177533.fb2 Tod im Skriptorium - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 16

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Kapitel 14

Abt Broccs schmales Gesicht zeigte Erleichterung, als Fidelma sein Zimmer betrat.

»Ich habe soeben erst die Nachricht erhalten, daß ihr zurück seid. War deine Reise erfolgreich, Kusine?« fragte er hoffnungsvoll und erhob sich zu ihrer Begrüßung.

»Ich weiß jetzt einiges mehr«, antwortete Fidelma ausweichend.

Der Abt überlegte sichtlich, ob er seiner Kusine noch weitere Fragen stellen sollte, entschied sich aber dagegen.

»Ich habe Neuigkeiten.« Er bedeutete ihr, sich zu setzen. »Ich fürchte allerdings, es sind schlechte Nachrichten.«

Fidelma ließ sich nieder, und Brocc hielt ein Wachstäfelchen hoch.

»Gestern erhielt ich diese Botschaft: Der Großkönig wird in den nächsten Tagen hier eintreffen.«

Fidelmas Überraschung genoß er sichtlich.

»Sechnassach, der Großkönig? Er kommt hierher?«

Brocc nickte nachdrücklich.

»Er hat bestimmt, daß das Gericht die Klage Laigins gegen Muman in der Sache des Todes Dacans in der Abtei anhören soll, in der Dacan ermordet wurde. Er schreibt, es sei ...« Brocc zögerte und schielte auf das Wachstäfelchen, »... angemessen, daß die Verhandlung an diesem Ort stattfinde.«

»So?« Fidelma zog das Wort wie einen tiefen Seufzer in die Länge. »Und er bringt den ganzen Hof mit?«

»Natürlich. Der Oberrichter Barran wird mit dem Großkönig das Urteil fällen, und Erzbischof Ultan von Armagh kommt auch, um die Geistlichkeit der fünf Königreiche zu vertreten. Dein Bruder Colgü und seine Berater können ebenfalls jeden Tag hier eintreffen.«

»Und ich nehme an, König Fianamail von Laigin und seine Anwälte werden auch bald hier sein?«

»Fianamail bringt den Abt Noe und seinen Brehon Forbassach mit.«

»Forbassach! Dann wird also Forbassach das Plädoyer für Laigin halten?«

So groß ihre Abneigung gegen den falkengesichtigen Anwalt aus Laigin auch war, Fidelma wußte, daß er einen scharfen Verstand besaß und ein fähiger Vertreter des Rechts war, den man nicht unterschätzen durfte. Er würde sicher alles daransetzen, Fidelma seine Vertreibung aus Cashel heimzuzahlen.

»Wann genau ist mit ihrer Ankunft zu rechnen?« fragte sie. Das waren wirklich schlechte Nachrichten.

»In wenigen Tagen, spätestens Ende der Woche.«

Brocc machte seine Rolle als Gastgeber für eine Versammlung, bei der er selbst der Angeklagte war, sichtlich nervös. »Sag mir, Kusine, weißt du schon, wer Dacan ermordet haben könnte?«

Seine Stimme klang fast bittend, aber Fidelma konnte ihm nicht helfen.

Sie stand auf, ging zum Fenster und spähte hinunter in die Bucht.

»Als wir in Ros Ailithir einliefen, sah ich, daß Mu-grons Kriegsschiff immer noch da draußen ankert.«

Brocc ließ die Schultern hängen.

»Laigin geht nicht von seiner Klage ab, bis die Ratsversammlung zusammentritt.«

»Ich vermute, der Großkönig und sein Gefolge kommen zu Schiff?«

»Wie auch der König von Laigin und sein Hofstaat«, bestätigte Brocc. »Ich soll sie alle beherbergen. Bruder Rumann und Bruder Conghus wissen schon nicht mehr, wo sie die zusätzlichen Unterkünfte und die Verpflegung hernehmen sollen. Ach, und das bedeutet auch, daß dir das gesonderte Zimmer, in dem du die Untersuchungen geführt hast, nicht mehr zur Verfügung steht. Du kannst dein persönliches Zimmer im Gästehaus weiter benutzen, wie es deinem Rang gebührt, aber der Krieger, wie heißt er ... Cass? Er wird sich mit einem Bett in einem der Schlafsäle begnügen müssen.«

»Das läßt sich nicht ändern. Du hast viel um die Ohren mit den Vorbereitungen für die Versammlung.«

Brocc schaute sie besorgt an.

»Du auch, Kusine, denn von dir hängt unser aller Zukunft ab.«

Daran brauchte Brocc sie nicht zu erinnern. Die Worte aus dem Lukasevangelium kamen ihr in den Sinn: »Denn welchem viel gegeben ist, von dem wird man viel fordern.« Noch nie seit ihrer Zulassung zum Gericht war soviel von ihr gefordert worden. Sie spürte diese Verantwortung schwer auf sich lasten. Trotz aller ihrer Anstrengungen war sie immer noch zu keinem Ergebnis gelangt.

»Es ist nur so, daß ich anfange, mir Sorgen zu machen, Kusine«, gab Brocc zu. »Ich habe noch nie an einer Ratsversammlung des Großkönigs teilgenommen«, fuhr er fort. »Stünde ich nicht unter Anklage als Verantwortlicher in dieser Angelegenheit, dann wäre es ein erhebendes Erlebnis für mich.«

Fidelma hob spöttisch die Brauen.

»Erhebendes Erlebnis? Es könnte auch ein verhängnisvolles werden, wenn es mir nicht gelingt, dich zu entlasten und zu verhindern, daß der Anspruch Laigins zum Krieg zwischen den beiden Königreichen führt.«

Verlegenes Schweigen trat ein, dann sagte Fidelma: »Du hast mir noch nicht berichtet, ob es etwas Neues von Schwester Grella gibt. Ich nehme an, sie ist nicht zurückgekehrt?«

Brocc bestätigte ihre Vermutung.

»Nein. Sie ist nach wie vor verschwunden. Aus dem, was du mir erzählt hast, schließe ich, daß sie wohl wegen ihrer Schuld geflohen ist.«

Fidelma erhob sich.

»Das werden wir sehen. Ich brauche die Sachen, die ich dir zur Verwahrung gegeben habe.«

Brocc nickte bereitwillig und langte unter den Tisch nach den Schlüsseln. Sie sah zu, wie er zur Truhe trat und sie öffnete. Er nahm ihr marsupium heraus und reichte es ihr.

Schnell ging sie den Inhalt durch, um zu sehen, ob noch alles da sei.

Jemand hatte den Beutel durchsucht. Das angebrannte Stück Ogham-Stab und die Pergamentblätter, die sie in Schwester Grellas Zimmer gefunden hatte, fehlten. Doch die Leinenstreifen und der Rock, von dem man sie abgerissen hatte, waren noch vorhanden.

»Was ist?« fragte Brocc.

»Jemand hat einige wichtige Beweisstücke aus meinem Beutel entfernt.«

»Das verstehe ich nicht, Kusine«, sagte Brocc leise. Er sah ziemlich verwirrt aus und war vor Scham rot geworden.

»Wann hast du diese Truhe zum letztenmal geöffnet, Brocc?« fragte sie.

»Als du mich batest, den Beutel dort sicher zu verwahren.«

»Und wo hattest du die Schlüssel?«

»Sie hängen, wie du gesehen hast, an einem Haken unter diesem Tisch.«

»Und wie viele Leute wissen davon?«

»Ich dachte, ich wäre der einzige, der weiß, wo sie sind.«

»Es würde keine große Mühe bereiten, sie zu finden. Wie viele Leute wissen, daß manchmal wertvolle Dinge in der Truhe aufbewahrt werden?«

»Nur einige der höheren Geistlichen der Abtei.«

»Und es versteht sich von selbst, daß sich jeder Zutritt zu deinem Zimmer verschaffen kann, während du die Pflichten deines Amtes erfüllst?«

»Keiner der Brüder dieser Abtei würde so ein Verbrechen begehen und seinen Abt bestehlen, Kusine. Es verstößt entschieden gegen alle Regeln unseres Ordens«, erwiderte Brocc empört.

»Das tut Mord auch«, meinte Fidelma trocken. »Dennoch hat jemand in dieser Abtei sowohl Dacan als auch Schwester Eisten getötet. Du sagst, nur die höheren Geistlichen der Abtei wissen, daß manchmal Dinge von Wert hier hinterlegt werden. Wer zum Beispiel?«

Brocc rieb sich das Kinn.

»Bruder Rumann natürlich. Bruder Conghus. Unser Rektor, Bruder Segan. Bruder Midach ... ach, natürlich auch Schwester Grella. Aber sie ist nicht hier. Das sind alle.«

»Das sind genug. Hast du zufällig erwähnt, daß ich etwas bei dir hinterlegt hatte, während ich fort war?«

Brocc wurde noch röter.

»Meine höheren Mitarbeiter fragten mich allerdings, wohin du gereist seist«, gestand er zögernd ein. »Ich konnte es ihnen nicht sagen, da ich es selbst nicht wußte. Aber sie sind alle in Sorge und hoffen natürlich, daß die Morde aufgeklärt werden. Ich erzählte ihnen, du hättest schon Beweismaterial, das du hier bei mir gelassen hättest . Ja, ich glaube, ich erwähnte, daß . ich sagte, Schwester Grella sollte festgesetzt werden, bis du zurückkämst, und .«

»Also würde jemand nicht lange brauchen, den Aufbewahrungsort der Schlüssel zu finden. Du hättest ihnen auch gleich eine Beschreibung liefern können«, stellte Fidelma verärgert fest. Brocc machte eine hilflose Geste. »Es tut mir wirklich leid.«

»Mir auch, Brocc«, sagte Fidelma. Broccs Sorglosigkeit hatte zum Verlust der entscheidenden Beweisstücke geführt. »Der Diebstahl wird mich nicht daran hindern, die Schuldigen aufzuspüren, aber möglicherweise hindert er mich daran, ihnen ihre Schuld nachzuweisen.« Damit verließ sie das Zimmer.

Die erste Person, die ihr begegnete, als sie über die Höfe zum Gästehaus eilte, war Schwester Necht. Sie schien zu erschrecken, als sie Fidelmas ansichtig wurde.

»Ich dachte, du seist abgereist«, grüßte sie mit ihrer langsamen, dunklen Stimme.

Fidelma schüttelte den Kopf.

»Ich kann nicht fort, ehe nicht meine Untersuchung abgeschlossen ist.«

»Ich habe gehört, du hast angeordnet, Schwester Grella festnehmen zu lassen.«

»Schwester Grella ist verschwunden.«

»Ja. Jeder weiß das und glaubt, daß sie geflohen ist. Hat schon mal jemand auf Salbachs Burg in Cuan Doir nach ihr gesucht?« sagte die Novizin.

»Weshalb?« fragte Fidelma überrascht.

»Weshalb?« Schwester Necht rieb sich das Gesicht und überlegte einen Moment. »Weil sie dort häufig zu Besuch war, ohne es jemandem zu sagen. Sie ist eng mit Salbach befreundet.« Necht hielt inne und lächelte. »Ich weiß das, weil Schwester Eisten es mir erzählt hat.«

»Was hat Eisten dir erzählt?«

»Ach, daß Grella sie einmal auf Salbachs Burg eingeladen hat, weil Salbach sich angeblich für das Waisenhaus interessierte. Sie meinte, die beiden seien eng befreundet.«

Fidelma blickte eine Weile in die arglosen Augen der Novizin.

»Ich habe gehört, Midach sei dein anamchara, dein Seelenfreund?«

Fidelma wunderte sich, daß die Frage solche Panik im Gesicht der Novizin auslöste. Doch im nächsten Moment hatte sich Necht wieder unter Kontrolle.

»Das stimmt«, sagte sie lächelnd.

»Kennst du Midach schon lange?«

»Die meiste Zeit meines Lebens. Er war ein Freund meines Vaters und brachte mich hierher in die Abtei.«

Fidelma fragte sich, wie sie das Thema, das sie im Sinn hatte, am geschicktesten anschneiden sollte, und entschied sich für den direkten Weg.

»Du brauchst dir Kränkungen nicht gefallen zu lassen, weißt du«, sagte sie. Sie dachte an Midachs rauhen Umgang mit ihr, an den Schlag auf den Hinterkopf.

Schwester Necht errötete.

»Ich weiß nicht, was du meinst«, erwiderte sie.

»Ich habe zufällig mitbekommen, wie Midach dich für irgend etwas ausgeschimpft hat, und hatte den Eindruck, er hätte dich geschlagen. Es war im Kräutergarten vor einer Woche, kurz bevor ich wegfuhr.«

Nechts Gesicht spiegelte nicht nur Beschämung, sondern auch Furcht wider.

»Es war ... es war nichts. Ich hatte einen Auftrag von Midach nicht erfüllt. Er ist ein guter Mensch. Manchmal geht sein Temperament mit ihm durch. Du wirst das doch nicht dem Abt berichten? Bitte nicht.«

»Wenn du es nicht willst, Necht, tue ich es natürlich nicht«, beruhigte sie Fidelma. »Doch niemand, vor allem keine Frau, sollte sich von anderen beschimpfen lassen. Nach dem Bretha Nemed ist es ein Verstoß gegen das Gesetz, eine Frau zu belästigen oder sie mit Worten zu beleidigen. Weißt du das?«

Schwester Necht schüttelte den Kopf und senkte den Blick.

»Keine Frau muß Beleidigungen einfach hinnehmen«, fuhr Fidelma fort. »Eine Beleidigung muß kein tätlicher Angriff sein, auch wenn jemand eine Frau verhöhnt, ihr Aussehen kritisiert, auf ihre körperlichen Fehler hinweist oder sie ungerecht und wahrheitswidrig beschuldigt, kann sie die Hilfe des Gesetzes in Anspruch nehmen.«

»So ernst war es nicht, Schwester«, sagte Necht leise. »Ich danke dir für deine Anteilnahme, aber Midach hat es wirklich nicht böse gemeint.«

Die Glocke rief zum Mittagsgebet, Schwester Necht murmelte eine Entschuldigung und lief davon.

An dieser Sache ist offenbar doch mehr dran, dachte Fidelma bei sich. Ein unverkennbarer Schatten von Furcht hatte sich auf das Gesicht des jungen Mädchens gelegt, als Fidelma die Szene im Kräutergarten erwähnte. Nun, sie konnte nicht mehr tun, als Necht auf ihre Rechte hinweisen. Vielleicht sollte sie mit Mi-dach sprechen.

An der Tür des Gästehauses traf sie Cass.

»Weißt du schon das Neueste?« rief er aufgeregt.

»Was denn?« fragte Fidelma.

»Der Großkönig kommt hierher. Die ganze Abtei redet nur noch davon.«

»Ach das!« meinte Fidelma geringschätzig.

»Ich dachte, das wäre wichtig für dich. Dir bleibt nicht mehr viel Zeit, die Verteidigung Mumans gegen die Ansprüche Laigins vorzubereiten.«

»Wirklich, Cass, ich brauche nicht an meine Verantwortung erinnert zu werden«, erwiderte Fidelma. »Es gibt eine schlimmere Neuigkeit als die von der bevorstehenden Ratsversammlung: jemand hat ein paar unserer Beweisstücke aus Broccs Zimmer gestohlen. Anscheinend hat der Trottel von Abt mehreren Leuten gegenüber erwähnt, daß ich sie bei ihm gelassen habe.«

»Wieso nur ein paar der Beweisstücke?« fragte Cass. »Warum hat man nicht den ganzen Beutel gestohlen?«

Fidelma begriff sofort die Bedeutung seiner Worte. Sie hatte das Nächstliegende übersehen. Nur der Og-ham-Stab und das Pergament fehlten. Die Fesseln und Grellas Rock, von dem sie abgerissen wurden, waren jedoch noch da. Warum war der Dieb so wählerisch vorgegangen?

Sie überlegte einen Moment.

»Wo willst du jetzt schon wieder hin?« fragte Cass, als Fidelma plötzlich zur Abteikirche loslief.

»Es gibt etwas, das ich hätte tun sollen, bevor wir nach Sceilig Mhichil aufbrachen«, rief sie über die Schulter zurück. »Schwester Necht hat mich gerade daran erinnert.«

»Schwester Necht?«

Cass trottete hinter ihr her. Fidelmas plötzliche Einfälle machten ihm zu schaffen. Er wünschte, sie wäre mitteilsamer und weniger spontan.

»Mir scheint, wir rennen hierhin und dorthin, aber je mehr wir hin- und herrennen, desto weniger nähern wir uns unserem Ziel«, beklagte er sich. »Ich dachte, unsere Vorfahren hätten uns gelehrt, daß Geschäftigkeit nicht unbedingt Fortschritt bedeutet.«

Fidelma hatte im Moment wirklich andere Sorgen und ärgerte sich über die Bemerkung des Kriegers.

»Wenn du die Morde aufklären kannst, indem du im Zimmer sitzt und die Wand anstarrst, dann tu es bitte.«

Ihr Ton ließ Cass zusammenzucken.

»Ich sag ja gar nichts dagegen, aber was soll uns ein Besuch der Abteikirche bringen?«

»Wart’s ab«, erwiderte Fidelma kurz.

Als sie die Stufen hinaufstiegen, kam ihnen Bruder Rumann entgegen.

»Ich habe gehört, ihr seid aus Sceilig Mhichil zurück«, begrüßte er sie. »Wie war die Reise? Habt ihr etwas erfahren?«

»Die Reise war schön«, antwortete Fidelma ruhig, »aber woher weißt du, daß wir nach Sceilig Mhichil gefahren sind?«

Sie hatte sorgfältig darauf geachtet, nicht einmal ihrem Vetter Brocc zu verraten, wohin sie wollten. Niemand in der Abtei konnte es also wissen. Sie war sofort auf der Hut.

Rumann blickte verlegen drein.

»Ich weiß nicht. Irgend jemand hat es erwähnt. Es könnte Bruder Midach gewesen sein. War das Ziel deiner Reise etwa geheim?«

Fidelma gab darauf keine Antwort, sondern wechselte das Thema.

»Ich habe gehört, das Grab des heiligen Fachtna befindet sich in der Abteikirche. Kannst du mir sagen, wo es ist?«

»Natürlich.« Rumann wuchs förmlich vor Stolz. »Es ist das Ziel von Pilgerfahrten am vierzehnten Tag des Lunasa-Festes, seinem Feiertag. Ich zeige es dir, Schwester.«

Keuchend eilte er das lange Hauptschiff entlang und durch das Querschiff zum Hochaltar.

»Wißt ihr, daß Fachtna blind war, als er an diesen Ort kam, und mit Hilfe eines großen Wunders hier in Ros Ailithir wieder sehend wurde? Zum Dank erbaute er diese Abtei.« erzählte Rumann.

»Ich weiß«, antwortete Fidelma, ließ sich aber von der Begeisterung des Verwalters für dieses Thema nicht anstecken.

Rumann führte Fidelma und Cass die Stufen zum Hochaltar hinauf und dann um ihn herum in die Apsis, den gewölbten halbrunden Raum hinter dem Altar, wo ein Priester oder der Abt selbst die Zeremonie der »Entlassung« nach den Riten der Kirche vorzunehmen pflegte. In den Boden der Apsis war eine große Sandsteinplatte eingelassen, die etwa eine Handbreit über ihn hinausragte. Merkwürdigerweise stand am Kopfende der Platte auf einem kleinen Steinsockel die Statue eines Cherub. Am Fußende befand sich ein ähnlicher Sockel mit einem Seraph darauf.

»Ihr seht nur ein einfaches Kreuz«, erklärte ihnen Rumann, »und den Namen Fachtna in der alten Og-ham-Schrift.«

»Kannst du Ogham lesen?« fragte Fidelma harmlos.

»Meine Rolle als Verwalter der Abtei verlangt von mir die Kenntnis vieler Wissensgebiete.« Rumanns rundliches Gesicht drückte Selbstzufriedenheit aus.

Fidelma wandte sich wieder der Steinplatte zu.

»Was befindet sich unter dem Stein?« erkundigte sie sich.

Rumann sah sie fragend an.

»Nun, die Grabstätte Fachtnas natürlich. Es ist die einzige ihrer Art innerhalb der Klostermauern.«

»Ich meine, wie ist das Grab beschaffen? Ist es ein Loch im Boden, eine Höhle oder was?«

»Niemand hat es geöffnet, seit Fachtna vor mehr als einem Jahrhundert darin beigesetzt wurde.« »Wirklich?«

»Möglicherweise liegt der heilige Fachtna in einer Art Gruft oder Höhle begraben. Doch es wäre ein Sakrileg, das Grab zu öffnen, um das festzustellen.«

»Auch von dem ummauerten Garten hinter der Kirche gibt es keinen Zugang zur Grabstätte?« fragte Fidelma.

Rumann starrte sie verwundert an.

»Nein. Wie kommst du darauf?«

»Man kann also nur in die Grabstätte gelangen, indem man diese Sandsteinplatte anhebt. Dazu scheint sie zu schwer zu sein.«

»So ist es, Schwester. Seit mehr als hundert Jahren hat niemand sie bewegt.«

Cass stellte Rumann ein paar Fragen nach dem heiligen Fachtna und lenkte den Verwalter damit ab, denn er hatte gemerkt, daß Fidelma eine Weile ungestört sein wollte.

Fidelma ließ sich neben der mächtigen Steinplatte auf ein Knie nieder und berührte mit der Hand das, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Es war schlüpfrig und kalt. Kerzenwachs war in eine Spalte neben dem alten Stein getropft.

Jemand betrat geräuschvoll die Kirche. Fidelma stand rasch auf und sah, daß es Bruder Conghus war. Aufgeregt winkte er Bruder Rumann zu.

Der Verwalter entschuldigte sich und eilte durch das Kirchenschiff davon.

»Es gibt einen Weg in die Grabstätte, das schwöre ich«, flüsterte Fidelma Cass zu, als er fort war.

»Wie kommst du darauf? Und was hat das mit unserer Angelegenheit zu tun?«

»Sieh dir dieses Kerzenwachs an und sag mir, was du feststellst.«

Cass blickte nach unten.

»Es ist einfach Kerzenwachs. So etwas gibt es häufig in Kirchen. Man kann sich ein Bein brechen, wenn man darauf ausrutscht, deshalb muß man immer aufpassen, wo man hintritt.«

»Ja. Aber gewöhnlich ist das Kerzenwachs da, wo es hingehört, nämlich unter den Leuchtern. Aber hier gibt es keine Kerzenleuchter. Und sieh mal, wie es gefallen ist.«

»Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.«

»Also wirklich, Cass. Schau hin. Zieh deine Schlüsse. Siehst du, daß die Kante der Steinplatte eine gerade Linie bildet, wo sie auf dem Boden ruht? Ringsum sind Spritzer von Kerzenwachs. Guck dir das genauer an. Es sieht aus, als wäre das Wachs dort hingetropft, bevor man die Platte hinlegte, als wäre die Platte darüber gerückt worden.«

Cass rieb sich verwirrt den Nacken.

»Möglich, und was heißt das?«

Sie stöhnte und ließ sich auf beide Knie nieder. Sie packte die Platte und versuchte sie erst in die eine Richtung, dann in die andere zu schieben, doch ihre Anstrengungen blieben vergeblich.

Schließlich stand sie widerwillig auf.

»In dieser Grabstätte befindet sich ein wichtiger Schlüssel zu unserem Geheimnis«, meinte sie nachdenklich. »Jemand hat sie geöffnet, und zwar erst kürzlich. Ich glaube, allmählich sehe ich einen Weg durch das Dunkel ...«

Bruder Rumann kam wieder zu ihnen geeilt. Man sah ihm an, daß er etwas Wichtiges mitzuteilen hatte.

»Schwester Grella ist gesehen worden«, platzte er heraus.

»Ist sie in die Abtei zurückgekehrt?« fragte Fidelma aufgeregt.

Rumann verneinte.

»Jemand sah sie mit Salbach im Wald von Dor reiten. Anscheinend hat der Fürst der Corco Loigde sie gefunden. Entschuldigt, aber ich muß die Nachricht sofort dem Abt überbringen.«

Fidelma sah ihm nach, wie er davoneilte.

»Ich glaube, nun ist unser Rätsel bald gelöst, was?« stellte Cass freudig fest.

»Wieso?« fragte Fidelma.

»Wenn Salbach Schwester Grella gefunden hat, dann haben wir die Schuldige. Du hast doch selbst die Anordnung gegeben, sie festzunehmen. Sie ist diejenige, die von den Indizien am schwersten belastet wird«, erklärte er. »Sicherlich hat sie die Beweisstücke aus dem Zimmer des Abts gestohlen.«

»Aber Schwester Grella ist seit ihrem Verschwinden nicht mehr in der Abtei gesehen worden.«

»Na, vielleicht ist sie unbemerkt zurückgekommen. Ich meine, da hast du deinen Dieb, und wenn sie der Dieb ist, dann ist sie auch die Mörderin Dacans. Sie wußte sicher, daß die Beweisstücke in dem marsupi-um das belegten. Ist doch logisch, daß sie sie vernichten wollte. Wahrscheinlich hat sie von jemandem in der Abtei erfahren, daß Brocc sie hatte.«

Fidelma sah ihn nachdenklich an. Die noch vorhandenen Beweisstücke belasteten Grella eher stärker, als daß sie sie entlasteten. Sie beschloß, das vorerst für sich zu behalten.

»Es ist eine mögliche Erklärung«, gab sie zu. »Wo befindet sich der Wald von Dor?«

»Salbachs Burg liegt zwischen diesem Wald und dem Meer, es ist kaum eine Viertelstunde zu reiten von hier«, antwortete Cass. »Vielleicht treffen wir unterwegs Salbach, der Grella in die Abtei zurückbringt.«

»Vielleicht«, murmelte Fidelma. »Ich glaube eher, wir werden auf diesem Ritt einiges andere über Grella und Salbach erfahren. Holen wir unsere Pferde aus dem Stall.«