blickten dann hinüber zu einer Gestalt, die im Schatten eines Hafengebäudes lehnte und das Geschehen ebenfalls beobachtet hatte. Beide Männer nickten sich kurz zu, dann löste sich der Schatten von der Wand und folgte dem hochbeladenen Karren mit der weltlichen Habe des Doktors. Van Helmont war nicht der Einzige, der schon am frühen Morgen an Land gewesen war.

110.

»Dem armen alten Boyd haben sie die Schädeldecke so sauber weggeschossen, dass er’s gar nicht mitbekommen hat. Sein Kopf sah aus wie eine offene Dose. Er grinste sogar noch von einem Ohr zum anderen, als er umkippte.«

Die zusammengewürfelten Männer hörten dem Corporal der Artillerie so respektvoll zu, wie es einem mad sandbag der vorgezogenen Nr. VII gebührte. Diese kleine Artilleriestellung war nur siebenhundert Meter von den feindlichen Linien entfernt und hatte mit ihren vier 32er-Geschützen die Beschießung der mächtigen Festung Sewastopol von englischer Seite, aus den Green Hills heraus, eröffnet. Die Siebente war dabei ganz allein geblieben, denn die übrigen Batterien waren noch nicht schussfertig gewesen. Und ein mörderisches Feuer von den Wällen, Redouten, aus mindestens hundert schwarzen Kanonenmäulern vom Kaliber 68 hatte Captain Oldershaws vorgezogene Nr. VII stundenlang umgegraben. Von fünfundsechzig Männern kamen nur drei zurück, der Rest wurde getragen, so oder so. Die Überlebenden wurden noch am gleichen Abend von keinem Geringeren als Brigadegeneral Darcey persönlich ausgezeichnet.

Von der täglichen Teezeremonie ließen sie auch inmitten dieses Wahnsinns nicht, lediglich gewisse Standes-, Rang-und Klassenunterschiede verschwammen dabei allmählich. Seit sechs Monaten lagen alle im gleichen Dreck, Offiziere und Mannschaften, Adlige und Bürgerliche, Briten, Franzosen, ein paar versprengte Türken und die gefürchteten indischen Gurkhas, die nachts bis an die Wälle heranschlichen und sich unvorsichtige russische Wachtposten holten. Regen und Schlamm dieser endlosen Belagerung hoben sogar die heilige Trennung zwischen den Waffengattungen auf, und Seeleute, Infanteristen, Kanoniere und die letzten Überlebenden der bei Balaclava zerschlagenen Kavallerie saßen gemeinsam in kleinen und größeren Gruppen beim Tee und lauschten auf den unausgesetzten Donner des Bombardements.

Vom 9. bis zum 18. April 1855 gingen hundertdreißigtausend Schuss Granaten und Kanonenkugeln auf Sewastopol nieder.

Was so besonders heldenhaft daran sei, sich zusammenschießen zu lassen, fragte der sommersprossige Leutnant einer Versorgungseinheit, dem der höchst unwillige Umgang mit nassen Pferden anzumerken war, den konsternierten Corporal der vorgezogenen Siebten.

»Das ist eine Belagerung, Junge«, kam die Antwort aus dem Mund eines hochgewachsenen Marineoffiziers, der erst am Morgen mit dreitausend Kisten Munition über die Victoria Ridge gekommen war, frisch aus England, und sogar die neuesten Zeitungen dabeihatte. In London bejubelten sie demnach immer noch die Schlacht von Inkerman, die hier schon wieder Geschichte war. Eine vergebliche noch dazu, denn der russische Kommandant Todleben, ein Teufel in Menschengestalt, hatte den Berg sozusagen mit Picke und Schaufel zurückerobert und über Nacht zwei gewaltige Schanzen zwischen sich und die Alliierten gelegt. Der Malakoff-Turm war damit so gut wie uneinnehmbar geworden, und die Belagerer waren nun beinahe die Belagerten.

»Bei einer Belagerung«, fuhr der Seemann fort, »kommt es nur darauf an, dass die Belagerten möglichst bald ihr Pulver verschießen. Da muss man ihnen halt manchmal auch irgendwas zu treffen geben und eine Weile den Buckel hinhalten.«

»Das sagt sich leicht, Sir«, bemerkte säuerlich der hochdekorierte Kanonier, »wenn’s nicht der eigene Buckel ist.«

Ein Kamerad von der VIII. Batterie versuchte, den gereizten Mann zu beruhigen: »Meine Herren, einen Toast auf Captain Oldershaw und die vorgezogene Siebtente!«

»Mit diesem Gebräu?« Der Mariner schüttete angewidert seine Tasse aus. »Wahrscheinlich kochen die Plattfüße ihre Socken aus.« Einige Infanteristen eines Füsilierregiments knurrten beleidigt, nur die Gurkhas putzten ungerührt ihre Waffen. Was gingen sie die Auseinandersetzungen der Weißen an? Der angegriffene Artillerist aber sprang jetzt auf, wie aus einer Kanone geschossen.

»Sir, bei allem Respekt, das ist ein Affront! Ein Toast wurde ausgebracht. Die Männer der Siebenten kämpften heldenhaft gegen eine Übermacht von zehn zu eins, wenn nicht mehr.«

»Hipp, hipp!«, sagte sein Kamerad von der Achten.

»Nicht, wenn man die Franzosen mitzählt«, beharrte der Seemann.