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Der Arzt hob verwundert die Augenbrauen und nickte dann wieder. Unter qualvoller Anstrengung winkte er den Investigator noch einmal zu sich hinunter. Gowers hielt sein Ohr dicht an den Mund des Sterbenden und hörte deutlich die Worte: »Inder. Achtung. Linkshänder!« Dann schüttelte ein entsetzlicher Hustenkrampf den Körper des Arztes, er klammerte sich an Gowers’ Schulter und erstickte binnen einer Minute an seinem Blut.
»Ich werde ihn töten, Doc«, flüsterte Gowers so leise, dass niemand es hören konnte. »Ich werde beide töten.«
113.
Bedlam war eines der fünf königlichen Hospitäler, die es in London gab, und das letzte, das er aufsuchte, denn Bedlam war eigentlich kein Kranken-, sondern ein Irrenhaus. Heinrich VIII. hatte 1547 das Ordenshospital St. Mary of Bethlehem in eine Heimstätte für verwirrte Personen umgewandelt. Mehrfach erweitert und vor allem im 18. Jahrhundert ein beliebtes Ziel für Wochenendausflüge der besseren Gesellschaft – die für die exorbitante Summe von einem Shilling natürlich auch die Irren besichtigen konnte –, war es 1815 von Shoreditch nach Southwark an der Lambeth Road umgesiedelt worden, wo nun bis zu zweihundert Geisteskranke jährlich Aufnahme, wenn auch nicht unbedingt Hilfe fanden. Im Gegenteil war die Behandlung der Patienten von Bedlam immer wieder Gegenstand parlamentarischer Kontrollkommissionen, besonders seitdem auch die kriminellen Verrückten dort eingeliefert wurden.
Ben, der an diesem Tag schon im Chelsea, Christ’s, St. Bartholomew’s und St. Thomas’s Hospital gewesen war, kam erst am späten Abend nach Lambeth herunter und schlief, erschöpft von einer Woche fruchtlosen Suchens, in einer Nische der hohen Umfassungsmauer ein. Mit dem Sonnenaufgang wurde er wach, weil ein unheimliches, vielstimmiges Geheul hinter der Mauer den neuen Tag begrüßte.
Schüchtern zog er an der Glocke, die die riesigen Pforten unter sechs weißen, marmornen Säulen öffnen konnte, aber dann tat sich nur eine kleine Tür auf, die in diese Pforten eingelassen war. Eine Tür in der Tür, die er zuerst gar nicht bemerkt hatte. Eine Riesin in grauer Schwesterntracht beugte ihren Nacken durch die Türöffnung.
»Ja?«
»Ich suche meine Mutter, Jane Gowers. Sie ist klein und hat lange schwarze Haare. Ist sie hier?«
»Wann eingeliefert?«
»Ich weiß nicht genau. Vielleicht vor fünf oder sechs Tagen.«
»Klein, schwarzes Haar …« Die Riesin schien nachzudenken. »Lange Nase, keine Zähne, gewalttätig?«, fragte sie dann. Obwohl Ben das letzte Wort im Zusammenhang mit seiner Mutter noch nie gehört und noch nicht einmal gedacht hatte, sagte er: »Ja, das kann sie sein.«
»Hier ist eine Frau, die wir Raven nennen, wegen der Haare. Hat keinen Namen genannt. Auch sonst nichts gesagt, nur gespuckt und getreten.«
»Ich weiß nicht …«, sagte Ben, aber die Schwester fasste ihn scharf ins Auge, sein schwarzes Haar, sein müdes kleines Gesicht. »Könnte sein, könnte sein«, murmelte sie und winkte ihn über die Schwelle.
Sie war die größte Frau, die er je gesehen hatte, und sie schloss die kleine Tür hinter ihm mit einem von mindestens vier Dutzend Schlüsseln, die sie an einem riesigen eisernen Ring trug, wieder ab. »Für Raven, vielleicht!«, rief sie in einen stickigen kleinen Seitenraum hinein und winkte ihm wieder, ging vor ihm einen langen schmalen Gang hinunter.
Eine zweite Tür, dahinter das Tollhaus, der große Saal von Bedlam, gefüllt mit den harmloseren Irren der Hauptstadt, Männlein und Weiblein mit je einer eigenen Bettstatt, die sich tagsüber frei bewegen durften.
Ein Singen, Pfeifen, Heulen, ein unablässiges Stimmengewirr drang durch ein kleines vergittertes Fenster in der Tür. Bibelverse, Shakespeare, Schreie nach Bier und Reden, die zumindest im Tonfall politisch klangen. Nur vereinzelt Obszönitäten. Jeder schien sich hier durch Reden seiner Existenz zu vergewissern.
»Bleib dicht hinter mir«, sagte die Riesin. »Bleib nicht stehen und sieh niemanden an, sonst geht’s dir schlecht!«
Ben schlug die Augen nieder, die Tür öffnete sich. Für den Bruchteil einer Sekunde verstummte der Lärm, dann brach er mit doppelter Lautstärke wieder los. Ein Mann rief: »Der König! Der König!«, und viele griffen das Wort auf: »Der König!« Manche lachten sogar, als sei das ein Witz, den nur Eingeweihte verstanden. Alles schien harmlos, aber dann bemerkte Ben, dass seine Führerin links und rechts gebieterische Blicke ausstreute, mit bösen Augen eine Gasse brach durch den versammelten Irrsinn, und er entdeckte jetzt auch den breiten Ledergürtel, der an ihrer linken Seite offen herabhing.
Aus den Augenwinkeln sah er einen Mann, der mit aller Sorgfalt und Liebe eines geübten Handwerkers seine Hosen mit Schmieröl einrieb. Auf einem der Betten lag ein schlanker, ätherischer junger Herr, dem der Zipfel eines schmutzigen Taschentuchs aus dem Mundwinkel hing und der anscheinend dabei war, eine neue Philosophie zu ersinnen, wobei ihn die Ankunft Bens empfindlich störte.
Sie erschien so plötzlich und direkt vor ihm, dass er vor Schreck stehen blieb. Keine junge Frau mehr, weiße Strähnen durchzogen ihr sauber gekämmtes Haar. Sie fiel vor ihm auf die Knie, damit ihr Gesicht auf der Höhe seiner Augen war, und schaute ihn neugierig an. Sie musste einmal sehr schön gewesen sein, jetzt aber grimassierte sie, und ihre Augen rollten so sehr, dass er manchmal nur das Weiße darin sah. Sie nickte heftig und sagte leise: »Eis. Eis in den Augen. Und Blut auf dem Eis, das ist nahe. Viele Leben und zwei Tode. Ich kann sie sehen. Ein zwanzigster ist dein Tag!«
Ein derber Stoß fegte die Prophetin zur Seite, die Riesin nahm seine Hand und zog ihn mit sich fort. »Nicht stehen bleiben, hab ich gesagt!«
Er fühlte, dass die Frau ihm nachsah.
»Hüte dich«, rief sie noch, »hüte dich vor …« Aber er verstand nicht mehr, wovor er sich hüten sollte, denn ein schwarz gekleideter, hagerer Mann nahm ihr Wort auf und sagte sehr laut und im Kanzelton: »Hüte dich vor dem Menschen, denn er ist böse, und der Tod ist sein Teil!« Die klapperdürre Gestalt wandte das Gesicht zur Decke, ekstatisch, und schrie ihre Botschaft hinauf: »Und er soll gebrochen werden sieben Mal und verstreut in sieben Winde, und das Angesicht der Erde soll ihn nicht sehen, denn er ist schwarz. Schwarz! Schwarz!«
Die dritte Tür. Ein weiterer Gang, heller diesmal, von dem links und rechts kleine hölzerne Türen abgingen, hinter denen er dumpfe Geräusche hörte. So, als würde immer wieder etwas zu Boden geschleudert. Die Riesin hielt an vor der achten Zelle, der vierten Tür. Sie öffnete einen schmalen Spalt in Augenhöhe und sagte, sang: »Hee, Raven! Wo ist mein Vögelchen?!«
Ein Schlag, ein Klatschen blieb die einzige Antwort.
»Noch immer nicht müde, wie?«
Und zu dem Jungen gewandt, dem die Haare zu Berge standen, sagte sie: »Tobt seit sechs Tagen, schlägt gegen die Wände, so!« Sie schlug mit der flachen, riesigen Hand in die Luft, hielt erst wenige Zentimeter vor seinem Gesicht an und genoss sein Erschrecken. Lachte dann ein sattes, mehr sie selbst als den Jungen beruhigendes Lachen, als sie die neueste, erst ein Jahr alte Erfindung von Bedlam, die Gummizelle, vorstellte: »Aber die Wände sind hier gepolstert, so dick!«
Ihre Hände zeigten ihm, wie dick die Wände waren. Dabei stellte sie fest, dass der Sehschlitz, zu dem sie sich hinuntergebeugt hatte, für den Jungen unerreichbar war. Also nahm sie ihn unter den Achseln, hob ihn hoch, presste ihn gegen die Tür. »Und? Ist das deine Mutter?«
Ben sah eine nackte Frau mit geschorenen schwarzen Haaren. So hatte sie auch in Benwell ausgesehen, bevor sie dort weggingen. Ihre Augen waren geschlossen, Schweiß und Schmutz hatten hier und da eine Kruste auf ihrer Haut gebildet. Er sah Wunden, Kratzspuren, rote Striemen auf ihrem Leib. Sie erinnerte ihn an einen Baum ohne Rinde.
Plötzlich öffnete sie die Augen, hohlgeweint, blutunterlaufen, sah sein Gesicht in der kleinen Öffnung und blickte ihn sekundenlang starr an. Sie öffnete den Mund, öffnete auch ihre seit sechs Tagen zu Fäusten geballten Hände. Ein Schrei stieg auf aus dem schmalen, absterbenden Körper, langgezogen und seltsam tief schrie sie aus Leibeskräften: »JOHN!«
Jane warf sich mit solcher Gewalt gegen die Tür, dass Ben, trotz aller Polsterung und obwohl ihn die Riesin gepackt hielt, ein wenig zurückgeschleudert wurde. Das war das Letzte, was er von seiner Mutter spürte. Er weinte, ohne es zu wissen, die Tränen machten ihn blind. Wusste nicht und erfuhr nie, wie er an diesem Tag aus Bedlam herausgekommen war. Nur an das Beben der vierten Tür erinnerte er sich all seine vielen Leben lang.
114.
Gott lag im Sterben. Ein obdachloser alter Herr, ohne Beschäftigung, von seinen eigenen Theologen zu Tode gelangweilt. Seine Orden, Sekten, Konfessionen, alle Arten institutionalisierter Religion waren korrupte, nach Selbsterhaltung strebende Systeme geworden. Seit Jahrhunderten waren sie nicht mehr der Befriedigung transzendentaler Bedürfnisse, sondern nurmehr ihrer Monopolisierung verpflichtet und deshalb von der stetigen Anpassung an wechselnde Machtverhältnisse geprägt. Seine alte Wohnung, der Himmel – nichts als ein leerer Raum, von gelegentlichen Materieklumpen durchrast. Seine Schöpfung, die Welt – nur eine sich selbst überlassene Wucherung, die man straf-und rücksichtslos ausbeuten konnte. Sein Geschöpf, der Mensch – nachweislich nicht von ihm, sondern sukzessive aus zwölftausend Generationen von Affen herausgemendelt und nun endlich, endlich Herr im eigenen Haus!
Es war nicht mehr viel los mit Gott. Er war gründlich aus der Mode und um seine Notwendigkeit gekommen, in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Und nun stand seine Ethik, das Letzte, was man an ihm gelassen hatte, das christliche Gewissen, auch noch den sich so prächtig entwickelnden Geschäften im Weg. Da musste eines von beiden geändert werden, um den Fortschritt nicht aufzuhalten. Also verschwand Gott aus dem Handel und Wandel der Menschen, wenn ihn die widerlicheren Vertreter der Spezies auch noch lange und lauthals im Maul führten, um der Welt vorzuschreiben, was in Gottes Namen zu geschehen hatte.
Das war – oder nannte John Gowers in seinen philosophischen Momenten – das Problem des Dammes. Da war kein Damm mehr vor Bosheit und Übermut, nichts, was die Menschen daran hinderte, einander die haarsträubendsten Dinge anzutun und die grässlichsten Lebensumstände zuzumuten. Nichts stand mehr dagegen, denn die Erklärung der Menschenrechte war gerade mal etwas über fünfzig Jahre alt und konnte die alte biblische Feuersäule nicht wirklich ersetzen.
Das Problem der Flut war vor allem das ihrer Geschwindigkeit. Wie rasch stieg die Flut! Wie schnell änderte sich alles. Technische, industrielle, wirtschaftliche Veränderungen spülten in wenigen Jahrzehnten Strukturen hinweg, an denen Jahrtausende gebaut hatten. Gnadenlos wie noch nie, ohne Halt, bis auf die Knochen mussten sich die Menschen den ökonomischen Gegebenheiten anpassen – statt umgekehrt –, und die Gewinner in diesem Spiel schienen von ihrer eigenen Haltlosigkeit auch noch entzückt zu sein.
Beinahe jedes Zeitalter hatte sich selbst für den Endzweck der Menschheitsgeschichte gehalten, aber erst dieses war schamlos und blöde genug, auch die eigene Vergangenheit für überflüssig zu erklären und nur noch Endzweck, Selbstzweck zu sein: aus sich und für sich, ausschließlich, und immer bereit, alles zu vernichten, was dieses Selbstverständnis in Frage stellte.
Das war die Welt, das Land, in die, an das die Welle ihn geworfen hatte, vom fernen Northumberland über die warmen und kalten, schließlich die gefrorenen Meere, die großen Städte, New York, New Orleans, London, den endlosen Fluss und den Krieg. Er lachte manchmal darüber, wie viele Leben in seinen noch nicht dreißig Jahren schon Platz gefunden hatten, denn Lachen war letztlich das Einzige, was man der Welle entgegensetzen konnte. Und dann fragte er sich wieder, mit aller Neugier, die ein Investigator, ein Ermittler, ein Detektiv aufbringen konnte, wann, wo und wie er seinen beiden Toden begegnen würde.
115.
Als er das Krankenhaus verließ, folgte ihm der Schatten, ein Mann, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite den Eingang des Hospitals scharf beobachtet hatte. Der Schatten wartete geduldig auf den Moment, in dem sein Opfer in irgendeine dunkle Gasse einbog, einen lichtlosen Ort, wo er über ihn herfallen würde mit den anderen Schatten.
Er war ein Sikh, Mitglied jener indischen Kriegerkaste, die die Engländer erst vor ungefähr fünfzehn Jahren besiegt hatten und die sie immer noch fürchteten. Seit er denken konnte, hatte er gegen die weißen Teufel gekämpft oder gegen jeden, den sein Kriegsherr als Feind bezeichnete. Mit zwölf Jahren hatte er seinen ersten Gegner getötet und den eisernen Armring erhalten, der einen Krieger auszeichnete.
Mit der Niederlage gegen die Ostindische Kompanie brach seine Welt zusammen, gab es keinen Herren mehr, und ohne Schwert und Turban, wehrlos, ehrlos, wie entmannt durch die langen Reihen der widerlichen Sepoys und Gurkhas zu gehen war so demütigend, dass er beschloss, nun sein eigener Herr zu sein. Er ging in das Land der Schwarzen. Und weil er vielen Herren diente, konnte er sich einreden, keinen zu haben. Er wurde ein Söldner im endlosen Krieg der Burenfarmer gegen die Xosa und Griquas, gegen die schwarzen Teufel. Leicht zu jagende Beute, träge in Hirn und Herz, langsam in allen Bewegungen, allenfalls ausdauernd.
Er wurde ein gedungener Mörder. Da er nicht mehr mit dem Schwert töten durfte wie ein Singh, ein Löwe, und da er Feuerwaffen verabscheute, deren Gebrauch ihm ehrlos, unmännlich erschien, wurde seine Lieblingswaffe der Kris, jener schlangenförmige Dolch aus den sumpfigen Inseln im Süden, der ihn seiner mystischen Form wegen schon als Kind fasziniert hatte. Der Kris symbolisierte den Weg eines Mannes im Leben, und er hatte zwei Schneiden.
Gowers hatte die Angelegenheiten des Arztes, so gut es ging, geordnet. Da Van Helmont in Südafrika keine Angehörigen hinterließ, keine Freunde, ja nicht einmal Bekannte, setzte Gowers sich selbst kurzerhand als Universalerben ein. Den Inhalt der großen Bücherkiste verkaufte er bis auf ein Buch und finanzierte mit dem Erlös die Beerdigung samt Sarg, Trägern und Pfarrer. Dass er eine erhebliche Summe übrig behielt, hätte der Arzt ihm nicht übel genommen. Beim Durchschauen des Gepäcks fand er außerdem eine Pfeife und eine enorme Menge Tabak.
Verdammter Sezessionist, dachte Gowers, schwimmt in echtem Virginia und raucht mir meine Zigarren weg!
Er ging durch, was er an Papieren fand, und legte dem Toten ein kleines Bündel Briefe mit ins Grab. Er hatte sie nicht gelesen, nur kurz gesehen, dass es die Handschrift einer Frau war. Aber diese Geschichte sollte Van Helmonts Geschichte bleiben. Denn hatte nicht der Arzt alle Brücken hinter sich abgebrochen? Er wollte ins Unbekannte aufbrechen. Dass er dabei derart erfolgreich sein würde, hatte er sicher nicht eingeplant, aber ebenso sicher auch nicht gefürchtet. Wer dem Tod so oft begegnet war wie Van Helmont, wusste, dass alles Leben und Lieben, Kämpfen und Töten auf Erden nur ein ohnmächtiges Streben nach Dauer ist.
Das künstliche Bein legte er dem Toten nicht an, sondern brachte es als ärztliches Vermächtnis mit all den anderen medizinischen Geräten und Medikamenten ins Krankenhaus, damit es möglichst bald wieder seinen Zweck erfüllte. Zwar war es eine Maßanfertigung, aber die würden sich bei einer der nächsten Amputationen schon den passenden Krüppel zurechtsägen. Als dann aber der Pfarrer leiernd von der Auferstehung des Fleisches redete, hätte Gowers beinahe gelacht.
Ein Bein in Shilo, der Rest in Kapstadt, dachte er. Sie werden denen beim Jüngsten Gericht ganz schön Ärger machen, Doc!
116.