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»Wohin jetzt schon wieder, Schwester?« fragte Cass, als Fidelma ihr Pferd nicht auf den Weg zur Abtei von Ros Ailithir lenkte, sondern weiter nach Westen ritt.
»Zurück zu Salbachs Burg«, erwiderte Fidelma. »Wir werden ihm diese neue Greueltat vorhalten.«
»Das könnte gefährlich werden, Schwester«, wandte Cass ein. »Du sagst, Intat sei Salbachs Gefolgsmann. Wenn das so ist, dann hat Salbach selbst dieses Verbrechen befohlen.«
»Salbach ist immer noch der Fürst der Corco Loig-de. Er wird es nicht wagen, sich an einer dalaigh bei Gericht und Schwester seines Königs zu vergreifen!«
Cass gab keine Antwort. Seiner Ansicht nach hatte Salbach mit der Billigung von Intats Gewalttat bewiesen, daß ihm seine Ehre und sein Eid als Fürst gleichgültig waren. Wenn er das Hinschlachten von unschuldigen Kindern, Männern und Frauen befohlen hatte, dann würde er auch nicht zögern, jeden anderen zu beseitigen, der eine Bedrohung für ihn darstellte. Erst nachdem sie den Weg nach Cuan Doir ein ganzes Stück geritten waren, wagte er einen Vorschlag: »Wäre es nicht besser, wir würden warten, bis dein Bruder Colgü mit seiner Leibwache eingetroffen ist, und Sal-bach dann verhören?«
Fidelma schwieg. Sie war entschlossen, Intat zur Strecke zu bringen. Wenn Salbach Intat deckte, dann mußte er eben auch fallen. In ihrem Zorn verschloß sie sich der Logik, war sie nicht in der Lage, innezuhalten und nachzudenken.
Cuan Doir schien so friedlich wie immer, als sie direkt auf den Eingang zu Salbachs Burg zuritten. Es war nicht vorstellbar, daß einen kurzen Ritt entfernt ein ganzer Bauernhof und über zwanzig Menschen, Erwachsene und Kinder, niedergemacht worden waren.
Die Torwächter waren noch dieselben. Sie standen gelangweilt gegen die Torpfosten gelehnt da. Wieder sagte einer von ihnen, Salbach sei nicht in der Burg, aber diesmal blinzelte er Fidelma vielsagend zu.
»Wahrscheinlich ist er wieder auf der Jagd im Wald, Schwester.«
Fidelma bezwang ihren hochkochenden Zorn.
»Damit du’s weißt, Krieger, ich bin eine dalaigh bei Gericht. Außerdem bin ich die Schwester von König Colgü von Cashel«, erwiderte sie so ruhig, wie es ihr möglich war.
Die Torwächter wurden unsicher und nahmen Haltung an.
»Das ändert nichts an meiner Antwort, Schwester«, verteidigte sich der erste. »Du kannst absitzen und selbst in den Hallen von Cuan Doir nach Salbach suchen, du wirst ihn nicht finden. Vor einer Weile war er hier, aber er ist wieder in den Wald von Dor geritten.«
»Wann war das?« fragte Cass.
»Vor wenigen Minuten. Ich nehme an, er hatte eine Verabredung in der Holzfällerhütte. Mehr weiß ich nicht.«
Fidelma winkte Cass, ihr zu folgen.
»Wieder zur Holzfällerhütte?« rief Cass.
»Dort fangen wir an«, stimmte ihm Fidelma zu. »Salbach sucht anscheinend nach Grella.«
In scharfem Trab verfolgten sie den Weg nach Norden in den Wald, durchquerten den Fluß an der Furt und wandten sich dann zu der kleinen Hütte auf der Lichtung. Sie brauchten nicht lange dazu. Fidelma machte sich diesmal nicht die Mühe, sich zu verstek-ken. Sie ritt geradewegs auf die Hütte zu und hielt davor an.
»Salbach von den Corco Loigde! Bist du dort drin?« rief sie, ohne abzusitzen. Sie erwartete keine Antwort, denn Salbachs Pferd war nirgends zu sehen.
Schweigen.
Cass schwang sich vom Pferd, zog sein Schwert und ging vorsichtig auf die Hütte zu. Er stieß die Tür auf und verschwand im Inneren.
Einen Augenblick später kam er zurück, das Schwert noch in der Hand.
»Keine Spur von einem Menschen«, berichtete Cass verärgert. »Was nun?«
»Sehen wir uns in der Hütte um«, antwortete Fidelma. »Vielleicht finden wir einen Hinweis darauf, wo Salbach sein könnte.«
Fidelma stieg ab. Sie banden ihre Pferde an und gingen in die Hütte. Sie sah unverändert aus.
»Ich glaube nicht, daß Salbach weit weg ist«, murmelte Fidelma. »Wenn er herausgefunden hat, daß wir Grella in die Abtei gebracht haben, und ihm viel an ihr liegt, dann ist er vielleicht dorthin geritten, um ihre Freilassung zu verlangen.«
Cass wollte gerade antworten, als sie Hufschlag vor der Hütte vernahmen. Cass ging zur Tür, doch bevor er sie erreichte, wurde sie aufgerissen. Ein stämmiger, rotgesichtiger Mann mit einem stählernen Helm und einem pelzbesetzten Wollmantel trat ihm entgegen. Er trug eine goldene Amtskette und hatte sein Schwert gezogen; hinter ihm standen drei weitere Krieger. Seine Augen leuchteten triumphierend auf, als er Cass und Fidelma erblickte. Sein Bild hatte sich Fidelma fest ins Gedächtnis gebrannt. Es war Intat.
»Nanu!« rief er und lachte vergnügt, »da haben wir ja die Störenfriede. Und wo ist Salbach?«
»Nicht hier, wie du siehst«, erwiderte Cass ruhig.
»Nicht hier?« Intat sah sich um, als wolle er sich vergewissern. »Ich habe ihm doch gesagt ...«, begann er, schloß aber plötzlich den Mund und starrte sie von der Schwelle her drohend an.
»Es ist also weiter niemand hier als ihr beide?«
Fidelma stand ruhig da und betrachtete den Mann aus zusammengekniffenen Augen.
»Wie du siehst, Intat. Steck dein Schwert ein. Ich bin eine dalaigh bei Gericht und Schwester deines Königs Colgü. Steckt eure Waffen ein und kommt mit nach Ros Ailithir.«
Die Augen des rotgesichtigen Mannes weiteten sich wie vor Erstaunen. Er drehte sich halb zu den Männern um, die draußen vor der Hütte standen.
»Hört ihr, was sie sagt?« Er lachte mißtönend. »Sie sagt, wir sollen unsere Waffen niederlegen. Paßt auf, Männer, denn dieses kleine Mädchen ist eine mächtige dalaigh bei Gericht und zugleich eine Nonne. Ihre Worte verwunden und erledigen uns, wenn wir uns nicht in acht nehmen.«
Seine Leute brüllten vor Lachen, als hätte ihr Anführer einen Witz gemacht.
Intat wandte sich wieder zu Fidelma und zog ein höhnisches Gesicht, das ihn häßlich aussehen ließ.
»Du hast uns entwaffnet, Lady. Wir sind deine Gefangenen.«
Er ließ sein Schwert nicht sinken.
»Meinst du, du wärst nicht verantwortlich für deine Taten, Intat?« fragte sie leise.
»Ich bin nur meinem Fürsten verantwortlich«, höhnte Intat.
»Es gibt eine höhere Autorität als deinen Fürsten«, fuhr Cass ihn an.
»Keine, die ich anerkenne«, erwiderte Intat. »Leg deine Waffe nieder, Krieger, dann geschieht dir kein Leid. Das verspreche ich.«
»Ich habe gesehen, wie du die behandelst, die wehrlos sind«, antwortete Cass spöttisch. »Die Bewohner von Rae na Scrine und die kleinen Kinder auf Moluas Hof hatten keine Waffen. Ich mache mir keine Illusionen über den Wert deiner Versprechungen.«
Intat lachte wieder laut, als belustige ihn der Trotz des Kriegers.
»Dann hast du soeben dein eigenes Urteil gesprochen, du Welpe von Cashel. Berate dich lieber mit der guten Schwester und denke über dein Schicksal nach. Entweder kommst du jetzt um, oder du ergibst dich und lebst noch eine Weile länger. Ich laß euch einen Moment Zeit, darüber zu reden.«
Der rotgesichtige Mann zog sich zu seinen grinsenden Kumpanen zurück, die sich an der Tür drängten.
Cass trat ebenfalls ein paar Schritte zurück, tiefer in die Hütte hinein, das Schwert nach wie vor gezückt.
»Stell dich hinter mich, Schwester«, befahl er ruhig, beinahe aus dem Mundwinkel in so leisem Ton, daß sie ihn kaum hörte. Seinen Blick hielt er fest auf Intat und seine Krieger gerichtet.
»Es gibt keinen Ausweg«, flüsterte sie zur Antwort. »Ergeben wir uns?«
»Du hast gesehen, wozu der Mann fähig ist. Lieber kämpfend sterben als sich wie Schafe abschlachten lassen.«
»Aber die da draußen sind in der Überzahl. Ich hätte auf dich hören sollen, Cass. Wir haben keine Möglichkeit zu entkommen.«
»Einer schon, aber nicht beide«, antwortete Cass leise. »Hinter mir links führt eine Treppe zum Boden. Da oben gibt es ein Fenster. Das habe ich gerade gesehen. Während ich sie aufhalte, rennst du die Treppe rauf und springst aus dem Fenster. Draußen greifst du dir ein Pferd und versuchst in den Schutz der Abtei zu gelangen. Dort kann dich Intat nicht angreifen.«
»Ich kann dich doch hier nicht allein lassen, Cass«, protestierte Fidelma.
»Einer muß versuchen, es nach Ros Ailithir zu schaffen«, erwiderte Cass ruhig. »Der Großkönig ist schon dort, und du kannst seine Truppen holen. Tust du es nicht, kommen wir beide vergebens um. Ich kann sie eine Weile aufhalten. Das ist unsere einzige Chance.«
»He!«
Intat trat einen Schritt vor, ein Lächeln auf seinem roten Gesicht, das Fidelma erschauern ließ.
»Ihr habt genug geredet. Ergebt ihr euch jetzt?«
»Nein, das tun wir nicht«, antwortete Cass. Dann schrie er plötzlich: »Los!«
Damit war Fidelma gemeint. Sie raste die Treppe hinauf. Oft hatte sie sich in der troid-sciathagid geübt, der alten Form des waffenlosen Kampfes, und diese körperliche Ertüchtigung hatte sie gewandt und muskulös werden lassen. Mit wenigen Schritten hatte sie die oberste Stufe erreicht und schwang sich mit einer einzigen fließenden Bewegung aus dem Fenster.
Unter ihr in der Hütte vernahm sie das Klirren von Metall gegen Metall und die schrecklichen tierischen Schreie von Männern, die einander töten wollen.
Neben ihr schlug etwas in die Wand ein. Es war ein Pfeil, der nächste streifte ihren Unterarm. Sie versagte es sich, zurückzublicken, ließ sich fallen und landete auf dem weichen Waldboden hinter der Hütte, auf allen vieren wie eine Katze. Im nächsten Augenblick war sie auf den Beinen und rannte um die Hütte herum zu den Pferden. Außer ihrem und Cass’ Pferd standen dort noch vier, die Intat und seinen Leuten gehörten. Die Männer drängten sich an der Tür der Hütte, wo der Kampf tobte.
Sie stürmte auf das nächste Pferd zu.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie einer von Intats Männern sich umschaute. Er bemerkte sie und stieß einen Wutschrei aus. Ein weiterer Krieger drehte sich um. Im Gegensatz zu seinem Kameraden trug er kein Schwert, sondern einen Bogen, und er legte bereits einen Pfeil ein. Der erste lief mit erhobenem Schwert auf dasselbe Pferd zu wie sie.
Fidelma erkannte, daß sie das Pferd nicht vor ihm erreichen würde, blieb stehen, fuhr herum und stellte sich ihm sprungbereit entgegen.
Das letztemal hatte Fidelma ihre Fähigkeiten im troid-sciathagid gegen eine riesige Frau in einem römischen Bordell eingesetzt. Sie konnte nur hoffen, daß sie noch gut in Form war. Sie ließ den Mann herankommen, duckte sich, packte ihn am Gürtel und benutzte seinen eigenen Vorwärtsschwung, um ihn über ihre Schulter zu schleudern.
Mit einem Schrei der Überraschung flog er mit dem Kopf voran gegen ein Holzfaß, das zerbrach und ihn mit Wasser überschüttete.
Fidelma duckte sich erneut, als sie das Schwirren einer Bogensehne hörte. Sie spürte den Luftzug des Pfeils, der dicht an ihrem Kopf vorbeiflog. Dann schwang sie sich in den Sattel und stieß dem Pferd die Fersen in die Flanken. Mit einem erschrockenen Wiehern setzte das Pferd über die Lichtung und in den Wald.
Sie hörte erneut Schreie hinter sich, und ihr war klar, daß wenigstens einer von Intats Männern aufgesessen war und sie verfolgte. Ob ein weiterer ihm nachkam, das wußte sie nicht. Sie hatte nur Intat und drei Männer an der Tür der Hütte gesehen. Der, den sie gegen das Faß geschleudert hatte, würde wohl so bald nicht in der Lage sein, ihr nachzusetzen. Mit Intat selbst würde Cass hoffentlich fertig werden. Sie mußte ihren Verfolger abschütteln. Bis zur Abtei war es nicht weit.
Sie schlug den Weg durch den Wald nach Ros Ai-lithir ein und betete, daß der Großkönig bereit sein würde, sofort seine Männer Cass zu Hilfe zu schik-ken. Sie hoffte auch, daß ihr Entkommen Intat von Cass ablenken und Cass die Gelegenheit zur Flucht geben würde, so wie er ihr diese Möglichkeit verschafft hatte.
Nun bereute sie bitter, daß sie Cass’ Rat nicht befolgt hatte.
Tief auf den Hals ihres Pferdes gebeugt, hörte sie sich scharfe Flüche ausstoßen, die ihre Oberin, die Äbtissin von Kildare, zum Erröten gebracht hätten. Sie blickte über die Schulter zurück.
Zwei Reiter folgten ihr in einigem Abstand. In dem ersten erkannte sie Intat selbst. Ihr Herz wurde schwer. Sie versuchte, nicht daran zu denken, was das zu bedeuten hatte. Ohne Zweifel ritt Intat ein stärkeres Pferd als Fidelma, denn er holte deutlich auf.
Verzweifelt lenkte Fidelma ihr Pferd von dem Hauptweg ab in der Hoffnung, daß es querfeldein gutmachen könnte, was es auf gerader Strecke gegenüber den Verfolgern verlor. Es war ein Fehler, denn da sie das Gewirr der Waldwege nicht kannte, wurde sie noch langsamer als auf dem Hauptweg. Intat kam immer näher. Sie hörte schon den Hufschlag seines Pferdes und seine keuchenden Atemzüge.
Plötzlich versperrte ihr ein Fluß den Weg. Es war derselbe Fluß, der an der Holzfällerhütte vorbeifloß und dann einen Bogen schlug. Ihr blieb nichts weiter übrig, als hineinzureiten in der Hoffnung, daß er so flach wie bei der Hütte und zu durchfurten wäre. Es war nicht so. Mitten im Fluß stolperte ihr Pferd, verlor den Grund unter den Füßen und wälzte sich voller Panik im Wasser. Fidelma wurde abgeworfen und von der Strömung fortgerissen, das Pferd fand wieder Boden und sprang ans Ufer.
Verzweifelt schwamm Fidelma weiter, aber Intat trieb bereits sein Pferd in den Fluß.
Er stieß einen lauten Triumphschrei aus.
Sie wandte sich um, sah ihn kommen und versuchte verzweifelt, das jenseitige Ufer zu erreichen. Im Innern erkannte sie, daß ein Entkommen unmöglich war. Sie watete ans Ufer, stolperte und glitt im Schlamm aus.
Intats Pferd bäumte sich, mit den Vorderhufen in der Luft, schon beinahe über ihr. Der vierschrötige Krieger sprang aus dem Sattel und stand im flachen Wasser vor ihr, beide Hände am Schwertgriff.
»So, dalaigh, du hast mir genug Ärger gemacht. Jetzt ist Schluß damit.«
Er hob das Schwert.
Fidelma zuckte zusammen, riß unwillkürlich die Arme zur Abwehr hoch und schloß die Augen.
Sie hörte Intat schwer aufstöhnen, und als nichts geschah, öffnete sie die Augen wieder.
Intat starrte sie blicklos an. Er stand taumelnd vor ihr. Dann sackte er langsam zusammen. Da erst sah sie die beiden Pfeilschäfte in seiner Brust stecken. Das Schwert entglitt seinen Händen, und er fiel vornüber ins Wasser.
Mit einem Schrei, der mehr der Ausbruch ihrer aufgestauten Erregung war als ein Hilferuf, kletterte sie rasch das schlammige Ufer hinauf.
Pferde tänzelten um sie herum, und sie stellte sich der neuen Bedrohung entgegen.
»Fidelma!« rief eine vertraute Stimme.
Ungläubig sah sie, wie ihr Bruder sich aus dem Sattel schwang und mit ausgestreckten Armen auf sie zulief.
»Colgü!«
Er umarmte sie stürmisch, hielt sie dann auf Armeslänge ab und betrachtete sie mit besorgten Blicken. Als er sah, daß sie unverletzt war, grinste er spöttisch.
»Wie ist das nun mit der Schwester, die sagte, sie könnte selbst auf sich aufpassen?«
Sie strich sich die Tränen der Erleichterung aus den Augen. Auf der anderen Seite des Flusses hatten einige Männer der Leibgarde Colgüs den Gefolgsmann In-tats eingefangen.
»Ihr seid gerade im richtigen Augenblick gekommen«, sagte sie stockend. »Wie habt ihr das gemacht?«
Colgü verzog das Gesicht und wies auf einen Trupp von etwa dreißig Berittenen unter seinem Banner.
»Wir sind auf dem Wege nach Ros Ailithir zu der Ratsversammlung, die der Großkönig einberufen hat. Meine Späher sahen, wie du verfolgt wurdest, und wir schritten ein. Aber wo ist Cass? Ich gab ihm den Auftrag, dich zu beschützen.«
»Cass ist dahinten im Wald in einer Holzfällerhütte«, antwortete Fidelma besorgt. »Er wollte versuchen, unsere Angreifer aufzuhalten, während ich entkam und Hilfe aus Ros Ailithir holen wollte. Wir müssen sofort zu ihm. Er kämpfte mit Intat.« Sie zeigte auf den Körper, der nun im flachen Wasser lag. »Wir müssen uns beeilen, denn er könnte verwundet sein.«
Colgüs Gesicht wurde ernst.
»Gut. Unterwegs mußt du mir erklären, was sich hier abspielt. Wer ist ... wer war dieser Intat?«
Einer von Colgüs Männern hatte Intats Körper aus dem Fluß gezogen und beugte sich über ihn.
»Der Mann lebt noch, Mylord«, rief der Krieger. »Aber wohl nicht mehr lange.«
Fidelma ging zu dem schlammigen Ufer, wo der Krieger nun Intats Kopf und Schultern hielt. Sie hockte sich neben ihm hin und nahm den Kopf in beide Hände.
»Intat!« rief sie laut. »Intat!«
Die dunklen Augen des Mannes öffneten sich, doch sie zeigten kein Erkennen.
»Du stirbst, Intat. Willst du in Sünde sterben?«
Er antwortete nicht.
»Wer hat dir befohlen, die Kinder hinzuschlachten?«
Er gab keine Antwort.
»War es Salbach? Gab er den Befehl?«
Sie sah, wie seine Lippen sich bewegten, und beugte sich vor, um seine letzten Worte hören zu können.
»Ich ... ich treffe ... treffe dich ... in der ... Hölle!«
Sein Körper zuckte plötzlich krampfhaft und lag dann still. Colgüs Krieger zog die Achseln hoch und schaute Fidelma an.
»Tot«, sagte er lakonisch.
Fidelma erhob sich. Ihr Bruder reichte ihr die Hand und half ihr die Uferböschung hinauf.
»Weshalb hast du ihn nach Salbach gefragt?« erkundigte er sich neugierig. »Was geht hier vor?«
»Intat war einer von Salbachs Gefolgsleuten.«
»War Salbach für das hier verantwortlich?«
Fidelma wies auf den gefangenen Gefolgsmann In-tats.
»Laß ihn von deinen Leuten verhören. Ich bin sicher, daß er Salbach in dieser Angelegenheit belasten wird. Wir müssen jetzt schnellstens Cass suchen.«
Colgü ließ sich von einem seiner Männer einen trockenen Mantel geben und legte ihn Fidelma um die Schultern. Sie zitterte vor Kälte und Nässe und wohl auch vor nervlicher Erschöpfung. Colgü half ihr aufs Pferd und erteilte Befehle. Als alle aufgesessen waren, überschritten Colgü und seine Leibgarde mit ihrem Gefangenen den Fluß auf der Furt. Sie folgten dem Weg in den Wald nördlich von Cuan Doir. Unterwegs erklärte Fidelma ihrem Bruder, was vorgefallen war.
»Und wie hängt das alles mit dem Mord an Dacan zusammen?« wollte Fidelmas Bruder wissen.
»Im einzelnen ist mir das noch nicht klar, doch du kannst mir glauben, daß da eine Verbindung besteht. Und das werde ich auch vor der Ratsversammlung des Großkönigs so darlegen.«
»Du weißt, daß die Versammlung in den nächsten Tagen zusammentritt? Wahrscheinlich sobald wir in Ros Ailithir eintreffen. Ich habe gehört, daß der Großkönig schon dort ist und daß die Schiffe Fiana-mails von Laigin vor der Küste gesichtet wurden.«
»Brocc hat mich schon darauf vorbereitet«, bestätigte Fidelma.
Colgü sah alles andere als glücklich aus.
»Wenn du darlegst, daß Salbach an dem Mord an Dacan beteiligt war oder dafür die Verantwortung trägt, dann können wir auch gleich sagen, daß Laigins Forderung an uns nach einem Sühnepreis gerechtfertigt ist. Salbach ist ein Fürst von Muman und untersteht Cashel.«
»Vorläufig sage ich noch gar nichts, Bruder«, erwiderte Fidelma entschieden. »Ich will die Wahrheit herausbekommen, wie immer sie auch aussieht.«
Sie erreichten die Holzfällerhütte. Intats zweiter Gefolgsmann lag noch bewußtlos unter den Trümmern des Holzfasses, gegen das ihn Fidelma geschleudert hatte. Er kam gerade langsam zu sich.
Cass’ Pferd stand nach wie vor angebunden vor der Hütte, wie Fidelma voller Angst feststellte.
Zwei Männer aus Colgüs Leibgarde saßen sofort ab und liefen mit gezogenen Schwertern in die Hütte.
Einer von ihnen kam schon einen Augenblick später mit düsterer Miene wieder heraus.
Fidelma wußte, was das Miene zu bedeuten hatte.
Sie glitt vom Pferd und eilte hinein.
Cass lag auf dem Rücken. Ein Pfeil steckte in seinem Herzen und einer in seinem Hals. Seine Angreifer hatten ihm nicht einmal die Ehre gewährt, sich wie ein Krieger zu verteidigen. Er hatte nur sein Schwert, doch sie hatten ihn von der Tür her niedergeschossen. Nun lag er da mit offenen Augen, die leer in die Höhe starrten.
Fidelma beugte sich nieder und schloß die blicklosen Augen in seinem schönen Gesicht.
»Er war ein guter Mensch«, sagte Colgü leise. Er stand nun hinter ihr und schaute hinunter.
Fidelmas Schultern zuckten leicht.
»Gute Menschen werden so oft von bösen umgebracht«, murmelte sie. »Ich wünschte, er hätte es noch erlebt, wie diese Sache geklärt wird.«
Sie stand auf und ballte die Fäuste in ihrem Kummer. Sie wandte ihrem Bruder ihr trauriges Gesicht zu, konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Ihre innere Stimme sagte ihr, daß sie einen dritten Fehler begangen hatte. Ihre Eitelkeit hatte Cass den Tod gebracht. Sie hatte drei Fehler gemacht, mehr durfte sie sich nicht leisten.
»Er starb, als er mich verteidigte, Colgü«, sagte sie leise.
Ihr Bruder neigte den Kopf.
»Ich glaube, so einen Tod hätte er sich gewünscht, kleine Schwester. Da sein Bemühen nicht vergeblich war, wird seine Seele Frieden finden. Sein Tod wird dich doch nicht daran hindern, die Untersuchung weiterzuführen?« fügte er besorgt hinzu.
»Nein«, erwiderte Fidelma fest. »Der Tod verhindert viele Dinge, doch nie den Sieg der Wahrheit. Seine Seele wird in Frieden ruhen, denn ich glaube, ich bin nun der Wahrheit nahe, die sich mir so lange entzogen hat.«