177533.fb2 Tod im Skriptorium - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 13

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Kapitel 11

Nachdem Mugron die Leiche Schwester Eistens ordnungsgemäß identifiziert hatte als die derselben Nonne, die er auf Salbachs Burg gesehen hatte, war er auf sein Schiff zurückgekehrt. Fidelma und Cass machten sich auf den Weg zur Abteiküche, um ihren inzwischen sehr großen Hunger zu stillen. Fidelma mußte drängen und ihre Stellung und ihre Verwandtschaft mit dem Abt betonen, um die übellaunige Schwester in der Küche dazu zu bewegen, sie mit einem Krug Ale, Gerstenbrot und kalten Scheiben von einer Rindslende zu versorgen. Auch eine Schale Äpfel fand sich noch, und sie aßen gierig und schweigend an einem kleinen Tisch in einer Ecke des nunmehr leeren Speisesaals.

Fidelma hatte nicht damit gerechnet, daß Mugron keine Übereinstimmung zwischen der Leiche und jener Schwester Eisten auf Salbachs Burg feststellen würde, aber sie wollte ganz sicher sein, daß sich Eisten auf Salbachs Burg aufgehalten hatte. Sie stand nun vor einem weiteren Rätsel, das einen gewissen Zusammenhang mit dem Mord an Dacan zu haben schien.

Und warum hatte Grella ihr verschwiegen, daß sie mit Dacan verheiratet gewesen war? Grella versuchte offenbar, etwas zu verbergen. War ihr Verhältnis zu Da-can Grund für den Mord?

Aber es gab noch mehr Rätsel. Was hatten Grella und Eisten gemeinsam auf Salbachs Burg gemacht? Und warum hatte Eisten versucht, eine Überfahrt für zwei Personen auf einem Schiff nach Gallien zu organisieren? Mit wem hatte sie nach Gallien reisen wollen? Mit Grella? Und wer hatte Eisten gefoltert und getötet?

Fidelma grübelte und grübelte.

Plötzlich merkte sie, daß Cass sie mit einem spöttischen Lächeln betrachtete.

»Was tun wir als nächstes, Schwester?« fragte er, setzte seinen leeren Alekrug ab und lehnte sich zurück, offensichtlich zufrieden mit seiner Mahlzeit.

»Als nächstes?«

»Dein Verstand hat gearbeitet wie die Wasseruhr im Glockenturm. Ich konnte es geradezu hören.«

Fidelma blickte ihn verlegen an.

»Als nächstes suchen wir Schwester Grella auf. Wir müssen feststellen, warum sie gelogen oder vielmehr mir nicht die volle Wahrheit gesagt hat.«

Sie erhob sich, und Cass folgte ihrem Beispiel.

»Ich komme mit«, sagte er. »Nach dem, was du mir berichtet hast, ist es gut möglich, daß sie eine Mörderin ist. Wir sollten kein Risiko eingehen.«

Diesmal machte Fidelma keine Einwände.

Sie suchten sich ihren Weg durch die düsteren Abteigebäude zu der dunklen, verlassenen Bibliothek. Anscheinend arbeitete niemand mehr in der kalten, lichtlosen Halle. Die Plätze waren leer, die Bücher ordentlich in ihren Taschen verstaut, und es brannten keine Kerzen.

Fidelma ging voran in das kleine Zimmer, in das Schwester Grella sie zu ihrem Gespräch geführt und in dem Dacan gearbeitet hatte. Sie stellte überrascht fest, daß ein Feuer im Kamin in der Ecke glimmte. Während Cass sich niederbeugte, um eine Kerze anzuzünden, trat Fidelma rasch zum Kamin. Sie bückte sich plötzlich und hob etwas auf.

»Was hältst du davon?« fragte sie.

Cass zuckte die Achseln, als er das kurze Stück eines angekohlten Zweiges sah, das sie ihm hinhielt.

»Ein Stock. Womit sonst macht man ein Feuer an?«

Verärgert schüttelte Fidelma den Kopf.

»Gewöhnlich macht man nicht mit solchen Stöcken Feuer. Sieh ihn dir genauer an.«

Cass tat es und erkannte, daß es ein Stück von einem Espenstab war, in den Ogham-Zeichen eingeritzt waren.

»Was bedeutet das?« fragte er.

»Es ergibt nicht viel Sinn. Dort steht: >Die Entscheidung des Ehrenwerten bestimmt die Pflegschaft meiner Kinder.< Das ist alles.«

Fidelma tat das gerettete Stück Ogham-Stab in ihr marsupium, ihren Tragebeutel, und betrachtete interessiert die Reste des Feuers.

»Jemand hat offenbar beschlossen, ein ganzes Buch zu verbrennen.« Sie sah in den Behältnissen nach, die Grella am Vormittag geprüft hatte. Ihr Verdacht erwies sich als richtig. »Dies waren die Ogham-Stäbe, die Dacan studierte. Einen Stab davon habe ich in seinem Zimmer gefunden. Ich habe ihn Schwester Grella gezeigt, und sie sagte, es handele sich um ein Gedicht.«

»Meinst du nicht, daß es ein Teil eines Testaments sein könnte?«

»Warum sollte es jemand für so wichtig halten, daß er es vernichten wollte?« fragte sie, erwartete aber keine Antwort von Cass.

Sie gingen zurück durch den leeren Saal der Bibliothek. Ein vorbeikommender Mönch sah sie neugierig an.

»Suchst du Schwester Grella?« fragte er höflich.

Fidelma bejahte es.

»Wenn sie nicht in der Tech Screptra ist, dann sicher in ihrem Zimmer.«

»Wo finden wir das?« fragte Cass.

Der Mönch beschrieb es ihnen.

Das Zimmer der Bibliothekarin von Ros Ailithir war jedoch verlassen. Fidelma klopfte vorsichtig zweimal an. Sie versicherte sich, daß der Gang leer war, bevor sie die Klinke hinunterdrückte. Wie erwartet, war die Tür nicht verschlossen.

»Rasch hinein, Cass«, befahl sie ihm.

Er folgte ihr etwas widerwillig, und als er eingetreten war, schloß Fidelma die Tür und suchte tastend nach einer Kerze.

»Das ist sicher nicht recht, Schwester«, murmelte Cass. »Wir sollten dieses Zimmer nicht ohne Erlaubnis betreten.«

Fidelma entzündete die Kerze, trat einen Schritt zurück und sah Cass spöttisch an.

»Als dalaigh am Gericht kann ich das Recht in Anspruch nehmen, eine Person oder einen Raum zu durchsuchen, wenn ein begründeter Verdacht auf ein Vergehen vorliegt.«

»Dann glaubst du also, daß Schwester Grella ihren früheren Ehemann und Schwester Eisten umgebracht hat?«

Fidelma winkte ihm zu schweigen und begann das Zimmer zu durchsuchen. Für jemanden, der acht Jahre in der Abtei verbracht hatte, wies Schwester Grellas Zimmer äußerst wenige persönliche Gegenstände auf. Ein Gebetbuch lag neben dem Bett und dazu ein paar Toilettenartikel, Kämme und dergleichen. Fidelma fand einen großen Krug mit einer Flüssigkeit, roch mißtrauisch daran und verzog die Lippen zu einem Lächeln. Es war cuirm, ein starker Met, der durch Gärung gemalzter Gerste gewonnen wurde. Anscheinend trank Schwester Grella gern in der Einsamkeit ihres Zimmers.

Sie wandte sich den wenigen Kleidern zu, die an Haken an der Wand hingen, doch ohne rechtes Interesse. Sie gaben nichts her. Halbherzig durchwühlte sie einen Beutel, der zwischen den Kleidern hing, nur um nichts zu übersehen. Zuerst glaubte sie, er enthielte nur ein paar Stücke Unterzeug. Sie holte sie hervor und besah sie sich beim Schein der Kerze. Dann fiel ihr plötzlich ein Leinenrock auf.

»Cass, schau dir das mal an«, flüsterte sie.

Der Krieger beugte sich vor.

»Ein gestreifter Leinenrock, na und ... Was ...?«

Er hielt inne und begriff plötzlich, was er vor sich hatte.

»Blau und rot. Wie die Streifen, mit denen Dacan gefesselt wurde.«

Fidelma prüfte den Saum des Rocks. Hier war tatsächlich ein langer Streifen abgerissen worden. Sie stieß einen leisen Pfiff aus.

»Dann ist Grella die Mörderin!« verkündete Cass aufgeregt. »Hier ist der Beweis.«

Fidelma war ebenso aufgeregt, aber ihr juristischer Verstand mahnte sie zur Vorsicht.

»Es ist nur der Beweis, woher der Stoff stammte, mit dem Dacan gefesselt wurde. Doch diese Kleider sehen nicht so aus, als würden sie von der Bibliothekarin einer Abtei getragen. Allerdings scheint Schwester Grella auch keine typische Bibliothekarin zu sein. Für alle Fälle kannst du bezeugen, Cass, wo ich den Rock gefunden habe.«

»Gern«, stimmte der Krieger zu. »Ich sehe keinen Grund zum Zweifeln. Grella hat dich über ihr Verhältnis zu Dacan belogen, und jetzt finden wir das hier! Ist da noch ein weiterer Beweis nötig?«

Fidelma antwortete nicht, sie steckte die anderen Stücke wieder in den Beutel, verstaute den Rock aber in ihrem marsupium. Dann ging sie zum Bett, um auch noch einen Blick darauf zu werfen. Ihr Fuß stieß gegen eine Erhebung im Boden, die nicht nachgab, und ein heftiger Schmerz zuckte durch ihren Fuß.

Sie beugte sich sofort nieder und untersuchte die Stelle. Es war ein loser Ziegelstein im Boden, an dem sie sich gestoßen hatte. Er ragte etwas über die anderen Steine hinaus und bewegte sich leicht, als sie ihn berührte.

»Hilf mir mal, Cass«, wies sie ihn an.

Der Krieger nahm sein langes Messer, schob es unter den Stein und hob ihn an. Darunter war ein Hohlraum. Fidelma leuchtete mit ihrer Kerze hinein und holte ein Bündel Pergamentblätter hervor. Sie rollte sie auf und studierte die sorgfältige Schönschrift.

»Dacans Aufzeichnungen«, flüsterte sie. »Grella hielt sie die ganze Zeit versteckt.«

»Dann brauchen wir weiter keinen Beweis. Sie muß Dacan umgebracht haben!« stellte Cass befriedigt fest.

Fidelma war zu sehr mit der Prüfung des Inhalts beschäftigt, um darauf zu antworten.

»Es ist ein Brief an seinen Bruder, Abt Noe.« Dann verbesserte sie sich. »Nein, nur der Entwurf dazu. Er redet davon, daß er nach den Erben der ursprünglichen Könige von Osraige sucht. Aber er hat Tinte darüber vergossen und deshalb das Blatt verworfen. Hör dir das an, Cass: >Der Sohn von Illan muß nach den Aufzeichnungen gerade das Alter der Wahl erreicht haben. Er ist alt genug, um als König in Frage zu kommen. Ich habe festgestellt, daß sich der Gesuchte im Kloster von Finan in Sceilig Mhichil unter dem Schutz seines Vetters verbirgt. Morgen werde ich von hier aufbrechen und dorthin reisen.< Sieh mal das Datum!« Sie hielt Cass das Blatt hin und deutete darauf. »Dies muß er wenige Stunden vor seinem Tode geschrieben haben.«

»Wen hat Dacan denn gesucht?« fragte Cass. »Das hört sich eigenartig an.«

»Kennst du das Kloster in Sceilig Mhichil?«

»Ich war noch nie dort, aber ich weiß, daß es sich auf einer Felseninsel im Meer weit im Westen befindet und ziemlich klein ist.«

»Dacan ist nie nach Sceilig Mhichil aufgebrochen«, murmelte sie. »Ein paar Stunden später, nachdem er dies geschrieben hatte, war er tot.«

Fidelma legte das Pergament nicht in das Versteck zurück, sondern tat es zu dem Rock in ihr marsupium. Dann beugte sie sich nieder, rückte den Ziegelstein wieder zurecht und stand auf.

»Schwester Grella wird uns allerhand erklären müssen«, meinte sie.

Sie blickte sich noch einen Moment im Zimmer um, dann blies sie die Kerze aus und öffnete vorsichtig die Tür. Draußen war niemand, also trat sie rasch hinaus und winkte Cass, ihr zu folgen. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, eilte sie den Gang entlang.

»Wohin jetzt?« fragte Cass ein wenig gekränkt, weil er schon wieder danach fragen mußte.

»Schwester Grella suchen«, antwortete sie kurz.

»Wo fangen wir an?«

Sie begannen damit, den Verwalter, Bruder Ru-mann, nach ihr zu fragen, doch als sie nach einer ganzen Stunde noch keine Spur von ihr entdeckt hatten, meinte Cass: »Vielleicht hat sie die Abtei verlassen?«

»Gibt es denn keinen aistreoir in dieser Abtei?« fauchte Fidelma.

»Torhüter ist Bruder Conghus«, antwortete Cass automatisch, bevor er merkte, daß ihre Frage rein rhetorisch war.

»Das ist mir bekannt«, erwiderte sie knapp. »Anscheinend können aber Leute aus dieser Abtei hinaus gelangen und verschwinden, wie sie wollen. Erst ist Eisten verschwunden, dann die beiden Jungen aus Rae na Scrine, und jetzt ist auch die Bibliothekarin nirgends aufzufinden.«

Bruder Conghus wenigstens war nicht verschwunden. Er saß in seinem kleinen Dienstzimmer neben dem Tor der Abtei und schrieb Notizen auf Wachstäfelchen. Er blickte überrascht auf, als Fidelma ohne jede Förmlichkeit eintrat.

»Schwester? Womit kann ich dir dienen?« fragte er und stand langsam auf.

»Ich suche Schwester Grella«, antwortete Fidelma.

Der Torhüter zog eine Schulter hoch und ließ sie hilflos fallen.

»Also in der Bibliothek ...?« begann er, doch Fidelma schnitt ihm das Wort ab.

»Wenn sie dort wäre, wären wir nicht hier. In ihrem Zimmer ist sie auch nicht. Hat sie die Abtei verlassen?«

Bruder Conghus schüttelte sofort den Kopf.

»Es ist meine Aufgabe, das Kommen und Gehen der Leute in die Abtei hinein und aus ihr heraus festzuhalten«, sagte er. »Nach meinen Aufzeichnungen hat Schwester Grella sie nicht verlassen.«

»Führst du eine Liste für jeden Tag?«

»Natürlich.«

»Aber dies ist nicht der einzige Eingang zur Abtei«, bemerkte Fidelma.

»Es ist der Haupteingang«, erwiderte Conghus. »Die Regel lautet, daß jeder, der die Abtei verläßt oder sie betritt, das melden muß, damit wir wissen, wer sich innerhalb der Mauern der Abtei aufhält.«

»Doch wenn sie durch einen Seiteneingang hinausgegangen ist ...?«

»Dann hätte sie es mir mitgeteilt. So lautet die Regel«, wiederholte Conghus.

»Heute abend habe ich die Abtei durch eine Hintertür verlassen, von der ein Weg zum Strand führt. Dann kam ich zurück und brachte den Kapitän des Kriegsschiffs von Laigin mit. Er blieb eine Weile in der Abtei, bevor er auf sein Schiff zurückkehrte. Steht das auch in deinen Aufzeichnungen?«

Conghus lief rot an.

»Darüber wurde ich nicht informiert. Die Leute sind verpflichtet, sich an die Regel zu halten, und du hättest mir das mitteilen müssen.«

Fidelma seufzte tief.

»Das bedeutet, deine Aufzeichnungen sind unzuverlässig. Sie sind nur so weit vollständig, wie die Leute sich an deine Regeln halten.«

»Schwester Grella weiß, was die Regel vorschreibt, falls sie die Abtei verlassen wollte«, erwiderte Cong-hus störrisch.

»Nur wenn sie wollte, daß ihre Abwesenheit bekannt würde«, warf Cass ein, der endlich etwas zum Gespräch beizutragen fand.

Conghus schnaubte verärgert.

»Was weißt du von Schwester Grella?« fragte ihn Fidelma plötzlich.

Die Frage verwirrte Conghus.

»Was ich von ihr weiß? Sie ist die Bibliothekarin der Abtei, und zwar schon so lange, wie ich sie kenne.«

»Und weiter weißt du nichts?«

»Ich weiß, daß sie aus der Abtei Cealla kam. Ich weiß, daß sie sehr gebildet und hervorragend für ihre Aufgabe geeignet ist. Was sollte ich sonst wissen?«

»War sie jemals verheiratet?« fragte Fidelma.

»Sie hat niemals erwähnt, daß sie früher einmal verheiratet war.«

»Wie gut kannte sie Schwester Eisten?«

Die Frage entsprang einer plötzlichen Eingebung, schien aber Bruder Conghus nicht zu berühren.

»Sie kannte sie, mehr kann ich nicht sagen. Anfang des Jahres trieb Schwester Eisten irgendwelche Studien in der Bibliothek, da nehme ich an, daß die Bibliothekarin sie kannte.«

»Also bestand keine enge Verbindung zwischen ihnen? Sie waren nicht besonders befreundet?«

»Schwester Grella war mit ihr nicht enger befreundet als mit jedem anderen Mitglied der Abtei, das sie kannte.«

»Vor ungefähr einer Woche besuchte Schwester Grella Salbachs Burg in Cuan Doir. Weißt du, warum?«

»Wirklich? Vor einer Woche?« Conghus sah verwirrt aus. »Dann müßte ich es notiert haben.«

Er erhob sich, ging zu einem Regal mit Wachstäfelchen und sah sie durch.

»Du weißt nicht, was sie in Salbachs Burg wollte?« fragte Fidelma, während der Torhüter eifrig nach dem richtigen Täfelchen suchte.

»Nein, es sei denn, Salbach stiftete etwas für die Bibliothek. Manchmal stellen Fürsten fest, daß sie noch alte Stäbe der Dichter besitzen. Solche alten Ogham-Bücher sind jetzt selten, sogar hier in Mu-man. Die Abtei setzt Belohnungen dafür aus, denn sie sammelt sie. Es könnte sein, daß Salbach welche gefunden hat und sie unserer Bibliothek schenken will. Aber wenn Grella zu diesem Zweck oder auch zu einem anderen dorthin gehen wollte, hätte sie es mir mitteilen müssen. Es gibt keinen Beleg dafür.« Er wandte sich von den Täfelchen ab und Fidelma zu. »Ich finde keinen Hinweis darauf, daß Schwester Grella die Abtei verlassen hat, um nach Cuan Doir zu gehen. Sie ist allerdings vor einer Woche nach Rae na Scrine gegangen.«

»Nach Rae na Scrine?« wiederholte Fidelma.

»So steht es verzeichnet«, antwortete Bruder Conghus mit einem zufriedenen Lächeln. »Sie wollte ein Buch von Schwester Eisten abholen und ihr Medikamente bringen.«

»Sie könnte auch in die entgegengesetzte Richtung nach Cuan Doir gegangen sein«, vermutete sie. »Oder sie und Schwester Eisten könnten anschließend nach Cuan Doir gereist sein.«

»Sie hätte es uns gesagt, wenn sie nach Cuan Doir wollte«, antwortete Conghus unerschütterlich. »Es gibt keinen Hinweis darauf.«

»Wenn es verzeichnet worden wäre.«

»Natürlich wäre es verzeichnet worden. Salbach im Auftrag der Abtei zu besuchen hätte der Genehmigung und des Segens des Abts bedurft.«

»Wer sagt denn, daß sie im Auftrag der Abtei dort war?« fragte Fidelma.

»Warum denn sonst sollte die Bibliothekarin den Fürsten dieser Gegend aufsuchen?«

»Ja, warum wohl?« Fidelma war mit ihrer Geduld am Ende. »Besten Dank für deine Hilfe, Conghus.«

»Meinst du, daß er uns etwas verheimlicht?« fragte Cass Fidelma, als sie draußen waren. »Er scheint nicht sonderlich hilfsbereit zu sein.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich vermute, Bruder Conghus lebt einfach nach den Regeln und kann sich nicht vorstellen, daß es jemand nicht tut.«

Während sie noch da standen und redeten, kam Bruder Conghus heraus geeilt, nickte ihnen kurz zu und hastete über den gepflasterten Hof zum Glockenturm.

»Es muß Zeit für die Completa sein«, murmelte Cass.

Wie zur Antwort begann wenige Augenblicke später die Glocke die Brüder zum Gottesdienst zu rufen.

Zuletzt hatte Fidelma in Rom an einer so großartigen Messe teilgenommen, als die Leiche Wighards, des ermordeten Erzbischof-Anwärters von Canterbury, in der prunkvollen runden Basilika von St. Johannes im Lateran aufgebahrt lag. Ein Dutzend Bischöfe und ihr Gefolge und der Heilige Vater selbst hatten den Gottesdienst gehalten.

Die dunkle, hohe Abteikirche war nicht mit dem Glanz der römischen Basilika zu vergleichen, doch eindrucksvoll war sie auch. Wandbehänge bedeckten die hohen Granitmauern, und Kerzen verbreiteten Wärme, Licht und verschiedenartige Düfte. Fidelma saß in der Bank für Ehrengäste und Cass neben ihr. Ringsum standen die Mönche, Nonnen und Schüler der Abtei, um dem verschiedenen König Cathal von Cashel die Ehre zu erweisen. Fidelma musterte die Gesichter sorgfältig, konnte aber Schwester Grella nicht entdecken.

Die Chorsänger erhoben ihre Stimmen zum Sanctus.

»Is Naofa, Naofa, Naofa Tu, a Thiarna. Dia na Slua...«

»Du bist heilig, heilig, heilig, o Herr der Heerscharen ...«

Etwas ließ Fidelma quer durch das Kirchenschiff schauen, etwas wie ein sechster Sinn trieb sie dazu.

Sie blickte in die Augen von Schwester Necht, die sie wie gebannt anstarrte. Die Novizin hatte sie beobachtet; nun senkte sie rasch den Kopf und schaute zu Boden. Fidelma wollte sich abwenden, als sie merkte, daß noch jemand starr in den Raum blickte, doch in diesem Fall war Schwester Necht selbst das Ziel und der rundgesichtige Bruder Rumann der Beobachter. Neben Rumann saß Bruder Midach und schaute ebenfalls auf die junge Novizin. Fidelma sah zu ihrer Überraschung, daß jede Spur von Fröhlichkeit aus dem Gesicht des Arztes gewichen war. Wenn Blicke töten könnten, dachte sie, dann wäre Midach bestimmt am Tod der jungen Frau schuldig. Plötzlich spürte Midach ihren Blick, zwang sich zu einem Lächeln und konzentrierte sich mit gesenkten Augen auf den Gottesdienst. Als sie Bruder Rumann noch einmal anschaute, lauschte auch der aufmerksam den Worten der Liturgie.

Fidelma fragte sich, was das alles zu bedeuten habe. Als sie wieder dem Gottesdienst zu folgen vermochte, waren die Chorsänger schon beim Agnus Dei angekommen.

In der Pause vor dem Einsatz zum A Ri an Domh-naigh - Großer Gott - war plötzlich ein seltsames Geräusch zu hören. Die Chorsänger verstummten. So wurde das Geräusch besser wahrnehmbar. Ein erschrockenes Murmeln lief durch die Menge, denn nun erkannte man deutlich das herzzerreißende Schluchzen eines Kindes.

Jeder schaute sich suchend nach dem Kind um, doch niemand fand heraus, woher das Schluchzen kam. Es schien die große Abteikirche zu durchziehen, sich an ihren Granitmauern zu brechen und widerzuhallen.

Mehrere Brüder, bei denen der Aberglaube stärker war als die Logik, sanken in die Knie.

Selbst Abt Brocc tauschte beunruhigte Blicke mit den älteren Priestern.

Fidelma spürte, wie Cass ihren Arm berührte. Der Krieger nickte zum Kirchenschiff hin, und als Fidelma seinem Blick folgte, sah sie, wie Bruder Midach rasch das Gebäude verließ.

Kurz bevor er die Tür erreichte, hörte das Weinen plötzlich auf. Alles war totenstill. Als die Tür hinter Midach zuschlug, fuhr die ganze Gemeinde zusammen.

Der Chordirigent klopfte auf sein hölzernes Pult, und die Stimmen erhoben sich nun zum A Ri an Domhnaigh, zögernd zuerst, doch dann mit wachsender Zuversicht und Stärke.

Der Gottesdienst verlief ohne weiteren Zwischenfall. Abt Brocc sprach beredt und voller Trauer über den Tod des alten Königs durch die Gelbe Pest, aber freudig über die Einführung des neuen Königs und erflehte den Segen Christi, Seiner Apostel und aller Heiligen der fünf Königreiche für die künftige Wohlfahrt des Königreichs und für eine weise Regierung des neuen Herrschers Colgü.

Als sich die Gemeinde nach dem Schlußsegen langsam zerstreute, sagte Fidelma zu Cass, sie würde später mit ihm reden, und bahnte sich einen Weg durch die Menge auf die andere Seite des Kirchenschiffs, dorthin, wo sie Schwester Necht gesehen hatte. Doch als sie anlangte, war Necht bereits verschwunden.

Fidelma unterdrückte einen verärgerten Seufzer und wandte sich zur nächsten Tür, die auf den Hof gegenüber den mächtigen Speichern der Abtei hinausführte. Die Nacht wurde vom unruhigen Licht vieler Laternen erhellt, die man wohl angezündet hatte, damit alle ihren Weg zu den verschiedenen Schlafsälen fanden.

Ihren Gedanken nachhängend, entschloß sich Fidelma, nicht sofort zum Gästehaus zurückzugehen, sondern dem Pfad zum Kräutergarten zu folgen, den Bruder Segan ihr gezeigt hatte. Sie wollte allein sein und nachdenken, und dafür schien ihr der duftende kleine Garten der ideale Ort.

Ein leiser Schrei aus dem Sträuchergarten vor ihr veranlaßte sie stehenzubleiben.

An dem Brunnen im Arboretum waren zwei Schatten zu erkennen. Eine schlanke Gestalt wurde von einer kräftigeren, mehr männlich aussehenden festgehalten. Die zierlichere Gestalt kam Fidelma irgendwie bekannt vor.

»Du freches junges ...«

Die Stimme erkannte sie als die Bruder Midachs. Sie klang jetzt scharf und zornig.

Fidelma sah, wie der Arzt die Hand hob und damit der anderen Gestalt auf den Hinterkopf schlug.

Sie gab einen Schmerzenslaut von sich.

»Wie kannst du es wagen, mich zu schlagen!« sagte eine heisere Stimme, von der Fidelma meinte, sie müßte sie kennen.

Fidelma wollte schon vortreten und fragen, was es da gäbe, als sie hörte, wie Bruder Midachs Stimme der anderen Gestalt Vorwürfe machte.

»Du tust, was ich dir sage. Solch ein Ausbruch kann uns alle ins Verderben stürzen! Die Grabstätte hat ein Echo. Wenn wir entdeckt werden, ist das das Ende unserer Hoffnungen auf Osraige.«

Die Schatten bewegten sich in der Dunkelheit, und sie verlor sie aus den Augen. Im Arboretum rührte sich nichts mehr.

Fidelma lauschte, hörte aber nichts.

Sie schritt vorsichtig vorwärts. Es war, als habe der Erdboden sich plötzlich geöffnet und die Gestalten verschluckt, denn der ummauerte Garten besaß keine andere Tür als die, durch die sie gekommen war.

Sie untersuchte das Gelände so sorgfältig wie möglich, fand aber keine Spur von Midach und der anderen Gestalt, keinen Durchgang und keine Pforte, durch die sie hätten verschwinden können. Sie spähte sogar in die Schwärze des Brunnens hinunter, des Brunnens des heiligen Fachtna, doch sie hatte ihn bei Tageslicht gesehen und wußte, daß er in eine fast bodenlose Tiefe führte.

Erst nach einer halben Stunde gab sie es auf, das Rätsel zu lösen, und ging widerwillig zum Gästehaus zurück. Cass wartete mit schlecht verhohlener Ungeduld auf sie.

»Ich wollte dich schon als vermißt melden, Schwester«, beklagte er sich. »Wo doch so viele Leute verschwinden, dachte ich, du wärst denselben Weg gegangen.« »Was gibt es denn so Dringendes?« erkundigte sie sich und überlegte, ob sie ihm verraten sollte, daß sie gerade wieder beobachtet hatte, wie zwei Personen auf erstaunliche Weise verschwanden. »Sind die Brüder beunruhigt wegen der Kinderstimme während des Gottesdienstes?«

»Weniger beunruhigt als in Angst«, antwortete Cass. »Selbst dein Vetter glaubt anscheinend, das Schreien sei das geisterhafte Echo einer verlorenen Seele gewesen.«

Fidelma lächelte spöttisch.

»Sicher gibt es auch noch intelligentere Meinungen dazu?«

»Na, die einzige, die ich gehört habe, kam von Bruder Rumann, der meinte, es sei eine Verzerrung des Geräuschs des Wassers in dem Brunnen unter der Abtei.«

»Ach«, seufzte Fidelma. »Ich glaube, ich lasse sie noch eine Weile in ihrer Unwissenheit. Aber das war doch wohl alles nicht so vordringlich, daß es dich in Unruhe versetzte?«

Cass schüttelte den Kopf.

»Nach dem Gottesdienst kam ich mit Bruder Mar-tan ins Gespräch. Er ist .«

»Ein Mann mit einer Leidenschaft für Reliquien, der Gott sei Dank die Leinenstreifen aufbewahrt hat, mit denen Dacan gefesselt wurde. Wir haben ihn vorhin am Strand neben Midach gesehen, als der Schwester Eistens Leiche untersuchte.«

»Genau.«

»Und?« drängte Fidelma.

»Bruder Martan und ich sprachen darüber, welchen Grund jemand gehabt haben könnte, Dacan umzubringen. Martan bestätigte ebenfalls, daß Dacan kein liebenswerter Mensch war.«

»Das zumindest wissen wir nun mit Bestimmtheit«, stellte Fidelma gelangweilt fest.

»Er erzählte mir, daß Midach einmal gesagt habe, es gebe mehrere Leute, die er lieber tot als lebendig sehen möchte, und Dacan sei einer davon.«

Fidelma hob den Kopf ein wenig.

»Das hat Midach gesagt? Warum denn?«

»Anscheinend ist Martan Zeuge eines heftigen Streits zwischen Midach und Dacan geworden.«

»Eines Streits wegen Laigin? Das habe ich alles schon gehört. Midach beleidigte Laigin, weiter nichts.«

»Laut Martan stritten sie sich wegen etwas anderem.« Cass sah verlegen aus. »Anscheinend gab es Krach wegen Schwester Necht.«

»Necht? Worum ging es denn da?« Fidelma war plötzlich interessiert.

»Anscheinend beschuldigte Dacan Midach, ein Verhältnis zu haben . weißt du .«

Cass zögerte, als wäre es ihm peinlich.

»Ich verstehe«, sagte Fidelma knapp. »Dacan erhob gegen Midach den Vorwurf, er habe eine Liebschaft mit Schwester Necht? Bist du sicher? Nein«, fuhr sie rasch fort, »besser ist es, ich weiß es ganz genau. Ich glaube, ich muß mit Bruder Martan sprechen.«

Cass lächelte selbstzufrieden.

»Deshalb habe ich ihn ja hierbehalten. Er sitzt oben im Zimmer und wartet auf dich.«

Bei dem jetzt besseren Licht betrachtet, sah Bruder Martan recht schwächlich aus. Er war mittleren Alters und hatte einen blassen Teint, schlechte Zähne und hustete schwindsüchtig, was ihm nur erlaubte, in kurzen, atemlosen Stößen zu reden. Er stand auf, als Fidelma eintrat, doch sie winkte ihm, er solle sitzen bleiben.

»Vor allem möchte ich dir danken, Martan, daß du die Leinenstreifen aufgehoben hast. Sie haben uns gute Dienste geleistet.«

Seine trübe Miene veränderte sich nicht.

»Du hast meinem Kollegen hier«, sie deutete auf Cass, »erzählt, daß Midach mit Dacan Streit hatte.«

In Martans Gesicht zeichnete sich Beunruhigung ab.

»Ich will niemanden irgendwie in Mißkredit bringen ...«, begann er. »Midach war immer freundlich zu mir, und ich möchte ihm auf keinen Fall schaden.«

Fidelma hob besänftigend die Hand.

»Soweit ich weiß, hast du Cass lediglich ein paar Tatsachen mitgeteilt. Gab es einen solchen Streit wirklich? Die Wahrheit zu sagen, Martan, ist immer der einfachste Weg.« Das fügte sie hinzu, weil sie merkte, daß ihm plötzlich klargeworden war, was seine Worte nach sich ziehen konnten.

»Ich möchte Bruder Midach keinen Ärger machen«, beharrte er.

»Hat er sich mit Dacan gestritten oder nicht?« fragte Fidelma.

Martan nickte widerwillig.

»Erzähl mir davon«, forderte Fidelma ihn auf.

»Es war an dem Tag, bevor man Dacan fand. Ich lief zufällig den Gang zur Bibliothek entlang. Ich wollte ein Exemplar der >Aphorismen des Hippokra-tes< ausleihen, das die Abtei besitzt.« Er sagte es voller Stolz. »Ich hörte Stimmen aus dem kleinen Nebenzimmer, in dem Schwester Grella ihr Büro hat. Es liegt neben der Haupthalle der Bibliothek und hat eine Tür zum Gang.«

Fidelma wartete geduldig, während der Bruder seine Gedanken ordnete.

»Ich hörte Bruder Midachs zornig erhobene Stimme und blieb deshalb an der Tür stehen. Es überraschte mich, ihn in der Bibliothek zu finden. Es war auch ungewöhnlich, daß irgend etwas Bruder Midach zum Zorn reizte, denn sonst ist er ein ruhiger und ausgeglichener Mensch.«

Er hielt verlegen inne.

»Sprich weiter«, bat ihn Fidelma. »Du bliebst an der Tür stehen? Was geschah dann?«

»Ich tat das nur, weil es so ungewöhnlich war, daß Midach in Zorn geriet«, wiederholte Martan, als wolle er sich vom Vorwurf des Lauschens befreien. »Ich erkannte, daß der, mit dem er sich stritt, kein anderer war als der Ehrwürdige Dacan.«

»Und der Grund für den Streit?«

»Anscheinend hatte Dacan Midach beschuldigt, seine Aufzeichnungen durchsucht und Material gelesen zu haben, auf das er kein Recht besaß. Midach stritt das natürlich energisch ab. Dacan war so außer sich vor Wut, daß er drohte, er werde sich über Mi-dach beim Abt beschweren.

Midach antwortete, dann werde er sich darüber beschweren, daß Dacan das Personal des Gästehauses wie Sklaven behandelte, insbesondere Schwester Necht. Darüber geriet Dacan in solche Rage, daß er Midach vorwarf, er habe ein Verhältnis mit Schwester Necht. Midach schien das ernst zu nehmen und antwortete, er handele lediglich als Pflegevater für Necht und sein Verhältnis zu ihr sei rein väterlich. Außerdem, fügte Midach hinzu, gehe das Dacan gar nichts an.«

Es überraschte Fidelma nicht, daß Midach sich als Nechts Pflegevater bezeichnete. Es war üblich, daß Kinder im Alter von sieben Jahren zur Ausbildung aus dem Haus geschickt wurden. Das nannte man in Pflege geben, und die Pflegeeltern waren verpflichtet, ihre Pflegekinder entsprechend deren Rang zu unterhalten und für ihre Ausbildung zu sorgen. Ein Mädchen würde seine Ausbildung meist mit vierzehn Jahren abschließen, obwohl einige Mädchen sie, wie Fidelma, fortsetzten, bis sie siebzehn waren. Doch vierzehn Jahre war für ein Mädchen das Alter der Wahl und der Reife. Bei einem Jungen dauerte die Ausbildung bis zum siebzehnten Lebensjahr. Eine Pflegschaft war ein gesetzlicher Vertrag, der für beide Haushalte von Nutzen sein sollte. Nach dem Gesetz gab es zwei Arten von Pflegschaft. Die eine basierte auf »Zuneigung« und sah kein Honorar vor. Bei der anderen bezahlten die natürlichen Eltern für die Pflegschaft ihres Kindes. Eine Pflegschaft war die vorherrschende Methode, Kindern eine Ausbildung angedeihen zu lassen.

»Bist du sicher, daß er sagte, er sei ihr Pflegevater?«

»Er hat bestimmt den Ausdruck datdn verwendet.«

Das war die juristische Bezeichnung für Pflegevater.

»Wußtest du, daß Midach der Pflegevater von Schwester Necht ist?«

Martan schüttelte den Kopf.

»Und was für ein Verhältnis hat Bruder Midach deiner Meinung nach zu ihr?« forschte sie.

»Zu Necht?«

»Genau.«

»Midach ist Nechts anamchara, ihr Seelenfreund. Weiter weiß ich nichts. Aus dem Grunde sind sie freundlich und vertraut miteinander.«

»Also fühlt sich Midach offensichtlich verantwortlich für Necht?«

»Das nehme ich an«, meinte Martan.

»Hat es dich überrascht, daß Dacan Midach eine solche Affäre vorwarf? Dacan stand im Ruf kühler Gelassenheit. Was veranlaßte ihn, Midach plötzlich so anzugreifen?«

»Er war kein Heiliger. Er war ein seltsamer, übellauniger Mensch, der Midachs Geduld bis zum Äußersten strapazierte«, antwortete Martan. »Ich weiß nur, daß ich gehört habe, wie böse Midach reagierte. Er sagte zu Dacan, er solle sich da nicht einmischen, und wenn er das weiter so treibe und Midach derart beleidige, dann werde Midach .«

Er verstummte, und seine Augen weiteten sich, als er merkte, was er gerade sagen wollte.

»Weiter«, drängte ihn Fidelma. »Offensichtlich hat er ihm mit körperlicher Gewalt gedroht.«

»Midach sagte, er würde ihn umbringen«, gab er leise zu.

Es trat eine Pause ein.

»Glaubst du, daß er es ernst meinte?«

»Bestimmt nicht«, protestierte der Apotheker. »Ich mache mich nicht zum Richter über andere Leute. Midach tut keinem etwas zuleide.«

»Das ist nicht das, womit Midach drohte«, bemerkte Fidelma trocken. »Als du erfuhrst, daß Dacan genau einen Tag nach diesem Streit den Tod fand, hast du dir da keine Gedanken gemacht? Ich nehme an, du hast Bruder Rumann, der die Untersuchung leitete, nichts davon gesagt?«

Martans Wangen färbten sich leicht rot.

»Ich habe es nicht gemeldet, weil ich es nicht für wesentlich hielt. Midach war nicht in der Abtei, als Dacans Leiche gefunden wurde. Falls du meinst, ich verdächtige Midach des Mordes, ich tue das nicht. Midach ist ein Mensch, der das Leben liebt und es genießt. Er würde ebensowenig daran denken, jemand anderem das Leben zu nehmen wie sich selbst.«

»Also hast du diesen Streit Rumann gegenüber nicht erwähnt«, stellte Fidelma fest. »Warum erzählst du mir jetzt davon?«

Martan errötete.

»Ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Ich hatte einzig die Absicht, euch beiden zu verdeutlichen, daß Dacan nicht so ein Heiliger war, wie die meisten Leute glaubten. Er konnte durchaus jemanden grundlos beschuldigen.«

»Und das alles geschah, nachdem Dacan Midach vorgeworfen hatte, er habe seine Notizen und Aufzeichnungen in der Bibliothek durchforscht?«

»Midach hat das bestritten«, erinnerte sie Martan.

»Nur noch eins. Du sagst, daß Midach an dem Abend, bevor Dacan getötet wurde, die Abtei verließ. Wie ich hörte, kehrte er erst sechs Tage später zurück. Weißt du, warum er fort war und wohin er wollte?«

Martan schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nur, daß die Reise nicht geplant war. Er fuhr mit dem Schiff. Wahrscheinlich gab es einen medizinischen Notfall in einem der Dörfer. So etwas passiert häufig.«

»Weshalb glaubst du, daß sie nicht geplant war?«

»Weil er niemandem etwas davon sagte außer Schwester Necht, die Bruder Tola erst informierte, als er die Abtei bereits verlassen hatte.«

»Wann war das?«

»Kurz vor der Completa. Sein Schiff muß mit der Nachmittagsflut ausgelaufen sein, sonst hätte er erst am späten Vormittag des nächsten Tages abreisen können.«

Fidelma kniff die Augen zusammen.

»Bist du dir bei diesen Zeitangaben sicher?«

»Absolut.«

»Nun«, Fidelma lehnte sich zurück, »ich glaube, du hast uns sehr geholfen, Martan. Du kannst jetzt gehen, aber ich wäre dir dankbar, wenn du über unser Gespräch mit niemandem reden würdest - vor allem nicht mit Bruder Midach. Verstehst du mich?«

Martan stand unsicher auf.

»Ich glaube, ja, Schwester. Ich hoffe nur, ich habe nichts Falsches gesagt .«

»Wie könnte man mit der Wahrheit etwas Falsches sagen?« fragte Fidelma ernst.