177531.fb2 Tod auf der Northumberland - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 43

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Auch der zweite Weiße verhielt sich sorglos wie ein Kind. Ein Kinderspiel, ihn zu töten, fast keine Aufgabe für einen Singh, einen Löwen, aber sehr gut bezahlt. Nachdem der Weiße das Krankenhaus verlassen hatte, schlenderte er herum wie ein Weib, das nicht weiß, wo es hinwill. Dann ging er in das Haus, wo die weißen Teufel das Papier aufbewahrten.

Er wusste um die Macht des Papiers in der Welt der Weißen, seine Zauberkraft. Ein Papier, im fernen England geschrieben, konnte hunderttausend Männer in Bewegung setzen, Dörfer zerstören, Völker entwurzeln. Er hatte es selbst erlebt, im Punjab und später hier, als die Buren auf ihre großen Trecks zogen, gejagt vom Papier der Engländer. Dennoch verachtete er das Papier. Es war ehrlos, unmännlich. Und es roch nach der kleinen weißen Frau, vor der alle Engländer im Staub lagen.

Geduldig auf den Fersen hockend, wartete er, bis sein Opfer wieder aus dem Haus der Papiere herauskäme; ein sicherer, ruhiger Mann, ein Könner in seinem Fach. Er tötete gleich gut bei Tag und bei Nacht, es lief auf das Gleiche hinaus. Und sein Kris hatte eine geschwärzte Klinge, damit kein Funkeln, kein Glanz den Mörder verriet.

Gowers war noch einmal an Bord gewesen, hatte sich aber gehütet, vom Tod des Doktors zu erzählen, so schwer ihm das auch gefallen war. Unter dem Vorwand, die letzten Kleinigkeiten Van Helmonts zu holen, hatte er sein eigenes Bündel aus der Kabine geschafft und trug nun die ausgebleichte Offiziersmütze, die er seit dem Krieg in allen Kämpfen getragen hatte. Im Marinearchiv fand er ziemlich schnell, was er suchte, fand alles bestätigt, was er bis dahin nur vermutet hatte, und konnte jetzt seine ganze Aufmerksamkeit dem gedungenen Mörder zuwenden, der draußen auf ihn wartete, um ihn zu töten.

Er hatte die Stadt studiert auf seinem Weg vom Krankenhaus zum Archiv, ihre Straßen, Häuser, kleinen Gassen. Noch einmal schaute er jetzt aus allen Fenstern, plante und wartete, bis es dunkel genug war.

Der Weiße streckte sich und gähnte, als hätte er recht lange über den Papieren gesessen und sei nun satt von ihrem Zauber. Noch immer schlenderte er hin und her wie ein Betrunkener, blieb auch manchmal stehen, schaute verwirrt in verschiedene Gassen. Der Idiot wird sich völlig verlaufen!, dachte der Sikh, als der Weiße plötzlich kurzentschlossen um ein halbes Dutzend verschiedene Ecken bog. Und dann war er verschwunden.

Irritiert wie nur je ein Mörder ohne Opfer huschte der Singh, der Löwe, hin und her, als wollte er Witterung aufnehmen. Die Schatten waren schon hoch über die Dächer gekrochen, der Himmel war dunkel.

»Guten Abend, Punjabi«, sagte Gowers, der nur zwei Schritte hinter ihm stand.

117.

Wie jeder siegreiche Feldzug des Britischen Empire hatten auch der Krieg auf der Krim und der Fall von Sewastopol mehr Helden übrig gelassen, als man bezahlen konnte. Länger als ein Jahr – zwischen dem Frieden von Paris und dem Ausbruch der indischen Rebellion – gingen wieder Tausende abgedankter Soldaten und Offiziere auf Halbsold in den großen Städten ihrer ziellosen Wege. Sicher war ihre Zahl kleiner und ihre Not zumindest weniger groß als vierzig Jahre zuvor, nach dem Sieg über Napoleon. Industrie, Handel, Verwaltung, die Kolonien, die ganze prosperierende Mitte des 19. Jahrhunderts bot den weniger wählerischen unter ihnen durchaus Lohn und Brot. Aber insbesondere Frontoffiziere, die Blut vergossen, Männer ins Feuer geschickt, fremdes Leben in ihren Händen gehalten hatten, empfanden ein gewisses Recht darauf, wählerisch zu sein, und konnten sich nicht dareinfinden, in Handelskontoren, Amtsstuben und dergleichen mit der Bitte um Anstellung vorzusprechen.

Wer es sich irgend leisten konnte, trat einem der Herrenclubs bei, die wie Pilze aus dem Boden schossen. Dort war man unter seinesgleichen und konnte die Schlachten von Balaclava und Inkerman in bequemen Polstersesseln nach-und neu und besser schlagen. Andere versuchten, wenigstens einen Posten als Instrukteur in der schrumpfenden Friedensarmee und -flotte zu erhalten, und saßen verbittert in kleinen, ungeheizten Zimmern, wenn ihre Bemühungen fehlschlugen. Für sie alle galt: Je geringer die Wertschätzung war, die sie öffentlich erfuhren, desto unverrückbarer wuchs in ihnen die granitene Vorstellung von ihrer eigenen Ehre und Britanniens Größe. Versteinerte kleine Denkmäler ihrer selbst, putzten sie zuletzt nur noch täglich stundenlang ihre Uniformen, Waffen, wichsten Stiefel, Koppel und Lederzeug und gingen dann die sinnlosen Wachen auf öffentlichen Straßen und Plätzen oder durchstöberten die Gazetten nach den winzigsten Anzeichen eines neuen Krieges, der ihr Elend beenden würde. Wohl dem, der ein Steckenpferd ritt!

Als Mad Hatter begann, in Bibliotheken und Archiven zu überprüfen, ob die abenteuerliche Geschichte des französischen Melders von Bonapartes Schatz überhaupt stimmen konnte, hatte er zuerst über sich selbst gelacht. Schatzsuche – das war etwas für Jungen und Tagediebe, für Leute, die sonst keine Aufgabe hatten. Aber seit Monaten dienstunfähig durch eine Verwundung beim Sturm auf die Bastion Korniloff und auf Halbsold gesetzt, war er ja eben das: ein Mann ohne Aufgabe. Und die Temperaturen des Winters 1855/56 fielen ins Bodenlose, die Lesesäle waren geheizt und die Sache selbst fesselnder, als er anfangs geglaubt hatte.

Schnell fand er heraus, dass Geschichte immer nur eine Konstruktion ist; labil, mühsam zusammengeleimt aus Daten und Fakten, die sich gegenseitig stützen, erklären und eine innere Folgerichtigkeit, eine Kausalität der Ereignisse vorspiegeln sollen, anhand deren sich Menschenverstand durch das Chaos von Zeit und Welt tastet. Ihm fielen dabei stets die jämmerlichen Reihen der Kriegsblinden ein, die, einander die Hand auf die Schulter gelegt, sich auf sicheren Bahnen zu bewegen glauben, oder das Maultier, das einer Mohrrübe nachläuft, die der Narr auf seinem Rücken ihm an kurzer Stange vor die Schnauze hält. Auch der Hund, der seinen eigenen Schatten jagt. Aber er beschäftigte sich nicht mit der Philosophie, die darin steckte. Ihn faszinierten die Lücken.

Er war überrascht, wie viele Lücken es in der Geschichte gab – Tage, Wochen, in denen nach Ansicht der Historiker nichts geschehen war – und wie gut Louis Vivés’ Geschichte vom Schatz Bonapartes in eine dieser Lücken passte. Für hundert Tage, so stand es in den Büchern, hatte Napoleon I. nach seiner Flucht aus Elba Frankreich noch einmal zum Kaiserreich gemacht, aber natürlich war das nur eine hübsche, runde Zahl, die die Schulkinder auswendig lernen konnten. Außerdem klang es besser als achtundsiebzig, neunundachtzig oder dreiundneunzig Tage. Tatsächlich gab es da eine Lücke von drei Wochen, drei ganze Wochen in jenem verregneten Sommer 1815, in denen nicht klar war, wer Frankreich eigentlich regierte.

Napoleon hatte die Schlacht bei Waterloo am 18. Juni verloren und war in der Stille, die die geschlagenen Feldherren aller Zeiten umgibt, nach Paris zurückgekehrt. Aber erst am 8. Juli zog der fette Bourbone, der Bruder des Geköpften, Onkel des verschollenen Dauphins, wieder in die Tuilerien und nahm seine Amtsgeschäfte auf. In den Büchern stand über diese Zeit immer nur, Napoleon habe mit seinen engsten Vertrauten beraten, ob er nach Amerika flüchten oder sich stellen sollte. Und wem er sich stellen sollte, Preußen, Österreichern, Engländern oder einem französischen Tribunal. Nur Historiker konnten so denken. Ein Mann, der in weniger als einem Jahrzehnt Europa erobert hatte, brauchte für diese Überlegung keine drei Wochen. Aber was hatte Napoleon dann getan und geplant in diesen zwanzig Tagen? Wofür war der Marschall Ney wirklich erschossen worden? Und welches Geheimnis hatte er mit sich genommen?

Nach Louis’ Erzählung hatte man in dieser Zeit Bonapartes Privatvermögen und noch etliches andere in eine Gruft geschafft, und alles, was man heute, ein halbes Jahrhundert später, für ein sorgenfreies Leben benötigte, war der richtige Name auf dem richtigen Grabstein auf dem richtigen Friedhof. Dazu eine dunkle Nacht und ein wenig Glück – und all das schien plötzlich kein Traum mehr! Die mysteriösen drei Wochen nach Waterloo, über die nichts in den Büchern stand, machten einen derartigen Ablauf möglich, und bald unterlag er dem uralten Trugschluss aller forschenden, fragenden Nichtwissenschaftler: Je weniger die Fakten Louis’ Geschichte ausschlossen, desto wahrscheinlicher kam sie ihm vor.

Zu dieser Erkenntnis gelangt, bemerkte der kriegsversehrte englische Marineoffizier auf Halbsold zum ersten Mal, dass er nicht allein war in den Lesesälen und Archiven. Dass auch andere Männer forschten und spekulierten, ja womöglich zu denselben Ergebnissen kamen. Er merkte es daran, dass jemand die gleichen Bücher auslieh, dieselben Dokumente einsah wie er. Zuerst betrachtete er das sportlich und ein wenig amüsiert. Aber er legte sich doch schon jetzt auf die Lauer, um seine Konkurrenten zu sehen, ehe er selbst gesehen werden konnte.

118.

Dass der Doktor von Bord gegangen war, ohne sich zu verabschieden, fand Emmeline Carver schäbig genug. Dass auch John Gowers verschwunden war, betrachtete sie als persönliche Beleidigung, obwohl es ihr erst auffiel, als die Northumberland Kapstadt bereits seit zwei Tagen verlassen hatte.

Seitdem aber fragten immer wieder Leute nach ihrem Bruder Daniel, Charles’ Kameraden, Hauptmann Bledsoe, sogar der Kapitän. Und dummerweise hatte sie sich anfangs darauf festgelegt, nichts über seinen Verbleib zu wissen, sodass sie jetzt zwar nicht wie eine sitzengelassene Braut, aber zumindest wie eine im Stich gelassene Schwester aussah. Hätte sie nur gleich gesagt, dass Daniel sich in den Kapkolonien ein neues Leben aufbauen wollte, wäre alles nur halb so peinlich gewesen.

Die Sympathien waren allerdings ganz auf ihrer Seite. Was konnte schließlich das Mädchen für ihre Familie? Für einen Vater, der sich erhängt, für einen Bruder, der sich offensichtlich aus dem Staub gemacht hatte, womöglich mit einem Teil des Erbes. Immerhin, armer Carver, was würden seine Leute zu einer solchen Verbindung sagen? Und hatte er seinen Schwager nicht schon auf St. Helena töten wollen?

Alle, die ihn kennengelernt hatten, waren sich jedenfalls einig, dass Daniel Thompson ein Windhund war. Zuerst seinem Vater das Herz gebrochen, jetzt seiner Schwester davongelaufen. Nach einer Weile legte sich jedoch das mitleidige Kopfschütteln, und zuletzt war auch Emmeline froh, einen so dubiosen Menschen glücklich losgeworden zu sein.

Wie eine Schlange, deren Nest man aufgedeckt hat, fuhr der Inder herum und griff sofort an. Fand den schwarzen Dolch in seinem Gürtel so sicher und selbstverständlich, als wäre er ein Teil seines Körpers. Aber der Schlagring des Weißen hatte seine Nase schon gebrochen, ehe er zustechen konnte.

Noch gab der Mörder nicht auf. Der seltsame Feind umklammerte sein linkes Handgelenk mit beiden Händen. Das war seltsam, denn selbst diejenigen seiner Opfer, die überhaupt Zeit und Kraft zur Gegenwehr fanden, rechneten nicht mit einem Linkshänder. Aber immerhin war dadurch seine rechte Hand völlig frei. Mit aller Kraft schlug er nach der großen Ader am Hals. Er wusste, dass man auch dadurch einen Mann töten kann. Aber in diesem Moment geschahen viele Dinge.

Der Weiße parierte den Schlag mit der Schulter, zog sie zur Deckung hoch, und der tödliche Schlag traf nur die alberne blaue Kappe mit den gekreuzten Schwertern, schlug sie herunter. Zugleich drehten die beiden Fäuste die dunkle Hand mit der zweischneidigen Waffe schmerzhaft herum, ohne dass der Sikh sie deswegen losließ, und ein kräftiger Tritt riss dem Mörder die Beine weg.

Beide fielen zu Boden, stürzten in den Schatten. Noch im Fallen wunderte sich der Singh, der Löwe, über die Schnelligkeit, mit der all das geschah. Er versuchte, sich zu drehen, dachte schon über den nächsten Schlag nach, den Kampf am Boden, in dem er unschlagbar war, als die schwarze Klinge ihm Lunge und Herz durchbohrte. Sein Körper zuckte und zitterte noch lange, wie rasend scharrten die Füße im Staub der Straße, während sein unheimlicher Feind ihn bis zuletzt fest an den Boden presste. Das Einzige, was er darüber hinaus noch wahrnahm, war der Geschmack des Blutes in seinem Mund.

In Gowers’ Rucksack befand sich das Fläschchen mit der Medizin, die der Doktor zuletzt hergestellt hatte. Für sich selbst nahm er nur die Pfeife und den Tabakvorrat des Toten, seine kleine Mundharmonika und das Buch, das Van Helmont angefangen hatte und nun nie mehr zu Ende lesen würde: Fieldings A Journey from this World to the Next. Dort fand er einen Satz, den der Arzt angestrichen hatte und der dem Haus des Todes galt, in das Fieldings bunte Gruppe jüngst Verstorbener eintrat.

So schauderhaft und fürchterlich dieser Palast von außen ist, so lieblich und heiter ist er von innen, sodass gleich alle trüben und düsteren Vorstellungen verschwanden, die wir uns beim Herannahen gemacht hatten.

Ich hoffe, dass da etwas dran ist, Doc!, dachte Gowers, der nur die finstere Außenseite so gut kannte.

119.

Ben fühlte, dass der Sommer zu Ende ging. Vor allem, weil er keine Schuhe trug. Sie waren ihm schon im letzten Winter zu eng gewesen, und er verkaufte sie, als seine Mutter starb. Mit nackten Füßen auf der Straße stehend, kam er sich zuerst albern, dann schäbig vor. Sie waren zwar immer arm gewesen, bettelarm, räuberarm, aber Jane hatte stets Wert darauf gelegt, dass seine Kleider in Ordnung waren und dass er Schuhe trug.

Sie starb, ohne dass man ihn noch einmal zu ihr gelassen hätte.

»Hat einfach nichts mehr gegessen«, war die einzige Auskunft, die man ihm gab, und dass ihr Körper zur Sektion an die Universität gegangen sei, zur Begleichung der Kosten.

Nein, es gäbe in solchen Fällen kein Grab. Ihre falsche Brille gab man ihm zurück und das Kleid, das sie zuletzt getragen hatte. Ben verkaufte beides.

Er trauerte nicht, er wurde nur stumpf, nahm keinen Anteil mehr an der Welt. Volle zwei Monate redete er nicht, zu niemandem. Er verkam. Stahl, ohne nachzudenken, lächerliche Dinge, die das Risiko nicht wert waren und ihn für keine zwei Stunden satt machten. Er schlief in den One-Penny-Herbergen, wo die wilden Kinder, Jungen und Mädchen, zu acht in einem Bett lagen, dessen Wäsche nie gewechselt wurde.

Er prügelte sich in sinnlosen Kämpfen, für nichts. Bekam Ungeziefer und eine schmerzhafte Augeninfektion, die ihn für kurze Zeit erblinden ließ. Genesen durch eine starke Natur und Umschläge mit Katzenblut, auf die eine mitleidige, ständig betrunkene Herbergsmutter schwor, war ein kleiner, dürrer Schakal aus ihm geworden, ein zehnjähriger Aasfresser, der für eine warme Mahlzeit getötet hätte.

Als er gar nichts mehr besaß außer seinem Schatz, den Canterbury Tales, aus denen er lesen gelernt und für die er sein Leben gegeben hätte, überfiel er Menschen, die so tief herabgestiegen waren, dass selbst die wandernden Stämme Londons sie kaum noch zur menschlichen Rasse zählten.

In den Docks und die ganze Themse entlang hausten die Flussratten. Kleine Kinder, sich selbst und Gott überlassen, Krüppel, alte Frauen, die von dem lebten, was die Seeleute über Bord warfen, was beim Verladen von den Schiffen fiel oder aus den unterirdischen Kanälen in den Fluss gespült wurde. Im Morgengrauen, wenn die Flut zurückging, krochen sie zwischen den Anlegestellen und Lastkähnen im fauligen Flussschlamm herum. Im Winter gefroren ihre von namenlosem Dreck starrenden Kleider zu einem Panzer aus Elend, im Sommer stanken sie, dass die Fliegen sich ekelten. Keiner von ihnen überstand dieses Leben länger als drei Jahre. Und all das für eine Handvoll Kohle-oder Holzstückchen, geborstene Bretter, Tauenden, Knochen, einzelne Nägel, kleine Eisenbeschläge, die sie bei ihren Herren, den Lumpensammlern, verkaufen konnten.

Ben brachte es fertig, diesen Menschen mit Gewalt die kleinen Münzen zu entreißen, die sie auf diese erbärmliche Weise verdienten. Bis er das Mädchen traf.

Sie sah aus, als sei ein Haufen Lumpen, den selbst die Rattentöter nicht mehr anzurühren wagten, plötzlich lebendig geworden. Ihre Haut, ihre Haare waren mit einer Schmutzkruste bedeckt, auf der man Kresse hätte ziehen können. Von Gott-weiß-wem vor sechs oder sieben Jahren erzeugt, hatten sie doch in Wirklichkeit die Abzugskanäle der großen Stadt geboren.

In jedem Wald hätte man sie ein Wolfskind genannt, und die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, Sprachforscher, Nervenärzte hätten sich um sie gerissen. Hier war sie nur Auswurf in seinem natürlichen Element, ausgespien von diesem Jahrhundert, Abschaum, der am Flussufer klebte.

Sie hatte einen guten Tag gehabt, als die Flut sie an Land warf. In ihrem armseligen, schmutzigen Beutel befanden sich ein rostiges Sägeblatt, verschiedene Taue und Schnüre, schwer vom öligen Wasser. Einige Holzscheite, zum Teil angebrannt, ein eiserner Kistenbeschlag und ein Pfeifenstiel, den sie hin und wieder mit Behagen in den Mund steckte. Außerdem hatte sie eine verendete Möwe gefunden und trug Knochen und Federn noch bei sich.

Ben wollte nicht warten, bis sie all das zu Geld gemacht hätte, zu verlockend war ihr prall gefüllter Beutel, aus dem das Sägeblatt ragte. Aber während er seine übrigen Opfer stets von hinten gepackt hatte, stellte er sich dem Mädchen mitten in den Weg, vielleicht weil sie so viel kleiner war als er. Ihre graubraune Haut war eisig kalt, wie die aller Flussratten, zu jeder Jahreszeit. Er packte sie an den Handgelenken, aber anstatt um den Beutel zu kämpfen, ließ sie ihn fallen. Und als er sich bückte, um damit wegzulaufen, sprang sie ihm ins Genick wie ein Katze, grub ihre kleinen schwarzen Zähne in sein Fleisch.

Er hatte nie gegen einen solchen Gegner gekämpft, einen Feind, der ihn nicht verletzen, ihn nicht vertreiben, ihm keine Angst machen, sondern ihn einfach nur töten wollte, mit aller Kraft. Der nicht losließ, an seinen Haaren riss, mit den schmutzigen, scharfen Nägeln nach seinen Augen zielte, auch als er ihn schon von seinem Rücken heruntergezerrt hatte.

Der Tod selbst hing an ihm und spuckte ihm kaltes Blut ins Gesicht. Entsetzen, Ekel schüttelten Ben, und er wollte nur noch davonlaufen. Aber sie packte ihn wie eine Furie, hielt ihn fest, fauchte, schlug, trat, kratzte blind um sich. Er schleuderte sie schließlich gegen eine niedrige Mauer und flüchtete ohne Beute. Auch ohne zu wissen, ob das Mädchen den Kampf überlebt hatte.

Von diesem Tag an wollte er sterben, ganz für sich. Und suchte nur noch die beiden Tode, die ihm verheißen waren; bis er das Schiff sah, irgendwo in den westindischen Docks.

Es war ein Handelsschiff, Viermaster, Gaffelschoner, und es schien ihm riesig. Obwohl es nicht unter Segeln stand, zerrte es an den Tauen, mit denen es ans Land gefesselt war, wie ein lebendiges Wesen. Die kleinen Wellen, die an seinen Leib schlugen, das Knarren der Planken, Singen der Taue und Leinen – das Schiff sprach zu ihm, in einer seltsamen, unbekannten Sprache.

Er verstand die Worte nicht, aber es war ein Versprechen.

120.

Das Mädchen war nicht mehr angebunden, die seidenen Tücher an den Bettpfosten hingen lose herab. Aber mit den schmalen weißen Verbänden an beiden Handgelenken, die auf der leichten Bettdecke lagen, sah sie immer noch wie gefesselt aus.