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Er hatte sich in der Verkleidung eines indischen Kulis erst am Abend des Auslaufens wieder an Bord geschlichen, schlief tagsüber zwischen einigen Tuch-und Baumwollballen und hatte einen ganzen Sack voll Verpflegung, weil man ihn ohne dieses »Frachtgut« auf dem Buckel als Lastenträger kaum ernst genommen oder an Bord gelassen hätte. Nachts legte er sich auf die Lauer, aber da sich der Mörder bisher nicht gezeigt hatte, stand er in der dritten Nacht vor dem Krankenlager der schönen Inderin.
Sie war höchstens achtzehn, und doch sah er jetzt aus der Nähe, dass sie in den vergangenen Monaten, eingesperrt in der engen Kabine, gefesselt an ein zu weiches Bett, voller Reue für ihre Vergangenheit und voller Angst vor ihrer Zukunft, gelitten hatte. Seltsam bleich für ein Kind ihres Landes, lagen doch dunkle Ringe unter den schönen Augen, traten auch ihre Wangenknochen schon ein wenig zu spitz hervor – ein Zeichen, dass sie zu wenig gegessen, geschlafen und zu viel nachgegrübelt hatte. Ihre Verzweiflung war weich, so weich wie das Bett, in dem sie lag.
Im klaren Bewusstsein, dass dies die einzige Berührung zwischen ihnen sein würde, und voller Bedauern darüber, legte er seine Hand auf die blassroten Lippen und sah eine Sekunde später in zwei erschreckt aufgeschlagene Augen, in denen er unter anderen Umständen vielleicht ertrunken wäre. Kaum hörbar flüsterte er: »Doktor Van Helmont schickt mich!«
Er spürte, wie sich ihr Mund bewegte, fühlte die Wärme ihres Atems in seiner Hand und genoss beides so sehr, dass er noch hinzufügte: »Ich habe eine Medizin für Sie.« Langsam zog er dann die Hand weg, legte nur noch einmal kurz den Finger auf ihre Lippen.
Sie verstand und fragte ebenfalls flüsternd: »Wer sind Sie? Wie sind Sie hier hereingekommen?« Ihre Stimme war ein wenig verschlafen, nachtrau, und während sie sich räusperte, zeigte er wortlos auf die seitliche Tür.
»Wenn Chalil Sie hier findet, wird er Sie umbringen!«, flüsterte sie, und ihre Augen waren nun groß vor Angst. Ihre Besorgnis schmeichelte ihm beinahe, und er lächelte ein wenig. Dann zog er das – wie er fand – ziemlich große braune Medizinfläschen hervor, Van Helmonts letzte Arznei.
»Ich soll Ihnen das hier geben.«
»Warum kommt der Doktor nicht selbst?«
Er hatte eine Weile überlegt, was er auf diese Frage antworten würde, und um ihre Lage nicht noch verzweifelter zu machen, sagte er: »Der Doktor musste in Kapstadt von Bord gehen. Er lässt Sie grüßen.«
Mit einem Kopfnicken nahm sie die Arznei an sich. »Was muss ich tun?«
»Trinken Sie davon, so viel Sie können. Trinken Sie nichts anderes und essen Sie nichts anderes, zwei Tage lang.«
»Und es wird helfen?«
»Ja. Aber es schmeckt scheußlich.« Mit Befriedigung sah er, dass er ihr ein Lächeln entlockt hatte, obwohl es über ihr Gesicht huschte wie gejagt.
»Danke«, flüsterte sie noch leiser als bisher, fast als hätte sie es nur gedacht. Sie umklammerte das Fläschchen mit ihrer schmalen Hand und ließ beides unter der Bettdecke verschwinden.
Gowers nickte. Dann holte er Alice im Wunderland aus seiner Jackentasche und legte es lächelnd auf ihr Bett. »Außerdem bringe ich Ihnen Ihr Buch zurück!«
Sie runzelte die Stirn, sah das Buch an und schüttelte dann den Kopf. »Das ist nicht mein Buch.«
»Hm …« Er wunderte sich ein wenig. Dann musste es wohl der Gouvernante gehören, deren leise Atemzüge von nebenan zu hören waren. Gowers nahm das Buch wieder an sich und legte es beim Hinausgehen auf eine der Kisten. Und allein der ruhelose Ermittler in ihm stellte eine letzte Frage.
»Was bedeutet Mrs. M. W.?«
»M. V.«, erwiderte das Mädchen todmüde. Dann sank sie erschöpft in die Kissen zurück, starrte in weite Fernen und murmelte wie für sich selbst: »Maharani Vidyapati Thakur …«
Da konnte ja nun wirklich niemand drauf kommen, dachte Gowers und schlich sich so lautlos und spurlos hinaus, wie er gekommen war, indem er die Gepäckstücke, die die Tür verbarrikadierten, immer wieder zentimeterweise von außen nachzog. Aber noch lautloser öffnete sich die erste Tür der Kabinenflucht, und ein schmales, dunkles Auge sah ihn vorüberschleichen, zurück in den finsteren Bauch des Schiffes.
121.
Es war wieder geschehen, zum zweiten Mal; kaum war der indische Aufstand niedergeschlagen, wurden die Truppen-und Materialtransporte auf den Subkontinent eingeschränkt, die Zahl der aktiven Offiziere stark reduziert, und Mad Hatter stand wieder mit leeren Händen da. Zu jung für den Ruhestand und zu alt für den aktiven Dienst in kommenden kriegerischen Auseinandersetzungen. Er war auch wieder verwundet worden, diesmal am Bein. Ein fanatischer, von welchem Rauschgift auch immer halb wahnsinniger Sepoy-Meuterer war mitten in ihre Reihen gesprungen und hatte ihm ein Bajonett durch den Oberschenkel gestoßen, ehe er mit acht Kugeln im Leib zusammenbrach.
Nur eine Fleischwunde, hatten die Ärzte schon im Feldlazarett gesagt, und das hatte höhere Ehren, das Viktoriakreuz vielleicht oder eine kleine Versehrtenrente, verhindert. Aber Muskeln und Sehnen waren schlecht verheilt und noch mehrmals gerissen. Seither musste er praktisch bei jedem Schritt das leichte Anheben des Knies willentlich herbeiführen, befehlen, es ging nicht mehr unwillkürlich. Er verbarg dieses Handicap mit großer Anstrengung vor seiner Umgebung. Aber wenn er auf andere Dinge konzentriert war, zog er leise schleifend das verletzte Bein nach, wie ein alter Mann.
Die Jahre 1860 und 61 waren die schwärzesten seiner Laufbahn, und die Suche nach Napoleons Schatz war in dieser Zeit kein harmloses Steckenpferd mehr, sondern wurde zur fixen Idee. Dieser Preis stand ihm zu! Er fuhr sogar nach Frankreich deswegen, sparte sich die Reise nach Paris vom Mund ab und betrachtete es als persönlichen Affront, als er in der Bibliothèque Nationale einen alten Bekannten traf.
Charles Turner war jetzt knapp über dreißig, aber noch immer herausfordernd blond, lockig, sommersprossig und jungenhaft. Er erkannte den Mann sofort, der da über zwei Bände Montholon gebeugt an einem seiner Körpergröße Hohn sprechenden Lesetischchen saß und ihn noch nicht bemerkt hatte. Kurz überlegte der Leutnant, ob er nicht still und leise wieder verschwinden sollte, aber auch ihn hatte diese Reise den gesamten Urlaub gekostet, den er als Ausbildungsoffizier in Friedenszeiten bekommen konnte. »Hipp, hipp«, sagte er deshalb und schob sich mit einem möglichst gewinnenden Grinsen ins Blickfeld seines erst erstaunten, dann verärgerten, schließlich aber doch amüsierten Konkurrenten.
»Sie also auch!«, stellte Turner fest.
»Höchstselbst!«, erwiderte sein Gegenüber.
»Silence!«, zischte es von einem der umliegenden Tischchen, wo ein unbekannter französischer Gelehrter in Leben und Werk Théodore Agrippa d’Aubignés einzudringen versuchte. Daraufhin schlug der lesende Offizier krachend sein Buch zu und fragte laut: »Darf ich Sie zu einem Glas Wein einladen, Herr Kamerad?«
»Wäre mir eine Ehre, Sir!«, erwiderte der Leutnant, wobei er die Hacken zusammenschlug, und als der erboste kleine Franzose sich umdrehte, sah er nur noch zwei englische Kriegskameraden, die sich und ihn so verschlagen angrinsten wie Schuljungen, die bei nächstbester Gelegenheit einen verheerenden Anschlag auf die Würde ihres Lehrmeisters verüben würden.
Hinterher wusste er alles, was auch der Leutnant wusste. Alle Namen, den Kenntnisstand jedes Einzelnen und wer wo überall schon gesucht hatte oder noch suchte. Fast eine kleine Geheimgesellschaft war da entstanden, während er im Krieg gewesen war; sehr lose und stets misstrauisch assoziiert, deren Mitglieder sich meist wie zufällig trafen und dann mit dem zähen, leicht selbstironischen Fanatismus passionierter Bücher-oder Schmetterlingssammler einander den Mund wässrig machten. Bei manchen lagen, mit zunehmender Erfolglosigkeit und abnehmenden finanziellen Mitteln, die Nerven blank. Die gaben es auf oder wurden wieder vernünftig. Und auch der Leutnant versprach nach einem ausführlichen Abendessen und mehreren Flaschen Wein, das Feld zu räumen. Ein Hasenfuß! Schon auf der Krim und nun auch, laut eigener Aussage, in Indien immer erfolgreich bemüht gewesen, sich weitab vom Schuss aufzuhalten. Und so etwas war nun Ausbilder mit vollen Bezügen.
Hartnäckig war ein Kolonialbeamter namens Thompson, der angeblich sogar eine Reise nach St. Helena ins Auge gefasst und nur wegen fehlender Mittel wieder aufgegeben hatte. Ein Einziger, Aufklärer, Kartenzeichner, hatte den Gerüchten zufolge die Archivrecherchen bereits abgeschlossen und konkretere Schritte auf dem Weg von Waterloo nach Paris unternommen. Für die meisten war es nach wie vor nur ein Hobby, eine Liebhaberei. Nur Mad Hatter beschloss in dieser Nacht, allein in seinem kleinen Pensionszimmer, dass Napoleons Schatz, ob vorhanden oder nicht, sein Eigentum war, das er nicht zu teilen gedachte und mit allen Mitteln verteidigen würde.
Nachdem er wenig später das Schiff entdeckt und seine Geschichte erforscht hatte, kostete es ihn noch fast zwei Jahre hartnäckiger Wühlarbeit, zahllose Eingaben, Petitionen, Fürsprachen, bis er an Bord und endlich auch wieder auf See war.
122.
Es war ein Spätsommertag, dessen schwere, kraftstrotzende Schönheit man atmen konnte. Die Leinen der Takelung schnurrten in einem schon frischen, aber noch nicht schneidenden Wind. Männer aller Hautfarben trugen Nahrung, Frachtgut, Ballast über mehrere breite Ladeplanken auf den Rücken des Schiffes, in seinen Bauch.
Auf einem Fass, ein Bein lässig aufgestellt und bequem an einen Stapel großer Holzkisten gelehnt, saß ein baumlanger Kerl von ungefähr vierzig Jahren, mit feuerroten Haaren, die sich auf der Stirn schon merklich gelichtet hatten. Er überwachte das Laden mit Blicken, die schläfrig schienen. Ben hielt ihn für den Kapitän, schlich eine Weile unschlüssig um ihn herum und blieb schließlich mitten in seinem Blickfeld stehen.
»Was willst du, Junge?«, fragte der Mann, und es klang eher so, als hätte er gesagt: »Verschwinde von hier!«
»Ein schönes Schiff, Sir«, sagte Ben, der glaubte, mit einem Kompliment weiterzukommen.
»Wirklich?«, antwortete der Mann ironisch. »Also jetzt, wo du’s sagst … Ja, sie ist eigentlich ganz hübsch.« Einige der Leute lachten leise über diese Bemerkung ihres Offiziers, woraus ein erfahrenerer Beobachter als Ben geschlossen hätte, dass er ein Mann war, den man respektierte, aber nicht fürchtete.
»Wohin fährt das Schiff?«, fragte der Junge schüchtern, und sein Blut begann laut in den Schläfen zu klopfen.
»Westindien«, knurrte jetzt wieder der rothaarige Seemann.
Ben schluckte seine Aufregung herunter, verschränkte die Arme vor der Brust, damit sein Herz nicht herausfiele, und sagte ruhig: »Ich würde gern anheuern, Sir.« Und nach einigen Sekunden, als er glaubte, der Mann hätte ihn nicht verstanden oder gehört, wiederholte er noch einmal: »Ich möchte anheuern!«
»Deine Mutter wird dir den Arsch versohlen«, war die bedächtige, aber bestimmte Antwort.
»Meine Mutter ist tot, Sir.«
Der Mann sah ihn jetzt zum ersten Mal wirklich an, musterte ihn von oben bis unten, und Ben richtete sich unwillkürlich auf, um dem Blick standzuhalten.
»Zu klein!«, entschied der Seemann knapp und stand auf, um den Jungen einzuschüchtern. Tatsächlich überragte er Ben um fast einen Meter und reckte sich ausführlich, um es ihn noch deutlicher fühlen zu lassen. Legte aber auch zwei Hände auf die Hüften, die, obwohl stark und fest, doch eher einem Gelehrten gehörten als einem Seefahrer. »Hörst du nicht? Du bist zu klein! Verschwinde endlich!«
Es traf ihn wie ein Schlag, und wie ein Schlag weckte es seinen Zorn. Auch Ben legte die Hände auf die Hüften und sagte herausfordernd: »Ich bin stark, Sir!«
Der Mann verlor allmählich die Geduld, ging ein paar Schritte weiter weg und murmelte dabei: »Noch ein Wort, und ich versohl dir den Arsch. Hau ab!«
»Ich kann gut arbeiten.«
»So siehst du aus!« Keine Schuhe, schmutzig und verlaust, die Augen entzündet, in Lumpen gehüllt, einen klaren Weg in den Abgrund vor sich. Immer wieder kamen solche Jungen, manche größer, manche kleiner, die Schwindsucht schon in den Knochen, und taten so, als könnten sie dem Teufel ins Maul spucken. Und dieser da müsste sich sogar dazu auf die Zehenspitzen stellen! Gut zu wissen, was da zu tun und zu sagen war.