177531.fb2 Tod auf der Northumberland - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 45

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Der rothaarige Offizier trat gegen einen Haufen Säcke, die noch nicht verladen waren, und sagte, wohl wissend, dass das unmöglich war: »Wenn du so einen Sack an Bord tragen kannst, bist du angeheuert.«

Ben sah sich die Säcke an, auf denen Newcastle Trading stand und von denen jeder einzelne größer war als er selbst. Er zog ein wenig an einem Zipfel, aber genauso gut hätte er versuchen können, die Erde selbst hochzuheben. Es waren beinahe zwei Zentner, selbst erwachsene Männer trugen sie zu zweit, wenn es irgendwie ging. Der Rothaarige drehte sich nicht mal um, um zu sehen, wie der geschlagene Junge davonschleichen würde. Ben legte eine Hand auf den groben Stoff und fühlte vertraute Formen, Ecken, Kanten, Spitzen. Es war Kohle.

Als er auf die Knie fiel, lachten einige der Männer laut. Danach achtete niemand mehr darauf, wie Ben, fast auf dem Bauch liegend und links und rechts Staub aufwerfend, unter einen der schweren Säcke kroch, der halb an den anderen lehnte. Aber schon als er auf Händen und Knien war, starrten alle wieder auf das ungewöhnliche Schauspiel, und es lachte jetzt niemand mehr.

Er verschwand beinahe unter seiner Last, als er endlich stand, das entsetzliche Gewicht drückte seinen Kopf, sein Gesicht bis auf seine Knie hinunter. Die großen Adern am Hals, auf den Händen schwollen an, und es wurde totenstill auf dem riesigen Pier.

»Lasst ihn durch! Macht ihm Platz!«

Ben hörte nur noch die Stimme, aber er sah den Offizier nicht mehr. Sah nur noch den Boden und seine nackten Füße durch die Blitze, die hinter seinen Augen zuckten. Langsam, unendlich langsam tastete er sich vor, hob kaum die Füße, scharrte nur, schob den Staub zusammen, der schnell seine nackten Zehen bedeckte, und kam doch allmählich vorwärts. Wäre er hingefallen, die ungeheure Last hätte sein Rückgrat zerbrochen unter den nachlassenden kleinen Muskeln.

Die Planke, die ihm eben so breit vorgekommen war, lag jetzt vor ihm, schmal wie ein Faden, nur eine Hühnerleiter. Darunter das ölig schillernde Wasser schmatzte, leckte zu ihm herauf. Es ähnelte den Geräuschen eines fetttriefenden Mundes.

Ein Schwanken, ein falscher Tritt, und es würde zu Ende sein. Er würde bis zum Mittelpunkt der Erde sinken, er fühlte den weichen Schlick schon in seinem Gesicht und blieb hoffnungslos stehen. Da senkte sich plötzlich das Schiff in den anschlagenden Wellen, als wollte es ihm helfen, ihn einladen, und er stand auf der Planke. Sonnenstrahlen spiegelten sich auf dem Wasser, trafen seine Augen, kitzelten ihn unter der Nase. Die Wellen wiegten ihn, fast wurde der Sack dabei leichter.

Aber oben wartete ein unüberwindliches Hindernis auf ihn, die Stufe hinunter auf Deck, die er unmöglich gehen konnte, denn für den Bruchteil einer Sekunde hätte er dazu auf einem Bein stehen müssen. Er war müde, er würde stürzen, der Sack würde sein Genick brechen, seinen Schädel knacken wie ein Vogelei.

Er fühlte, wie seine Beine wegrutschten, wie er fiel, auf dem Deck aufschlug. Aber seine Last fiel nicht mit ihm. Der Offizier, der ihm zuletzt mit schnellen Schritten gefolgt war, hielt den Sack fest, warf ihn neben dem Schanzkleid zu Boden.

An allen Gliedern zitternd vor Anstrengung, zog sich der Junge auf ein Knie hoch. Er wäre gleich wieder umgefallen, wenn ihn der Mann nicht am Kragen gepackt hätte.

»Vorsicht, Sir. Er hat bestimmt Läuse!«, rief eine belustigte Stimme.

»Ja, er hat Läuse«, murmelte der Offizier, der ihn festhielt. »Und er hat Courage, verdammt noch mal! Wie heißt du, du Zwerg?«, fragte er laut.

Der Junge sah nur noch zuckende Blitze, Sonnenstrahlen in der Dunkelheit hinter seinen Augenlidern. Und das letzte Wort seiner Mutter klang gellend in seinen Ohren.

»John«, keuchte er, »John Gowers.« Und während er die Nase hochzog, fragte er keck zurück: »Und wie heißen Sie?«

Der Offizier lachte dröhnend auf ihn herab, aber es war kein ironisches Lachen mehr. »First Lieutenant Robert McClure«, sagte er. »Willkommen an Bord, Master Gowers. Geh jetzt nach achtern und sag dem Koch, er soll dir was zu essen geben. Und ein paar Ohrfeigen, damit du lernst, wie man mit einem Offizier spricht!«

Taumelnd ging er nach hinten, tastete sich an der Reling entlang. Es sah aus, als müsste er sich stützen. Und nur der Junge wusste, dass es ganz anders war. Dass er sich festhalten, festklammern musste, weil er so leicht war. Leicht wie eine Feder, die der Wind fortträgt.

123.

Auf der ersten Reise hatte er an Bord noch nicht systematisch gesucht, jedenfalls nicht bis St. Helena. Als er dort ankam, war Longwood House zu seiner großen Enttäuschung bereits in französischem Besitz; sehr schwer, da oben herumzustöbern. Aber Mad Hatter hatte viel darüber gelesen und noch mehr darüber nachgedacht und war inzwischen davon überzeugt, dass der Schatz nie auf St. Helena gewesen war. Wie hätten die Verbannten das auch anstellen sollen? Die Generalsfrauen, letzten Mätressen des Kaisers von Frankreich mochten bisweilen einzelne Diamanten aus ihren Miedern und Dessous hervorgeholt haben. Vielleicht, um eine mögliche Flucht Napoleons von St. Helena zu finanzieren, vielleicht auch nur als Symbol für vergangene, bessere Tage, er wusste es nicht. Nur dass der französische Staatsschatz schlecht zwischen ihren Brüsten, Schenkeln, Achselhöhlen Platz gefunden hätte, war Fakt.

Er war ein nüchterner Mann und hielt sich viel darauf zugute, dass er Menschen und Situationen meist zuverlässig im Voraus berechnen konnte. Natürlich war das ein Vergnügen, waren das Triumphe, die er mit niemandem teilen konnte. Er legte sogar Wert darauf, dass man ihn in dieser Hinsicht unterschätzte, denn das gab ihm Macht über seine Umgebung, ohne dass sie es wusste. Er beobachtete, wartete ab. Und wenn niemand mehr damit rechnete – aus Bequemlichkeit, einfach, weil die Menschen irgendwann aufhören wollen zu rechnen, zu planen –, machte er seine Züge, legte er die Bahnen fest, in denen sich die Dinge bewegen mussten.

Auf See, im dunklen Schiffsbauch, suchte er nicht nach einem Schatz. Er suchte einen Namen, ein Codewort, einen Kassiber vielleicht oder eine Karte. Das seltsame Frauenzimmer, die Witwe Abell mit ihrem Maßband und ihren Büchern, mer, die Witwe Abell mit ihrem Maßband und ihren Büchern, hatte ihn erst darauf gebracht: Gab es nicht zahllose Verstecke an Bord für die wenigen Buchstaben, für das eine Wort? In die Planken geritzt, beim Kalfatern versteckt, zwischen Teer und Werg verborgen? Jetzt, nachdem alle Hindernisse beseitigt waren, konnte er die Suche auch wieder mit der Systematik betreiben, von der er nie abwich. Sein Leben lang war er klaren Konzepten gefolgt, wenn er auch selten wusste, wohin. Aber wer weiß das schon?

Gowers hatte Lucias Zeichnungen in sein Gedächtnis geprägt und wusste genau, wo die improvisierten Kabinen der Bertrands, Montholons, der Las Cases’ und vieler anderer vor einem halben Jahrhundert gewesen waren. Er wusste, wo der Mörder früher oder später auftauchen würde, und er wusste jetzt auch, dass er einen Verrückten jagte. Musste man nicht verrückt sein, um für ein Hirngespinst zu morden?

»Die Verrücktesten kommen auf diese Insel«, hatte Lucia gesagt, aber sie hatte unrecht. Die Verrücktesten suchten an Bord der Northumberland nach Hinweisen auf ein Vermögen, das seit mehr als fünfzig Jahren aufgezehrt war, buchstäblich verzehrt.

»Die Armee marschiert auf ihrem Bauch.« Dieser Satz wurde dem General Wellington zugeschrieben, aber keiner kannte ihn besser als der General Bonaparte, der erste Konsul von Frankreich, Napoleon I., der große Korse. Und was immer er erbeutet oder gestohlen haben mochte in zwanzig Jahren, in Italien, Ägypten, Spanien, Russland, er hatte es wieder in diesen unersättlichen Bauch gesteckt, um noch mehr zu stehlen.

Sicher, er hatte seine Mutter versorgt, seine Brüder und Schwestern, Josephine hatte viel ausgegeben, aber er, die korsische Halbwaise, auf einer Kanone groß geworden? Er war arm geblieben wie Cäsar, als er den Rubikon überschritt. Musste Kriege führen, weil man im Frieden seine Rechnungen geprüft hätte, hatte sich zum Kaiser gekrönt, um dem Schuldgefängnis zu entgehen.

Aut nihil aut Caesar11 – über diesen Satz lachten sie wahrscheinlich schallend im Pantheon der Piraten, schlugen sich Alexander, Wallenstein, Wilhelm der Eroberer, Napoleon und der große Julius selbst vermutlich auf die Schenkel oder stießen einander in die bleichen Gerippe, weil nur sie wirklich die profane Wahrheit kannten, die darin steckte.

124.

Inzwischen kannte Mad Hatter die Laderäume der Northumberland auswendig. Dennoch benutzte er jetzt, wo endlich wieder Ruhe eingekehrt war, eine kleine Laterne, um systematisch alle Ritzen und Wände abzuleuchten auf der Suche nach seinem Zauberwort. Obwohl oder gerade weil er auf seiner ersten Reise buchstäblich nichts gefunden hatte, waren sein Misstrauen und seine Eifersucht dabei so groß geworden, dass er anfing, seine möglichen Konkurrenten zu beseitigen. Jackson in Paris, Turner in Brighton, drei hier an Bord.

Waren es nicht auch überdeutliche Anzeichen einer Verschwörung, dass Thompson und Vivés beinahe gleichzeitig an Bord der Northumberland aufgetaucht waren? Konnte das Zufall sein? Viel wahrscheinlicher war doch, dass seine Anwesenheit auf dem Schiff sich herumgesprochen hatte und dass die Geier kamen, um sich zu holen, was ihm gehörte. Auch wenn es bisher lediglich eine Idee war, die vor ihm noch keiner gehabt hatte.

Samuel Thompson? Ein übler Verräter. Gleich am ersten Abend an Bord war er in seine Kabine gekommen und hatte gewagt, ihm zu drohen. Wollte ihn bloßstellen, aller Welt von diesem Wahnsinn erzählen, und war doch selber so nackt in seiner Habgier, dass er auf St. Helena den Gouverneur spielen wollte.

Der Franzose? Ein erbärmlicher Schwätzer. Ein Narr, der sein Leben nicht lebte, sondern immer nur davon redete, es irgendwann zu leben. Der Junge? Er wusste nicht, was der Junge wusste, herausgefunden oder erzählt hatte, hier musste er einfach auf Nummer sicher gehen. Und musste nicht die Art seiner Morde – nach Seerecht – alle möglichen Mitwisser abschrecken? Er wusste nicht, wer die Mitwisser waren. Daniel Thompson und den fetten Kaufmann hatte er im Verdacht, aber beide waren in Kapstadt von Bord gegangen, und auch den alten Schnüffler war er dort losgeworden. Nur er war übrig geblieben. Er wusste nicht, ob es einen Schatz gab, ein Ziel all dieser Taten. Aber wenn es eines gab, gehörte es ihm, allein ihm.

Das Irrlicht war jetzt nur noch etwa sieben Meter von Gowers entfernt und beleuchtete die Silhouette einer hochgewachsenen Gestalt, die er nur von hinten sah. Aber er wusste, wusste aus dem Archiv in Kapstadt, aus Lucias Bericht und nach vielen, vielen Überlegungen, Kombinationen, wer da weit nach Mitternacht im Bauch des uralten Schiffes rumorte. Er schlich lautlos ein paar Schritte näher heran. Das Messer zitterte in seiner Hand bei dem Gedanken, diese Kreatur von hinten zu töten, binnen einer Sekunde, ehe sie wusste, wie ihr geschah. Aber wem würde das Frieden bringen?

»Guten Abend, Kapitän!«, sagte John Gowers.

125.

Radcliffe fuhr mit einem kleinen Sprung herum, und es freute Gowers bereits, den schweren Mann so erschreckt hopsen zu sehen wie ein kleines Mädchen. Aber der Kapitän fing sich schnell wieder.

»Guten Abend, Mr. Thompson. Sie haben die unangenehme Eigenschaft, mehr Leben zu besitzen als normale Menschen. Ihre Mutter war eine Katze, nehme ich an?!«

»Meine Mutter war eine Pfarrerstochter aus Benwell am Tyne«, erwiderte Gowers, »und ich heiße nicht Thompson!«

»Die Sikhs sind auch nicht mehr, was sie mal waren«, schnaufte Radcliffe verächtlich, um das Thema zu wechseln. »Als wir sie 49 massakriert haben, hätten Sie sie sehen sollen! Heulende Teufel und gingen heran, als wären sie nicht aus Fleisch und Blut. Liefen die Hänge herunter wie Regentropfen an einer Glasscheibe. Sie haben ihn umgebracht, wie?«

»Ich bedaure, dass ich für diese Fehlinvestition ihrerseits verantwortlich bin, ja.«

»Alles muss man selber machen«, sagte der Kapitän und zog eine Pistole aus seinen weiten Manteltaschen, mit der Gowers nicht gerechnet hatte.

Unlogisch, dachte der Investigator enttäuscht. Eigentlich hätte der Mann sich jetzt sicher fühlen müssen. Aber insgeheim wusste er, dass ihn seine Jagd ganz zuletzt so leichtsinnig gemacht hatte, dass er vergaß, wie schnell man vom Jäger zur Beute werden kann.

»Das haben Sie schon einmal versucht, Sir«, sagte er so gelassen wie möglich.

»Nein, schon öfter. Aber geklappt hat es offenbar nur bei dem alten Quacksalber«, verbesserte Radcliffe.

Es blitzte in Gowers Augen, aber der eher ruhige als spöttische Blick des Mörders sagte ihm, dass der Hohn wohlüberlegt war. Radcliffe wartete nur darauf abzudrücken, und wenn es wie ein Kampf aussah, würde er weniger Schwierigkeiten haben, die Situation zu erklären. Von mir würde dann nichts weiter übrig bleiben als die Leiche eines blinden Passagiers, dachte Gowers und wusste gleichzeitig, dass er nur noch eine Chance hatte, wenn es ihm gelang, die Lampe zu löschen. Ein Tritt, ein Sprung – er würde mindestens eine Kugel abbekommen, aber mit etwas Glück wäre sie nicht tödlich und der Mörder in seiner Hand!

Der Kapitän schien seine Gedanken zu lesen und machte vorsichtig ein paar Schritte nach hinten und zur Seite, bis eine riesige Teekiste zwischen ihnen stand. Gowers konnte deutlich den Firmennamen lesen, der in die Seitenwand eingebrannt war, und fragte sich, wer eigentlich verrückt genug war, Tee nach Indien zu liefern.

»Sie wissen natürlich, dass alles ganz sinnlos ist«, sagte er, vielleicht von dieser Beobachtung inspiriert. »Es gibt keinen Schatz!«

»Vielleicht nicht, vielleicht doch«, erwiderte der Kapitän ungerührt. »Und wenn es ihn gäbe, wäre keine einzige meiner Handlungen sinnlos, sondern …«

»Völlig logisch«, ergänzte Gowers. »Ich verstehe auch beinahe alles. Ich nehme an, Louis hat Sie auf den Gedanken gebracht.«

»Uns beide, Thompson und mich. Und noch ein paar andere. Erzählen konnte er wirklich gut.« Radcliffe lächelte in der Erinnerung. »Darin war er groß. Aber er hatte auch ein gutes Thema, wissen Sie. Einen Friedhof, eine geheime Gruft, unterirdische Gänge, er hat sich da leider nie so genau festgelegt. Aber wer immer den Plan kennt, den Namen, der auf dem Grabstein steht, erbt den Reichtum zweier Kontinente.« Das Lächeln wurde ironisch.

»Sie glauben selbst nicht daran?«, fragte Gowers.