177533.fb2
»Das ist Na Sceilig. Seht ihr? Dort vor uns am Horizont.«
Das sagte Ross, der auf dem Achterdeck seines Schiffes stand. Er wies über die blaue Fläche des Ozeans. Seine dunkelgrünen Augen, in denen sich die wechselnde Stimmung des Meeres spiegelte, hatte er zusammengekniffen. Er war ein kleiner stämmiger Mann mit kurzgeschorenem ergrauendem Haar, ein erfahrener Seemann, der bereits vierzig Jahre zur See fuhr. Die Seewinde hatten seine Haut fast nußbraun gefärbt. Er besaß einen grimmigen Humor, und wenn er wütend wurde, machte er sich laut brüllend Luft.
Seine schnellsegelnde barc war vor zwei Tagen aus Ros Ailithir ausgelaufen. Der Preis für die Fahrt zum Kloster Finans auf Sceilig Mhichil und zurück, den Fidelma mit ihm ausgehandelt hatte, erschien ihr ziemlich überhöht. Das Schiff war zunächst den Küstenrouten gefolgt, bis ein schwacher Nordostwind es um die Südspitze von Muman herumgebracht hatte, und dann hatte Ross es in die starke Strömung manövriert, die es rasch nach Norden trieb.
Fidelma beschattete die Augen mit der Hand, und ihr stockte fast der Atem, als ihr Blick die grandiosen Felsen erfaßte, die vor ihr aus dem Meer auftauchten. Es waren zwei Inseln, kahle, zerfurchte Pyramiden mit zinnenartigen Auswüchsen, die sich steil und drohend aus der dunklen See erhoben, etwa acht Meilen vom Festland entfernt. Ihre furchtgebietende Großartigkeit benahm Fidelma beinahe die Luft. Der Name Sceilig deutete auf Felsen hin, doch auf so etwas war sie nicht vorbereitet gewesen.
»Auf welcher der beiden Inseln liegt das Kloster?« fragte Fidelma.
»Auf der größeren«, erklärte Ross.
»Aber ich sehe keine Landestelle und noch weniger einen Ort, an dem man Gebäude errichten könnte«, wandte Fidelma ein, die verwundert die beinahe lotrechte Steilküste betrachtete.
Ross klopfte sich wissend mit dem knorrigen Zeigefinger an die Nase.
»Es gibt schon eine Stelle, an der man landen kann, und wenn man schwindelfrei ist, kann man zum Kloster hinaufgehen, denn es befindet sich da ganz oben.« Er wies auf die Felsenspitzen. »Die Mönche nennen das den Sattel Christi. Das Kloster liegt zwischen den beiden Bergspitzen.«
Fidelma gewahrte das Schreien der Seevögel. Große Tölpel von zwei Meter Flügelspanne kreisten über ihnen. Manchmal stürzten sie sich auf der Jagd nach Fischen aus über zwanzig Metern Höhe senkrecht ins Meer hinunter.
Vor allem die zweite Insel schien von einem Ring kreisender und schreiender Vögel gekrönt. Fidelma dachte zuerst, sie sei durch irgendein Wunder mit Schnee bedeckt, doch Ross erklärte ihr, das seien die seit Jahrhunderten abgelagerten Exkremente der Vögel.
»Sie nisten auf Little Sceilig«, erklärte er. »Nicht nur Tölpel, sondern auch Möwen, Kormorane, Lummen, Dreizehenmöwen, Tordalke, Sturmtaucher und Eissturmvögel und noch andere Vögel, deren Namen ich vergessen habe.«
Cass, der schweigend daneben stand, bemerkte plötzlich: »Das ist ein beeindruckender Ort, der einem die Seele läutert.«
Fidelma lächelte ihm zu, verwundert darüber, daß sein sonst so unbewegtes Gemüt derart ergriffen werden konnte.
»Das hier ist ein Ort, der einem die Seele erhebt«, verbesserte sie ihn, »denn er zeigt uns, wie unbedeutend wir sind im großen Plan der Schöpfung.«
»Ich verstehe trotzdem nicht, warum du an diesen einsamen Ort fahren wolltest«, knurrte Cass und starrte auf die dräuenden Klippen der Insel.
Fidelma meinte, nun sei es an der Zeit, ihn ein wenig in ihre Pläne einzuweihen.
»Erinnerst du dich an das Blatt Pergament, das wir in Grellas Zimmer fanden? Den Brief Dacans an seinen Bruder, den Abt Noe? Er schrieb ihn am Abend vor seinem Tode, und darin stand, daß der Gesuchte -erinnere dich, er benutzte wirklich den Ausdruck >der Gesuchte< - sich im Kloster Sceilig Mhichil aufhielte. Er forschte nach dem Erben der ursprünglichen Könige von Osraige. Ich denke, er wurde getötet, weil er etwas Entscheidendes herausgefunden hatte. Der nächste Schritt auf dem Wege zur Lösung der Rätsel führt auf die uneinnehmbare Insel, die du vor uns siehst, davon bin ich überzeugt.«
Cass wandte den Blick von der Insel ab, sah Fidelma an und dann wieder die hochragenden grauen Felsen.
»Du meinst, du findest den, nach dem Dacan suchte, auf dieser Insel?«
»Dacan glaubte es jedenfalls.«
Daß Ross und seine Mannschaft wie die meisten Küstenschiffer sehr geschickte Seeleute waren, bewiesen sie in den nächsten Minuten, als sie eine Landestelle anliefen, die man erst sah, wenn man auf wenige Meter heran war. Die Wogen drohten das Schiff gegen die gischtumspülten Felsen zu schleudern, alle wurden vom Spritzwasser durchnäßt, und es dauerte eine Weile, bis sie so nahe vor der Insel ankerten, daß jemand an Land gehen konnte.
»Es ist nicht gut, wenn wir so dicht an den Felsen vor Anker liegen«, rief Ross, der brüllen mußte, um sich durch das Donnern der Wogen und die Schreie der Seevögel verständlich zu machen. »Wenn ihr an Land seid, legen wir ab und kreuzen draußen, bis ihr uns das Signal gebt, daß wir euch wieder aufnehmen sollen.«
Fidelma hob die Hand zum Zeichen des Einverständnisses und bereitete sich auf den Sprung vom Bord des Schiffes auf den schmalen Granitsims vor, der einen natürlichen Kai bildete.
Cass sprang zuerst, um einen Halt zu suchen und Fidelma notfalls aufzufangen.
Als sie den schmalen Pfad entlangschritten, der nach oben führte, eilte ihnen ein braungekleideter Mönch entgegen. Er schien nicht erfreut über die Besucher.
»Bene vobis«, grüßte ihn Fidelma.
Der Mönch blieb stehen und blickte noch verärgerter drein.
»Wir sahen ein Schiff anlegen. Dieser Ort ist für Frauen verboten, Schwester.«
»Wer ist hier der Vorsteher?« fragte Fidelma.
Ihr eisiger Ton ließ den Mönch zögern.
»Pater Mel. Aber wie ich schon sagte, Schwester, unsere Brüder leben hier abgeschieden von der Gesellschaft von Frauen entsprechend den Regeln des heiligen Finan.«
Fidelma wußte, daß es Klöster gab, die Frauen nicht betreten durften, denn Männer wie Finan von Clo-nard und Enda von Aran glaubten, die Bibel lehre, daß Frauen vom Bösen geschaffen wären und man sie deshalb niemals ansehen sollte. Solche ketzerischen Lehren waren Fidelma verhaßt. Sie fand es überhaupt nicht gut, daß Ideen dieser Art Unterstützung aus Rom erhielten, was schon fast dem Versuch gleichkam, das Zölibat durchzusetzen mit dem von Augustin von Hippo vorgebrachten Argument, der Mann sei nach dem Bilde Gottes geschaffen, die Frau aber nicht.
»Ich bin Fidelma, die Schwester des Königs Colgü von Muman. Ich bin dalaigh bei Gericht und handle im Auftrag des Königs, meines Bruders.«
Niemals hätte Fidelma diese Form der Vorstellung benutzt, hätte sie nicht den Eindruck gehabt, daß sie anders hier nichts ausrichten könne.
»Ich bin hier, um einen gewaltsamen Todesfall zu untersuchen. Nun führe mich sofort zu Pater Mel.«
Der Mönch schaute entsetzt drein und zuckte nervös mit den Augen.
»Ich wage es nicht, Schwester.«
Cass lockerte demonstrativ sein Schwert in der Scheide und blickte den Pfad entlang, den der Mönch heruntergekommen war.
»Ich meine, du solltest es wagen«, sagte er kühl, als spreche er nur seine Gedanken aus.
Der Mönch warf ihm einen ängstlichen Blick zu und sah dann Fidelma verlegen an. Er schien mit sich zu ringen. Einen Augenblick später machte er eine resignierende Geste.
»Wenn ihr mir folgen könnt, dann werdet ihr zu Pater Mel kommen. Wenn nicht ...« Hohn schwang in seiner Stimme mit.
Er wandte sich um und lief den Pfad hinauf, der anfangs recht gut begehbar war, sich dann aber plötzlich verengte. Es war schon kein Pfad mehr, sondern sie kletterten fast senkrecht von einer Felsleiste zur anderen empor, wenn auch die Mönche hier und da Stufen in die steile Felswand gehauen hatten. Es war ein schwieriger Aufstieg. Der Wind blies und schüttelte sie und drohte sie manchmal von der Wand zu reißen und in die brodelnde See unter ihnen zu schleudern. Mehrmals mußte sich Fidelma mit Händen und Füßen an den Felsen festklammern, um Halt zu finden.
Der Mönch war den Aufstieg gewöhnt und erhöhte sein Tempo noch. Fidelma kletterte manchmal riskant, um mit ihm mitzuhalten. Cass kam hinter ihr und mußte sie mehrfach stützen. Endlich gelangten sie auf ein kleines Plateau, eine grüne Fläche zwischen zwei Gipfeln, auf der mehrere Steinkreuze standen. Von hier aus führten Stufen an ein paar Felsspitzen vorbei zu einem anderen Plateau, das auf der einen Seite von einer Steinmauer begrenzt wurde.
Fidelma blieb stehen und genoß den großartigen Blick auf das weißbedeckte Little Sceilig und das im Dunst liegende Festland dahinter.
Auf dem Plateau stand das Kloster, das Finan vor etwa hundert Jahren erbaut hatte. Es bestand aus sechs clochans, bienenkorbförmigen Felshütten, und einem rechteckigen Bethaus. Dahinter lagen noch andere Gebäude und ein weiteres Bethaus. Überrascht stellte Fidelma fest, daß es auch einen kleinen Friedhof mit Steinplatten und Kreuzen gab. Sie fragte sich, wo man auf dieser ungastlichen Insel genügend Erde fand, um irgend etwas zu begraben. Es war ein wilder, ja grausamer Ort, um darauf sein Leben zu fristen.
Mehrere Brüder arbeiteten in einem kleinen Garten, dem unverputzte Steinmauern ein wenig Schutz boten. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, daß es auch zwei Brunnen gab.
»Das ist wirklich ein erstaunlicher Ort«, flüsterte sie Cass zu. »Kein Wunder, daß die Brüder so darauf versessen sind, unter sich zu bleiben.«
Der Mönch, der sie begleitet hatte, war verschwunden, vermutlich in einem der Steingebäude.
Die Gärtner waren auf sie aufmerksam geworden, sie hörten auf zu arbeiten und redeten unruhig untereinander.
»Ich glaube, sie sind nicht sehr erfreut, dich zu sehen, Fidelma«, meinte Cass, die Hand wieder am Schwertgriff.
Der Mönch war eben so plötzlich wieder da, wie er verschwunden war.
»Hier lang. Pater Mel wird mit euch sprechen.«
Sie sahen sich einem alten Mann mit runzligem Gesicht gegenüber, der mit untergeschlagenen Beinen in einer der bienenkorbförmigen Hütten saß. Die Hütte war so niedrig, daß sie entweder dem Beispiel des Alten folgen und sich auf ein paar auf dem Boden liegende Schaffelle setzen oder gebückt stehen mußten. Fidelma ließ sich im Schneidersitz dem Alten gegenüber nieder.
Er sah sie mit seinen hellblauen Augen nachdenklich an. Sein Gesicht schien aus dem Felsen der Insel herausgehauen, so starr und steinern war seine Miene. Viele Linien hatten sich tief in sein wettergebräuntes Gesicht gegraben.
»»In hoc loco non ero, ubi enim ovis, ibi mulier ...
ubi mulier ... ibi peccatum«, zitierte der Alte leidenschaftslos.
»Ich weiß, daß du nicht den Wunsch hast, mit Frauen zu verkehren«, antwortete Fidelma. »Ich würde eure Regel auch nicht verletzen, wenn es nicht um einen höheren Zweck ginge.«
»Höheren Zweck? Der Verkehr der Geschlechter im Glauben widerspricht der Disziplin des Glaubens«, knurrte Pater Mel.
»Im Gegenteil, wenn beide Geschlechter sich voneinander fernhielten, dann gäbe es bald kein Volk, keinen Glauben und keine Kirche mehr«, entgegnete Fidelma ironisch.
»Abnegabant mulierum administrationem separan-tes eas a monasteriis«, zitierte Pater Mel salbungsvoll.
»Wir können hier sitzen und uns lateinisch unterhalten, wenn du willst«, seufzte Fidelma. »Aber hergekommen bin ich wegen wichtigerer Dinge. Ich möchte mich nicht aufdrängen, wo ich unwillkommen bin, wenn ich es auch kaum glauben kann, daß es Orte in den fünf Königreichen von Eireann gibt, an denen unsere Gesetze und Bräuche derart abgelehnt werden. Doch je eher ich Antwort auf meine Fragen erhalte, desto eher kann ich die Insel wieder verlassen.«
»Was möchtest du?« fragte Pater Mel kühl. »Mein Schüler berichtete mir, du seist eine dalaigh mit einem Auftrag des weltlichen Königs dieses Landes.«
»Das stimmt.«
»Was muß ich also tun, damit du deinen Auftrag erfüllen und schnell wieder abreisen kannst?« »Habt ihr jemanden aus dem Lande Osraige in diesem Kloster?«
»Wir heißen jeden in unserer Bruderschaft willkommen.«
Fidelma gab sich mit dieser Antwort nicht zufrieden.
»Das ist nicht das, wonach ich fragte.«
»Nun gut, ich selbst stamme aus Osraige«, erwiderte Pater Mel vorsichtig. »Was willst du wissen?«
»Ich glaube, vor einiger Zeit hat jemand aus Osraige hier Zuflucht gefunden. Ein Abkomme der ursprünglichen Könige. Ein Erbe Illans. Wenn das stimmt, dann würde ich ihn gern sprechen, denn ich fürchte, sein Leben ist in Gefahr.«
Pater Mel lächelte beinahe.
»Folglich willst du mit mir sprechen? Illan, von dem du redest, war mein Vetter, wenn ich mich auch nicht als Erben irgendeiner weltlichen Macht betrachte.«
»Ist das wahr?« Dacan hatte geschrieben, der Erbe Illans werde von seinem Vetter behütet, doch sie hatte nicht erwartet, daß der alte Klostervorsteher dieser Vetter wäre.
»Es ist nicht meine Gewohnheit zu lügen, Frau«, erwiderte der Alte. »Du glaubst also, daß mein Leben in Gefahr ist?«
Fidelma schüttelte langsam den Kopf. Pater Mel stellte sicherlich keine Bedrohung der gegenwärtigen Kleinkönige von Osraige dar und auch keinen Kristallisationspunkt für einen künftigen Aufstand.
»Nein. Für dich besteht keine Gefahr. Aber ich habe gehört, daß es einen jungen Erben Illans gibt und daß sein Vetter, offensichtlich du selbst, ihn in seiner Obhut hat.«
Pater Mels Miene blieb steinern.
»Es gibt keinen jungen Erben Illans auf dieser Insel«, sagte er bestimmt. »Darauf schwöre ich dir meinen heiligen Amtseid.«
Sollte diese lange, mühsame Reise wirklich ganz umsonst gewesen sein? Hatte Dacan sich geirrt? Doch Pater Mel konnte einen solchen Eid nicht schwören, wenn er nicht der Wahrheit entsprach.
»Gibt es noch etwas?« fragte Pater Mel barsch.
Fidelma stand auf, sie versuchte ihre Enttäuschung zu verbergen.
»Nein. Ich nehme das, was du sagst, als die Wahrheit hin. Du verbirgst keinen jungen Erben Illans.« Sie zögerte. »Hat dich ein Kaufmann namens Assid aus Laigin aufgesucht?«
Pater Mel hielt ihrem Blick stand.
»Hier legen viele Kaufleute an. Ich kann mich nicht an alle ihre Namen erinnern.«
»Sagt dir der Name des Ehrwürdigen Dacan irgend etwas?«
»Als ein Gelehrter des Glaubens«, antwortete der Vorsteher unbefangen. »Sicherlich hat jeder schon von ihm gehört.«
»Weiter weißt du nichts von ihm?«
»Weiter weiß ich nichts«, bestätigte der Alte. »Also wenn das nun alles ist ...?«
Fidelma verließ die Hütte als erste. Cass folgte ihr mit verwunderter Miene.
»Ist das alles?« fragte auch er. »Wir sind doch sicher nicht bloß deshalb hergekommen?«
»Pater Mel hätte nicht geschworen, es gäbe keinen jungen Erben Illans in diesem Kloster, wenn es ihn doch gäbe«, erklärte Fidelma.
»Mönche sollen auch schon gelogen haben«, erwiderte Cass düster.
Plötzlich sahen sie einen breitgesichtigen, kummervoll dreinblickenden Mönch mittleren Alters, der ihnen den Weg versperrte.
»Ich ...«, setzte er zögernd an. »Ich hab’s mitgehört. Du hast gefragt, ob jemand aus Osraige hier war. Flüchtlinge.«
Im Gesicht des Mönchs spiegelten sich heftig widerstreitende Empfindungen.
»Das stimmt«, sagte sie. »Wie heißt du?«
»Ich bin Bruder Febal. Ich arbeite hier in den Gärten.«
Der Mönch holte plötzlich einen kleinen Gegenstand aus seinem Gewand hervor und überreichte ihn feierlich Fidelma.
Es war eine Kornpuppe. Sie war alt und abgenutzt, an den Gelenken war das Gewebe zerrissen, und die Füllung kam heraus.
Fidelma betrachtete die Puppe und wendete sie hin und her. »Was kannst du uns dazu sagen, Bruder?«
Bruder Febal zögerte, warf einen Blick zurück auf die Hütte des Vorstehers und winkte ihnen, ihm ein Stück zu folgen, um außer Sichtweite zu gelangen.
»Pater Mel hat euch nicht die ganze Wahrheit gesagt«, gestand er. »Der gute Pater hat Angst, aber nicht seinetwegen, sondern wegen seiner Schutzbefohlenen.«
»Ich war mir sicher, daß er sehr sparsam mit der Wahrheit umgeht«, antwortete Fidelma ernst. »Aber ich kann nicht glauben, daß er einfach lügen würde, wenn wirklich ein junger Erbe Illans auf dieser Insel wäre.«
»Es ist auch keiner da, also hat er die Wahrheit gesagt«, antwortete Bruder Febal. »Aber vor sechs Monaten brachte er zwei Jungen auf die Insel. Er erklärte uns, ihr Vater, sein Vetter, sei gestorben, und er werde sie für ein paar Monate beherbergen, bis ein neues Zuhause für sie gefunden wäre. Als es dem kleineren der Jungen hier langweilig wurde, wie das eben so ist mit Kindern, baute ihm der ältere Junge diese Kornpuppe zum Spielen. Als sie fortgingen, stellte ich fest, daß der Junge sie hiergelassen hatte.«
»Zwei Jungen. Wie alt waren sie?« fragte Fidelma verwundert.
»Der eine war ungefähr neun Jahre, der andere ein wenig älter.«
»Ein Junge, der demnächst das Alter der Wahl erreicht, war also nicht dabei?«
Bruder Febal verneinte.
»Es waren nur diese beiden Jungen hier. Sie stammten aus Osraige und waren Vettern von Pater Mel. Soviel weiß ich.«
»Warum erzählst du uns das alles?« fragte Cass mißtrauisch. »Der Klostervorsteher hat uns die Wahrheit nicht anvertraut.«
»Weil ich das Zeichen der Leibwache des Königs von Cashel erkenne und weil ich gehört habe, daß du, Schwester, eine Rechtsanwältin bist. Ich glaube nicht, daß ihr den Jungen etwas antun wollt. Vor allem sage ich euch das, weil ich fürchte, daß sie in großer Gefahr sind, und hoffe, daß ihr ihnen helft.«
»Weshalb meinst du, daß ihnen Gefahr droht?« fragte Fidelma.
»Vor etwas mehr als zwei Wochen legte hier ein Schiff mit einem Mönch an, der die beiden Jungen mit sich fortnahm. Ich hörte, wie Pater Mel den Mann mit >ehrenwerter Vetter< anredete. Nur wenige Tage später kam wieder ein Schiff an mit einem Mann, der genau dasselbe wissen wollte wie ihr.«
»Kannst du ihn beschreiben?«
»Ein großer, rotgesichtiger Mann mit einem stählernen Helm und einem pelzbesetzten Wollmantel. Er behauptete, er sei ein Fürst, und er trug eine goldene Amtskette.«
Fidelma schluckte vor Verblüffung.
»Intat!« rief Cass triumphierend.
Bruder Febal blinzelte ängstlich.
»Kennt ihr den Mann?«
»Wir wissen, daß er ein böser Mensch ist«, bestätigte Fidelma. »Was hat er hier über die beiden Jungen erfahren?«
»Pater Mel hat ihm dasselbe erzählt wie euch. Aber gerade als der Mann abfahren wollte, erwähnte einer der Brüder unabsichtlich die beiden Jungen und die Tatsache, daß sie kurz zuvor von einem Mönch abgeholt worden waren.«
»Und Intat verließ die Insel?«
»Ja. Mel war wütend. Er forderte uns alle auf, die Jungen zu vergessen. Doch ich glaube, daß ihr im besten Interesse der Jungen handelt. Aber dieser andere Mann, der sie hier suchte, bestimmt nicht. Wenn er die Kinder findet ...« Der Mönch seufzte.
»Wir bemühen uns, sie zu schützen, Bruder«, versicherte ihm Fidelma. »Von Intat droht ihnen wohl wirklich Gefahr. Weißt du, wer die Jungen waren, wie sie hießen und wohin sie gebracht wurden?«
»Ach, selbst Pater Mel sprach ihre Namen niemals aus und rief sie immer mit ihren lateinischen Namensformen: Primus und Victor. Hier auf der Puppe kannst du es sehen, auf dem Stoff steht >Hic est meum. Victor<. Das bedeutet: >Das gehört mir, Victor<.«
»Kannst du sie beschreiben?« Fidelma verriet nicht, daß sie sehr gut wußte, was die Worte bedeuteten.
»Nicht so richtig. Sie hatten beide Haare wie poliertes Kupfer.«
»Kupferrot?« Fidelma hatte gehofft, etwas anderes zu hören. »Weißt du wirklich nicht, wohin sie gebracht wurden?«
»Ich weiß nur, daß der Mönch, der sie abholte, aus einer Abtei irgendwo im Süden kam. Der jüngere, Victor, war ein freundliches Kind. Gib ihm seine Puppe wieder, und ich werde zum Erzengel Michael, dem Schutzpatron unseres kleinen Klosters, für ihre Sicherheit beten.«
»Kannst du uns den Mönch beschreiben . Wie sah er aus?«
»Nein, das kann ich nicht. Er verbarg Körper und Gesicht immer in seiner Kutte, denn es war schlechtes Wetter. Ich habe sein Gesicht nie richtig gesehen. Er war nicht jung, aber auch nicht alt. Weiter kann ich nichts sagen.«
»Hab Dank, Bruder. Du hast uns sehr geholfen.«
»Ich führe euch den Pfad hinunter und gebe eurem Schiff ein Zeichen. Mein Gewissen ist nun leichter, nachdem ich euch dies alles gebeichtet habe.«
Cass legte Fidelma die Hand auf den Arm.
»Warum gehen wir nicht zurück und nehmen uns den alten Ziegenbock noch einmal vor?« fragte er. »Wir sagen ihm, was wir wissen, und verlangen, daß er uns verrät, wohin sein Vetter die beiden Jungen gebracht hat.«
Fidelma schüttelte den Kopf.
»Aus einem Mann wie Pater Mel kriegen wir nichts weiter heraus«, antwortete sie. »Unser Weg führt zurück nach Ros Ailithir.«
Wieder standen sie an Bord der barc von Ross, und das Schiff schoß rasch nach Süden, hart am Wind segelnd an den schmalen, vorspringenden Halbinseln der Südküste entlang.
»Eine lange Reise für so wenig Neues«, überlegte Cass und beobachtete Fidelma, die die ramponierte Puppe immer wieder in den Händen drehte.
»Manchmal kann ein einziges Wort oder ein Satz das größte Rätsel lösen und alles erklären«, entgegnete sie.
»Was haben wir auf unserer Reise nach Sceilig Mhichil erfahren, was wir nicht schon vorher ahnten? Hätten wir den alten Mönch noch weiter gefragt .«
»Manchmal ist die Bestätigung des Wissens ebenso wichtig wie das Wissen selbst«, unterbrach ihn Fidelma. »Und wir haben die Verbindung zwischen Intat und dem mysteriösen Mord an Dacan hergestellt. Dacan suchte nach dem Sohn Illans, von dem er annahm, er habe das Alter der Wahl erreicht. Jetzt wissen wir, daß es zwei junge Söhne gibt und keinen im Alter der Wahl. Intat sucht die Nachkommen Il-lans. Dacan arbeitete für Laigin, Intat gehört zu den Corco Loigde. Das ergibt langsam ein Bild.«
»Abgesehen davon, daß Intat in die Geschichte verwickelt ist, was haben wir sonst noch erfahren?« fragte Cass.
»Wir haben erfahren, daß das Kloster auf Sceilig Mhichil den Erzengel Michael als Schutzpatron hat. Daß sogar sein Name >Fels des Michael< bedeutet. Und wir wissen jetzt, daß Mel den Mann, der die Jungen abholte, >ehrenwerter Vetter< nannte.«
Cass war nicht recht klar, ob Fidelma scherzte.
»Und inwieweit hilft uns das weiter?« fragte er.
Fidelma lächelte.
»Wir wissen schon eine ganze Menge. Es gibt zwei Erben Illans. Sie haben Sceilig Mhichil vor zwei Wochen verlassen, ungefähr zur selben Zeit, als Dacan ermordet wurde, und jetzt macht Intat Jagd auf sie. Ich meine, Intat suchte sie, als er Rae na Scrine niederbrannte. Ich glaube nicht, daß er sie gefunden hat.
Ich möchte wetten, daß sie sich in Ros Ailithir oder in unmittelbarer Nähe davon aufhalten.«
»Falls sie noch leben.« Cass zeigte plötzlich Interesse. »Wir wissen nicht einmal, wer sie sind. Zwei Jungen mit kupferrotem Haar. Mir sind keine Jungen mit solchem Haar begegnet. Ihre richtigen Namen kennen wir auch nicht. Wir wissen nur, daß Primus und Victor nicht ihre wirklichen Namen sind. Das alles ergibt noch keine Spur, die wir verfolgen können.«
»Vielleicht nicht«, gab Fidelma nachdenklich zu. »Aber andererseits .«