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»Nun, Doktor, ich könnte auch fragen: Hat mein Vater lange gelitten? Aber erfahrungsgemäß antwortet darauf jeder normale Arzt mit Nein. Also frage ich: War es ein Genickbruch oder eine Strangulation?«
Braddock, der diesen Sachverhalt ganz einfach nicht untersucht hatte, das aber begreiflicherweise nicht zugeben wollte, sagte: »Letztendlich ist Ihr Vater tot. Macht es da einen Unterschied ?«
»Für ihn schon«, erwiderte Gowers und dachte an die verschiedenen Hinrichtungen, die er mit angesehen hatte.
Er hatte Männer gesehen, die in den Tod hineinsprangen, würdelos aus dem Stand einen Meter hoch hüpften, um die Fallhöhe zu vergrößern, immer in der wahnsinnigen Hoffnung, sich auf diese Weise das Genick zu brechen. Den Tanz am Seil erlebt, ein fast fünfminütiges wildes Ausschlagen der Beine, Zappeln und Lufttreten eines siebzehnjährigen Offiziersmörders. Den selbstgefälligen, feisten Großmut eines Richters gesehen, als er Frau und Kindern eines verurteilten Sklaven die gnädige Erlaubnis erteilte, sich mit ganzem Gewicht an die Beine ihres Mannes und Vaters zu hängen, als letzten Liebesdienst. Schließlich das kreischende, schrille Gelächter der Frauen im Lynchmob der Draft-Riots, wenn den noch zuckenden schwarzen Männern die rosigen Zungen herausquollen.
Nur einen so friedlichen Tod durch Erhängen, wie ihn der selige Samuel Thompson angeblich gestorben war, konnte er sich einfach nicht vorstellen.
22.
Louis hatte sich mehrmals beschreiben lassen, wie der Tote dahing, denn mit Rücksicht auf die Passagiere war die Leiche, kaum entdeckt, schon im Morgengrauen entfernt worden. Er hatte Samuel Thompson nicht mehr gesehen. Aber die Tatsache, dass er hing und wo er hing, hatte ihm alles gesagt, was er wissen musste, und die einfältigen französischen Liedchen, die seine Kombüse zu einem Stück Heimat gemacht hatten, verstummten.
Der Schiffskoch hatte verstanden. Und umgab sich seither mit Menschen, achtete peinlich darauf, dass er nie allein war, und schlief nur noch wenig. Sogar seine Notdurft verrichtete er nicht mehr auf den dafür vorgesehenen Abtritten, sondern nachts, in Sichtweite der Rudergänger und Wachen.
Es war der Abend nach der Bestattung und mochte Mitternacht sein, als er deswegen noch einmal hinaufmusste. Schlafmangel und die schlechte Luft im Mannschaftsquartier ließen ihn taumeln, aber die frische Brise an Deck brachte ihn zu sich, und er erledigte es rasch, während seine deutlich jüngeren Kameraden die derben alten Scherze von »Fallen-Anker« bis »Land-in-Sicht« machten. Er musste selbst lachen, und das vertrieb ein wenig die Furcht, die ihn gepackt hielt, seit er, fast gleichzeitig mit Thompson, an Bord gekommen war. Die zu Entsetzen geworden war, als Thompsons Leiche an diesem Morgen von der eingeseiften Planke in den Atlantik rutschte.
Er ging noch eine Weile an Deck umher, denn er fühlte, wie die Nachtluft seinen Kopf wunderbar klar machte. Was, wenn er in New York von Bord ginge? Wenn er es endlich aufgäbe, hinter sich ließe, noch einmal ein neues Leben begänne? Aber dann war ihm wieder, als sähe er auf den Decksplanken eine kleine Gestalt umherstapfen, das Gespenst eines toten Mannes, das ihm in der alten, vertrauten Sprache noch einmal sein Geheimnis ins Ohr raunte.
Gefährlich? Tödlich? Es war immer gefährlich gewesen, auch tödlich, schon als es nur eine Geschichte war und sogar ehe er selbst sie kannte. Gott allein wusste, wie viele Menschen dafür gestorben waren, es konnten Hunderttausende sein. Der Schiffskoch hatte wieder das Gefühl, auf der Spitze eines Berges zu stehen – eines Berges von Toten, deren Erbe er war. Er ließ sich neben dem Schanzkleid nieder, um nachzudenken, und erwachte, weil ein breiter Schatten auf ihn fiel, der dunkler war als die mondlose Nacht. Er fuhr hoch und hoffte, es sei nur ein scheußlicher Traum, aber dann hörte er wieder die Stimme, die ihn zu Beginn der Reise an Bord der Northumberland begrüßt hatte.
»Nun, alter Freund!«
Da wusste der Schiffskoch, dass er nicht mehr schlief.
»Böse Sache mit Thompson«, fuhr die Stimme fort. »Jackson und Turner sind auch hin.«
Der Koch zitterte, die Wachen waren weit achtern. Er hatte von Jackson gehört, nur ein Gerücht, und es hatte ihn nicht abgehalten. Dass auch der fröhliche, etwas feige, sommersprossige Leutnant tot war, erfuhr er erst jetzt.
»Wir sind die Letzten«, sagte die Stimme. »Übrig geblieben, nur noch wir beide!«
Der Franzose nickte zitternd, schluckte, wollte etwas sagen, als das Seltsame geschah. Der Schatten wich von ihm, drehte sich um, und ein hochgewachsener Mann, aber eben nur noch ein Mann, trat an die Reling und schaute aufs Meer hinaus.
»Nur noch wir beide, Louis. Und die See!«, murmelte er gedankenverloren und reichte dem Koch eine halb volle Flasche mit Rum, die er aus einer seiner weiten Manteltaschen nahm. Louis trank einen Schluck und wollte die Flasche zurückgeben, aber der Mann hatte ihm schon wieder den Rücken zugedreht.
»Erzähl mir noch einmal die ganze Geschichte«, sagte er und vertiefte sich in einen Horizont, den man nicht sah.
23.
Für jemanden, der auf einer Insel geboren wurde, hatte er sich zeitlebens nur wenig für Schiffe interessiert. Sie waren bestenfalls geräumige, selten bequeme Beförderungsmittel für Menschen und Material, und der Wind, der sie antrieb, war kostenlos. Aber damit waren auch schon all ihre Vorteile genannt.
Da lag man bei Sonnenschein in Sichtweite einer grünen Küste, konnte beinahe hinüberspucken, und ein fassbäuchiger Kapitän erklärte, dass man leider noch etwa zwei Tage gegen den ablandigen Wind kreuzen oder einen halben Tag auf die Flut warten müsse, um an Land zu kommen! Vor allem diese Abhängigkeit von den blinden Naturkräften hatte ihn an Schiffen von jeher gestört. Erst jetzt, 1815, im letzten europäischen Hafen, den er je sehen würde, fiel ihm auf, dass sie schön waren.
Er hatte – wo war das gewesen, in Madrid? Dresden? am Wiener Hof? – ein paar Gemälde der alten flämischen Meister gesehen. Seestücke, Schiffe mit geblähten Segeln unter dräuendem schwarzem Gewölk, triumphale Ausfahrten mit wehenden Flaggen oder stille Hafenszenen, ganze Wälder von Masten in Abendlicht getaucht. Sie hatten ihm nichts gesagt. Gemälde, auf denen keine Personen zu sehen waren, langweilten ihn, wie ihn eine Welt ohne Menschen gelangweilt hätte.
Aber der Anblick dieses Hafens mit den riesigen britischen Linienschiffen, den Prisen – erbeuteten französischen Fregatten, Brigantinen, Korvetten –, den kleineren Handelsschonern, vorüberziehenden Kuttern, den hin und her jagenden Gigs, faszinierte ihn. Die verschiedenen Arten der Takelung, die unterschiedlichen Nationalitäten, die Flaggensignale von Schiff zu Schiff waren wohl ein Gemälde wert. Und auf diesem Gemälde wäre sogar ein Mensch zu sehen, dachte er befriedigt. Nicht in Person, sondern als Anlass für all dieses Gewimmel; so wie ein Feldherr in den Bewegungen, Manövern einer nach Tausenden zählenden Armee deutlich zu erkennen war. Denn all diese Schiffe, sagte er sich, waren seinetwegen hier.
Er hatte alles geduldig ertragen, die Durchsuchung seines Gepäcks, ja sogar seiner Wäsche. Es hatte ihn ein bisschen amüsiert, denn dort war ohnehin nichts zu holen. Dreitausend Louisdor hatte man die Engländer finden lassen, damit sie zufrieden waren. Aber er hatte zweihundertfünfzigtausend Francs in Gold unter seine Leute verteilt, soweit er wusste, war es in den Gürteln versteckt. Außerdem Wechselbriefe und Wertpapiere. Die Diamanten trugen die Frauen am Körper verborgen.
Der englische Admiral behandelte ihn wie einen Gleichgestellten, achtete aber doch peinlich genau darauf, den Dreispitz in seiner Gegenwart nicht länger als unbedingt nötig zu lüften. Es war eine grimmige Freude, ihn dabei zu beobachten. Wie er errötete, wenn er eine Sekunde zu lange barhäuptig dastand, vor all seinen Männern. Vierhundert Seeleuten, zwei Kompanien des 53. Infanterieregiments, den Offizieren, englischen und französischen. Dazu drei Ärzte, zwei Dolmetscher, ein Pfarrer.
Es waren tausendundachtzig Menschen an Bord, einschließlich der Passagiere. Und alle, alle, vom Schiffsjungen bis zum Admiral, hielten ihn für eine Art Menschenfresser, für einen Teufel in Menschengestalt. Zu seiner Einschiffung waren sogar etliche Parlamentsmitglieder angereist und hatten ihn angestarrt wie ein Raubtier im Käfig. Vae Victis!1
Die Unterbringung war natürlich empörend, eine Kabine von zwölf Quadratmetern, den Salon musste er mit den Offizieren teilen, mit dem Admiral und dem Kommandanten zu Abend essen. Unter Deck sah es angeblich noch schlimmer aus; Madame Bertrand musste neben einer Kanone schlafen und vertrug die Seereise überhaupt schlechter als alle anderen.
Bertrand sprang hinauf und hinunter; die Kinder, zwei Jungen, ein Mädchen, liefen auf Deck den Matrosen durch die Beine und waren bald mit allen gut Freund, was vielleicht daran lag, dass die englischen Midshipmen selbst fast noch Kinder waren, die wenigsten über zwanzig Jahre.
Zuletzt ein bemerkenswertes und grausiges Schauspiel, als er den Hafen verließ, um nie mehr zurückzukehren: Eines der Begleitschiffe, die Havannah, Ceylon, Bukephalus, Zenobie, Zephyr, Redpole, Ikarus, Ferret oder Peruvian, hatte eine Barke gerammt, die sich zu dicht an die Northumberland herangewagt hatte. An Bord eine Frau, ein Kind, ein Diener. Sie war fast augenblicklich gesunken, untergegangen wie ein Stein. Die Boote retteten Mutter und Kind, der Diener blieb verschwunden.
Kommandant Roß, Admiral Cockburn tobten: Warum sie so nahe herangekommen sei? Lebensmüde, wie? Verrückt, was? Und die Frau, nurmehr ein Medusenhaupt in durchnässten Kleidern, das Kind mit weit aufgerissenen Augen starrten ihn an, und die Schiffbrüchige sagte schließlich in all ihrer Jämmerlichkeit: Sie habe einmal im Leben den Kaiser sehen wollen!
Cockburn, der zufällig seinen Hut abgesetzt hatte, um sich die Stirn zu wischen, setzte ihn augenblicklich wieder auf, straffte sich und schnarrte: »Es gibt an Bord dieses Schiffes keinen Kaiser. Es gibt nur den Kriegsgefangenen General Bonaparte !«
Quod erat demonstrandum2, dachte Napoleon und zeigte mit keiner Miene, was angesichts solchen Elends in ihm vorging.
24.
Das Kind wurde am Tyne gezeugt. Nicht etwa metaphorisch »am Tyne«, also in einer bestimmten Landschaft Englands. Nicht »in einem kleinen Dorf am Tyne«, nicht in einem Haus, einer Kate. Noch nicht einmal in einem Gebüsch, sondern tatsächlich am Fluss selbst. Auf einer etwas verschlammten Sandbank auf der inneren Seite einer Flussbiegung, die trockenen Fußes gar nicht zu erreichen war. Und wahrscheinlich sofort bei ihrer ersten Begegnung.
Genau genommen war Jane dem Schotten schon zwei-oder dreimal im Dorf begegnet, beim dritten Mal auch schon nicht mehr zufällig, aber er hatte sie nicht beachtet. Für sie allerdings waren seine Größe, sein widerspenstiges schwarzes Haar, seine kräftigen großen Hände und vor allem seine Art zu gehen, die so bedächtig, beständig und sicher war, wie ein Fluss fließt, Grund genug, ein bisschen die Ohren zu spitzen.
Und so sammelte Jane in erstaunlich kurzer Zeit erstaunlich viele Informationen. Aus Quellen, die nur siebzehnjährige Mädchen kennen. Aus einem flüchtigen Wort, einer Anekdote, Andeutung, den Antworten auf Fragen nach ganz anderen Dingen.
John Williams aus Skye. Ein Assistent des verrückten Ingenieurs aus Dunbar. Dort Kohlehauer gewesen, hier auch, aber jetzt einer der Spezialisten für Tiefen, die man in Old Benwell noch gar nicht laut auszusprechen wagte. Angeblich weiter in der Erde gewesen als je ein Mann vor ihm.
Das war Jane zu riskant, zu abenteuerlich. Sie hatte zu viele Witwen gesehen, die noch kein Jahr über die zwanzig waren. Mädchen, die noch mit ihr gespielt hatten, dann Kinder bekamen und jetzt Schwarz trugen und leer geweinte Augen hatten. Und wandte sich lieber wieder ihren Büchern zu und den Briefen, die sie auf ausdrücklichen Wunsch ihres Vaters mit einigen Theologiestudenten in Edinburgh austauschte. Und denen an Barbara Branning in Liverpool, ihre beste Freundin aus fernen Kindertagen.
Dann kamen der Sommer und der Staub. Der schwarze Staub, der über den Kohlengruben aufstieg und den nicht nur die Bergleute, sondern auch die Frauen und Kinder des Landes am Tyne in ihren Haaren trugen. Den die keuschesten, ältesten Jungfrauen noch manchmal an ihrem Leib fanden. Der die Luft schwängerte, den die Säuglinge von den Brüsten der Mütter tranken.
Es war an so einem staubschwangeren Tag, Nachmittag, an dem Jane den Schotten am Fluss sah. An einer Stelle, die sie in ihrer Mädchenfantasie bisher »ihre Stelle« genannt hatte, weil sie in früheren Sommern dort häufig gelesen hatte, bis ihr die Augen zufielen. Und sie erst unter ihrem Buch erwachte, wenn die Sonne unterging oder der Wind an ihrer Haut leckte.
An diesem Tag ging kein Wind.
John Williams aus Skye war aus der Erde gestiegen, heraufgezogen worden an einem Drahtseil, das auf einer Winde lief. Die anderen Bergleute wurden noch immer an Hanfseilen oder Ketten hinab-und heraufgezogen in die Tiefe und aus der Tiefe. Aber der Schotte war viel tiefer gewesen, hatte weit unter dem Deckgebirge gestanden. Hier stockte die Bohrung. Man würde sprengen müssen.
Er war schmutzig, aber nicht schwarz vom Staub wie die Hauer. Deshalb war er auch nicht nach Hause gegangen, in das halbe Zimmer, das er als Kostgänger im Haus eines Steigers bewohnte. Er war grübelnd weit über den Rand des Dorfs hinausgegangen, bis an den Fluss, der hier eine Biegung nach Süden machte.
Ohne sich großartig umzusehen, eben wie ein Hauer unter der Erde, legte er seine Kleider ab und sprang nackt in das Wasser des Tyne, das sauberer aussah, als es war. Er schwamm eine kurze Strecke, tauchte, schaufelte sich Wasser über Kopf und Glieder, wusch den Schweiß ab und lag dann lang ausgestreckt auf einer Sandbank, nackt in der Sonne – während Jane Gowers im Schutz niedriger Bäume rot wurde, nicht weglief noch wegschaute, aber nachher ihr Buch vergaß.
Sie träumte von dem, was sie gesehen hatte. Sehr wild. Den sehnigen Armen, den langen Beinen, den schmalen, festen, sehr weißen Hinterbacken, dem muskulösen Rücken, der Brust, dem Bauch, den kleinen runden Hoden und dem kräftigen Glied.
All das war durchaus nicht neu für sie. Jane war so aufgeklärt, wie es ein siebzehnjähriges Mädchen mit fünf älteren Schwestern nur sein kann. Sie wusste, was Männer und Frauen taten, sie hatte nackte Männer auf Bildern gesehen, auf Stichen nach Caravaggio, Raffael, Michelangelo. Sie hatte sogar heimlich Ovid gelesen, mühsam alles aus dem Lateinischen übersetzt. Aber einige Vokabeln fand sie in keinem Wörterbuch, und ihren Vater konnte sie ja schlecht fragen.
Sie hatte allerdings nie einen jungen Mann nackt im Fluss gesehen, die glänzende weiße Haut in der Sonne, das Spiel der Muskeln, die funkelnden Tropfen, wenn er den Kopf schüttelte, die wilde Behaarung der Brust, der Geschlechtsteile, die dunklere Haut dort.
Mein Freund ist weiß und rot, auserkoren unter vielen Tausenden. Seine Augen sind wie Tauben an den Wasserbächen, sie baden in Milch und sitzen an reichen Wassern. Sein Leib ist wie reines Elfenbein, mit Saphiren geschmückt. Seine Beine sind Marmorsäulen, gegründet auf goldenen Füßen. Seine Gestalt ist wie der Libanon, auserwählt wie Zedern.