177533.fb2 Tod im Skriptorium - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 21

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Kapitel 19

Für die große Ratsversammlung des Großkönigs war die Abteikirche selbst in den Dal, den Gerichtshof, verwandelt worden. Das Gebäude wimmelte von Menschen, geistlichen wie weltlichen, die sich durch die Türen hineindrängten. Der Anlaß galt als bedeutungsvoll, denn seit Menschengedenken hatte kein Großkönig mehr eine Ratsversammlung außerhalb seines persönlichen Herrschaftsbereichs Meath abgehalten. Auf einem eigens errichteten Podium vor dem Hochaltar saß der Oberrichter der fünf Königreiche von Eireann. Er war der einzige, der über so viel Einfluß verfügte, daß selbst der Großkönig in den großen Ratsversammlungen erst sprechen durfte, wenn er gesprochen hatte. Fidelma hatte Barran noch nie gesehen und hätte gern gewußt, was für ein Mensch er war. Barran hatte helle, furchtlose Augen, ein strengen, schmallippigen Mund und eine vorspringende Nase. Sein Alter war völlig unbestimmt.

Links neben ihm auf dem Podium saß sein persönlicher ollamh, ein gelehrter Anwalt, den er in juristischen Fragen konsultieren konnte, und dahinter hatten ein Sekretär und sein Assistent ihren Platz, die das Protokoll führten. Rechts vom Oberrichter saß der Großkönig selbst, Sechnassach, Herr von Meath und Großkönig von Irland. Er war ein hagerer Mann in den Dreißigern mit einem finsteren Gesicht und dunklem Haar. Fidelma wußte von ihren Erlebnissen in Tara, daß Sechnassach nicht der strenge, autoritäre Herrscher war, für den man ihn halten konnte. Er war ein nachdenklicher Mensch mit einem trockenen Humor. Sie fragte sich, ob er sich noch erinnerte, daß er ohne ihre Hilfe bei der Aufdeckung des Diebstahls des Kronschwerts vielleicht gar nicht Großkönig geworden wäre. Dann schämte sie sich für diesen Gedanken. Als könnte persönliche Dankbarkeit den Großkönig zu ihren Gunsten beeinflussen.

Neben dem Großkönig saß Ultan, Erzbischof von Armagh und Oberster Apostel des Glaubens in den fünf Königreichen, ein mürrischer älterer Mann mit wirrem weißem Haar. Er stand im Ruf, die römische Richtung in der Kirche zu unterstützen, und hatte sich wiederholt dafür ausgesprochen, daß das Kirchenrecht das weltliche Recht in den fünf Königreichen ablösen solle.

Unmittelbar vor dieser imponierenden Reihe von Persönlichkeiten war ein kleines Pult in der Art eines cos-na-ddla aufgebaut als eine Rednertribüne, von der aus jeder ddlaigh oder Anwalt sein Plädoyer halten sollte.

Im Querschiff rechts vom Hochaltar waren die Bänke von den Vertretern Laigins besetzt, geführt von ihrem leidenschaftlichen jungen König Fianamail und seinen Ratgebern. Fidelma hatte auch schon den grimmigen, graugesichtigen Abt Noe von Fearna erspäht. Und vorn neben dem König erkannte sie den hageren, blassen Forbassach, der den Anspruch Laigins vortragen würde.

Fidelmas Bruder Colgü und seine Berater füllten die Bänke im Querschiff links vom Hochaltar. Fidelma als ihr dalaigh saß neben ihrem Bruder und wartete darauf, zum cos-na-dala gerufen zu werden, um ihr Plädoyer für das Königreich von Cashel zu halten.

Das breite Längsschiff der Kirche war gedrängt voll von Zuschauern aller Art und jeden Standes. Ihre Menge erzeugte trotz der Größe und der Ausmaße des hohen Gebäudes eine stickige, bedrückende Luft. Fidelma fielen einige Krieger des Großkönigs auf, seine fianna oder Leibwache. Sie waren überall an den wichtigsten Punkten in der Kirche postiert und die einzigen Bewaffneten, die Zutritt zu der Versammlung hatten. Die Krieger Colgüs und Fianamails mußten in ihren Quartieren außerhalb der Mauern der Abtei bleiben.

Barran, der Oberrichter, klopfte mit seinem Amtsstab auf den hölzernen Tisch vor sich und gebot Ruhe. Damit war die Versammlung eröffnet.

Das Stimmengemurmel ebbte langsam ab und machte einer erwartungsvollen Stille Platz.

»Es sei kund und zu wissen, daß es drei Mittel gibt, die Weisheit aus einem Gerichtshof zu verbannen«, sprach der Oberrichter die rituellen Eröffnungsworte. Seine Stimme war tief und mächtig und füllte den gesamten Kirchenraum aus. Seine hellen Augen funkelten, als er sich drohend umsah. »Das erste Mittel ist ein unkundiger Richter, das zweite ist ein Plädoyer ohne Sinn und Verstand, und das dritte ist ein geschwätziger Gerichtshof.«

Darauf erhob sich Erzbischof Ultan langsam und erbat mit seiner dünnen, monotonen Stimme Gottes Segen für das Gericht und seine Verhandlung.

Nachdem Ultan sich wieder gesetzt hatte, rief der Oberrichter die Anwälte beider Seiten auf, sich zu erheben und sich vorzustellen. Als sie das getan hatten, erinnerte er sie an die Verfahrensregeln und an die sechzehn Kennzeichen eines schlechten Plädoyers. Für jeden dieser sechzehn Verstöße konnte ein Anwalt mit einer Geldstrafe von einem sed belegt werden, einer Goldmünze, die dem Wert einer Milchkuh entsprach. Diese Strafe wurde fällig, wenn die Anwälte einander beschimpften, die Zuschauer zur Gewalt anstachelten, sich in Eigenlob ergingen, grobe Worte wählten, den Anordnungen des Gerichts nicht nachkamen oder grundlos das Thema ihres Plädoyers wechselten. Dann erklärte Barran, daß die Verhandlung beginnen könne.

»Denkt daran, daß es drei Türen gibt, durch die die Wahrheit Eingang in dieses Gericht finden kann: ein geduldiges Für und Wider in den Plädoyers, eine gesicherte Beweisführung und das Vertrauen auf Zeugen«, riet Barran den Anwälten dem Brauch gemäß.

Forbassach trat vor an das cos-na-ddla, denn da Laigin Entschädigung für einen Todesfall verlangte, stand ihm das Recht zu, als erster seine Argumente vorzutragen. Er tat es einfach und ohne Theatralik. Der Ehrwürdige Dacan, ein Mann aus Laigin, habe das Gastrecht beim König von Muman genossen, so sagte er, denn dieser habe ihm die Erlaubnis erteilt, sich in seinem Königreich aufzuhalten und in der Abtei Ros Ailithir sowohl zu forschen als auch zu unterrichten. Es liegt in der unmittelbaren Verantwortung des Abts, für die Sicherheit aller zu sorgen, die er in sein Haus aufnimmt.

Dennoch war Dacan in Ros Ailithir auf die schrecklichste Weise ermordet worden. Der Mörder war nicht entdeckt worden, deshalb trugen der Abt und in letzter Instanz der König von Muman die Verantwortung für das Verbrechen. Der König war für die Sicherheit Da-cans verantwortlich, erstens, weil er Dacan in seinem Königreich willkommen geheißen hatte, und zweitens, weil der Abt sein Verwandter und der König das Oberhaupt der Familie war und damit haftbar für alle Strafen, die über die Familie verhängt wurden. So lautete das Gesetz. Und dieses Gesetz legte genau das Strafmaß fest. Für jeden Todesfall betrug die Strafe sieben cumals, den Gegenwert von einundzwanzig Milchkühen. Das war die grundsätzliche Strafe. Aber wie war es mit dem Sühnepreis für Dacan? Er war ein Vetter des Königs von Laigin. Er war ein Mann des Glaubens, der in allen fünf Königreichen von Eireann für seine Wohltätigkeit und seine Gelehrsamkeit bekannt war.

Als vor mehreren Jahrhunderten der Großkönig Edirsceal von Muman ermordet worden war, hatten der Oberrichter und seine Ratsversammlung entschieden, der Sühnepreis für Edirsceal bestehe darin, daß das Königreich Osraige an Muman abzutreten sei. Nun verlange Laigin, daß Osraige ihm als Sühnepreis für Dacans Tod zurückgegeben werde.

Fidelma saß während Forbassachs Plädoyer mit gesenktem Kopf da. Es enthielt nichts Neues, und er trug seine Worte in einer gemäßigten, leidenschaftslosen und klaren Weise vor, so daß ihm das Gericht mühelos folgen konnte.

Mit einem Blick selbstzufriedener Genugtuung in Fidelmas Richtung kehrte Forbassach zu seinem Platz zurück. Fidelma sah, wie König Fianamail sich vorbeugte und seinem Anwalt lächelnd und anerkennend auf die Schulter klopfte.

»Fidelma von Kildare«, wandte sich Barran den Bänken von Muman zu, »willst du jetzt das Plädoyer für Muman halten?«

»Nein«, sagte sie mit lauter Stimme und sah eine Welle des Erstaunens durch das Gericht laufen. »Ich bin hier, um ein Plädoyer für die Wahrheit zu halten.«

Ein zorniges Gemurmel erhob sich, besonders von den Bänken von Laigin, während Fidelma aufstand und zu der Tribüne vor dem Oberrichter ging. Barran schien nicht gerade begeistert von ihrer dramatischen Eröffnung.

»Ich nehme an, du willst damit nicht sagen, daß wir soeben absichtliche Lügen gehört haben?« In seiner Stimme lag eine gefährliche Kälte.

»Nein«, erwiderte Fidelma ruhig. »Doch wir haben auch nicht die ganze Wahrheit gehört, sondern nur einen so kleinen Teil davon, daß auf der Basis dieser Beweisführung kein sicheres Urteil möglich ist.«

»Worin besteht die Argumentation deines Gegenplädoyers?«

»Sie besteht aus zwei Elementen, Barran. Erstens, der Ehrwürdige Dacan war nicht ehrlich bei der Angabe seiner Vorhaben, als er nach Muman kam. Dieser Mangel an Ehrlichkeit entlastet sowohl den König wie den Abt von ihrer Verantwortung nach dem Gesetz der Gastfreundschaft.«

Laute der Empörung kamen von den Bänken Laigins, und aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich Abt Noe bleich vor Ärger vorbeugte und sie in kaum beherrschtem Zorn anstarrte.

»Zweitens«, fuhr Fidelma ungerührt fort, »wenn die Identität des Mörders Dacans enthüllt wird und es sich herausstellt, daß er nicht der Familie des Königs von Cashel angehört und ihm auch nicht in einem Treueverhältnis untersteht, dann besitzt der Anwalt von Laigin kein Recht, einen Anspruch gegen Cashel zu erheben. Darauf läuft mein Plädoyer hinaus.«

Forbassach war aufgestanden.

»Ich erhebe Einspruch gegen dieses Plädoyer. Das erste Argument stellt eine Beleidigung eines mildherzigen und frommen Gelehrten dar. Ein gottesfürchti-ger Mann, der sich jetzt nicht mehr wehren kann, wird der Lüge bezichtigt. Das zweite Argument ist eine bloße Behauptung, die durch keinerlei Beweise gestützt wird.«

Barrans Miene war sehr ernst geworden.

»Du bist erfahren in der Verhandlungsweise der Gerichte, Schwester Fidelma. Daher gehe ich davon aus, daß du für das, was du sagst, Beweise hast?«

»Die habe ich. Aber ich muß um deine Nachsicht bitten, weil dies eine lange und komplizierte Geschichte ist und ich etwas Zeit brauche, um sie dem Gericht darzulegen.«

Sie hielt inne und schaute mit fragendem Blick den Oberrichter an. Barran gab ihr das Zeichen fortzufahren.

»Als mein Bruder Colgü mich bat, den Mord an Dacan zu untersuchen, ahnte ich nicht, was für einen langen und gewundenen Pfad ich zu gehen hatte. Bevor ich sein Ende erreichte, war nicht nur Dacan tot, sondern noch viele andere verloren ihr Leben: Cass aus der Leibgarde der Könige von Cashel, den mein Bruder mir zu meinem Schutz mitgegeben hatte, Schwester Eisten, zwei Nonnen, die im Waisenhaus von Molua arbeiteten, Molua selbst und seine Frau und zwanzig unschuldige kleine Kinder. Dazu kommen noch andere Tote in Rae na Scrine, die niemand gezählt hat.«

Forbassach war aufgesprungen und erhob erneut Einspruch.

»Wir verhandeln hier über den Mord an Dacan und keinen anderen«, rief er zornig. »Das Heranziehen anderer Todesfälle ist lediglich ein Ablenkungsmanöver, mit dem Fidelma den klaren Anspruch Laigins vernebeln will.«

Barran sah den Anwalt Laigins stirnrunzelnd an.

»Du setzt dich wieder, Forbassach, und du wirst verwarnt. Habe ich nicht die sechzehn Kennzeichen eines schlechten Plädoyers aufgezählt? Warte ab, bis die ddlaigh von Cashel ihre Ausführungen beendet hat und bringe dann deine Argumente vor. Ich muß dich darauf hinweisen, daß sie dein Plädoyer nicht ein einziges Mal unterbrochen hat.«

Forbassach sank verärgert auf seinen Platz zurück.

»Ich fahre fort«, sagte Fidelma ruhig. »Es war wirklich eine komplizierte Angelegenheit. Ihre Wurzeln reichen Jahrhunderte zurück in den Streit um das Königreich Osraige. In den letzten Jahrhunderten hat Laigin immer wieder gefordert, daß Osraige in seinen Herrschaftsbereich zurückkehren solle, und jedesmal haben die Brehons der fünf Königreiche in den Ratsversammlungen entschieden, daß es bei der einmal beschlossenen Abtretung an Muman bleibt.

Osraige ist in den letzten zweihundert Jahren von Königen aus dem Stamm der Corco Loigde regiert worden. Dazu kam es, weil der heilige Ciaran von Saighir, dessen Vater aus Osraige und dessen Mutter von den Corco Loigde stammte, seine eigene Familie als Könige einsetzte, nachdem er das Volk von Osrai-ge zum Glauben bekehrt hatte. Seitdem leiden die Nachkommen der ursprünglichen Fürsten von Osrai-ge unter dieser Ungerechtigkeit. Mehrere Könige von Osraige aus dem Stamm der Corco Loigde sind bei Kämpfen in dem umstrittenen Land getötet worden.

Es liegt auf der Hand, daß Laigin, dessen erklärtes Ziel es in all diesen Jahren war, Osraige zurückzubekommen, diese Auseinandersetzungen aufmerksam verfolgt und möglicherweise auch ermutigt hat.«

Von den Bänken der Vertreter Laigins erscholl ein ganzer Chor zorniger Rufe. Viele standen auf und drohten Fidelma mit der Faust.

Der Oberrichter schlug mit seinem Amtsstab auf den Tisch und gebot Ruhe.

Forbassach war aufgesprungen, doch Barran sah ihn durchdringend an, so daß er sich wortlos wieder hinsetzte.

»Ich muß die Vertreter Laigins warnen, daß es ihrer Sache nicht hilft, wenn sie ihren Unmut in dieser Weise äußern.« Dann wandte er sich an Fidelma. »Und dich muß ich daran erinnern, Schwester Fidelma, daß eine Strafe von einem sed fällig ist, wenn ein Anwalt vor Gericht die Zuhörer zu Gewalt anstachelt.«

Fidelma neigte den Kopf.

»Ich bereue, Barran. Ich hätte nicht gedacht, daß meine Worte solchen Zorn erregen, ich glaubte nicht einmal, daß sie bestritten würden. Denn was ich gesagt habe, ist allgemein bekannt.«

An dieser Stelle lehnte sich der Großkönig zu seinem Oberrichter hinüber und flüsterte ihm etwas zu. Der Oberrichter nickte kurz und wies Fidelma an, mit ihrem Plädoyer fortzufahren.

»Der Kampf um das Königreich Osraige entwickelte sich im vorigen Jahr zu einem Kampf zwischen Scandlan, dem Vetter Salbachs von den Corco Loigde, und Illan, einem Nachkommen der Linie der ursprünglichen Könige. Vor mehr als einem Jahr wurde Illan von Scandlan getötet.«

Diesmal kam die Störung von den Bänken von Muman. Ein stämmiger Mann mit rotem Gesicht hatte sich mit zorniger Miene erhoben. Mit seiner rotblonden Mähne und seinem buschigen Bart stand er da wie ein in die Enge getriebener Bär.

»Ich verlange das Wort!« rief er. »Ich bin Scandlan, der König von Osraige.«

»Setz dich hin!« Der mächtige Baß des Oberrichters übertönte das Gemurmel, das durch die Kirche lief. »Als König kennst du doch wohl die Verfahrensregeln dieser Ratsversammlung?«

»Mein Name wird besudelt!« protestierte der Fürst. »Habe ich da nicht das Recht, auf die Beschuldigung zu antworten?«

»Bisher hat dich niemand beschuldigt«, erklärte Fidelma. »Was habe ich Verkehrtes gesagt?«

Der Großkönig flüsterte wieder mit dem Oberrichter. Fidelma sah, wie ein Lächeln die Lippen des Großkönigs umspielte.

»Nun gut«, meinte der Oberrichter. »Ich werde Scandlan jetzt eine Frage stellen. König von Osraige, hast du Illan getötet?«

»Natürlich habe ich das«, fuhr der Rotblonde auf. »Es ist mein Recht als König, mich zu verteidigen, und Illan befand sich im Aufstand gegen mich und ...«

Der Oberrichter hob die Hand und gebot Ruhe.

»Demnach hat Schwester Fidelma lediglich die Wahrheit ausgesprochen. Sie hat dir bisher keine niedrigen Motive unterstellt. Wir werden dich später anhören, falls einer der gelehrten Anwälte dich als Zeugen aufruft. Bis dahin wirst du das Verfahren nicht mehr unterbrechen.«

Er sah Fidelma an und gab ihr zu verstehen, sie möge fortfahren.

»Der Tod Illans bedeutete nicht das Ende der Auseinandersetzungen. Illan hatte Nachkommen, die zu dem Zeitpunkt noch nicht das Alter der Wahl erreicht hatten, in dem sie ihre Ansprüche offiziell dem Volk vorlegen konnten. Das Problem bestand darin, daß anscheinend niemand die Nachkommen Illans kannte, es hieß aber, er habe mehrere Kinder. Sie waren alle zu Pflegeeltern außerhalb von Osraige gegeben worden bis zu der Zeit, da der älteste von ihnen mündig würde und sich mit seinem Anspruch an das Volk wenden könnte.

Es gab zwei Personen, die sich für die Erben Illans interessierten. Scandlan war die eine, weil er wußte, daß früher oder später diese Erben ihm das Königtum von Osraige erneut streitig machen würden. Die andere war Fianamail von Laigin. Er meinte, wenn die Erben gefunden und in ihrem Kampf um den Sturz Scandlans unterstützt werden könnten, dann gewänne Laigin Einfluß auf die Zukunft von Osraige und könne es späterhin in seinen Herrschaftsbereich zurückführen.«

Sie legte eine erwartungsvolle Pause ein, aber diesmal gab es keinen Aufruhr.

»Doch die Erben Illans waren verschwunden. Die Frage war, wie man herausfinden könnte, wer sie waren und wo sie sich aufhielten. Ein Weg zu ihrer Entdeckung, so glaubte man, bestünde darin, die Genealogien von Osraige zu untersuchen. Da die Corco Loigde in Osraige herrschten, waren es ihre Schreiber, die die genauen Genealogien und Chroniken verfaßt hatten. Und wo werden diese Genealogien aufbewahrt?«

Fidelma hielt wieder inne und betrachtete die erwartungsvollen Gesichter in der jetzt stillen Abteikirche.

»Sie befinden sich hier, hier in Ros Ailithir.«

Es erhob sich ein Gemurmel, manche begriffen wohl, worauf sie hinauswollte.

»Fianamail von Laigin schickte seinen besten Gelehrten nach Ros Ailithir, um die Genealogien zu studieren mit dem Ziel, den Erben Illans aufzuspüren. Dieser Gelehrte war kein anderer als Dacan, der Bruder des Abts Noe von Fearna und Vetter des Königs Fianamail. Das möge Fianamail unter seinem heiligen Eid bestreiten!«

»Eine Frage!« rief Forbassach. »Ich habe das Recht, eine Frage zu stellen!«

Das gestand ihm der Oberrichter zu.

»Wenn der gegenwärtige König von Osraige so begierig darauf war, die Erben Illans aufzuspüren, wie die Anwältin für Muman behauptet, warum schickte er dann nicht selbst einen Gelehrten, um in den Aufzeichnungen nachzuforschen, die sich hier, auf dem Gebiet seiner eigenen Familie, befinden? Das hätte er doch mit Leichtigkeit tun können.«

»Die einfache Antwort darauf lautet, daß er oder vielmehr seine Familie das auch taten«, erwiderte Fidelma gelassen. »Doch ich habe Fianamail aufgefordert, zu bestreiten, daß Dacan in seinem Auftrag zu diesem Zweck hierher entsandt wurde. Ich erwarte eine Antwort.«

Forbassach wandte sich um und wechselte ein paar hastige Worte mit Fianamail und dem finster blickenden Abt Noe. Der Oberrichter räusperte sich bedeutungsvoll. Forbassach erhob sich und sagte: »Welche Forschungen Dacan auch betrieben haben mag, das ändert nichts an der Tatsache, daß er ermordet worden ist und daß die Verantwortung für seinen Tod beim Abt liegt und in letzter Instanz beim König von Muman.«

Seine Stimme war fest, doch sie klang weniger zuversichtlich als bei seiner Eröffnungsrede.

»Das gilt nicht«, erwiderte Fidelma mit Nachdruck, »wenn der Zweck von Dacans Aufenthalt hier ein anderer war als der, den er angegeben hatte.«

Diesmal war es der ollamh des Oberrichters, der sich vorbeugte und Barran etwas ins Ohr flüsterte. Der Oberrichter sah Fidelma ernst an.

»Wenn dies die Grundlage deines Gegenplädoyers ist, Schwester Fidelma, dann rät man mir gerade, dich zu warnen, daß deine Verteidigung auf schwachen Füßen steht. Dacan erklärte, er wolle in Ros Ailithir forschen und unterrichten, und unter dieser Bedingung wurde ihm die Gastfreundschaft des Königs von Cashel und des Abts von Ros Ailithir gewährt. Die Tatsache, daß er die genaue Zielrichtung seiner Forschungen nicht angab, schließt ihn nicht vom gesetzlichen Schutz aus. Schließlich stellte er ja Forschungen an.«

»Dem müßte ich widersprechen«, antwortete Fidelma, »aber ich stütze mein Plädoyer ja bekanntlich auf zwei Punkte. Lassen wir den ersten für den Augenblick auf sich beruhen. Ich werde später beweisen, daß ich auch damit die Schuld des Abts und des Königs von Muman zurückweisen kann. Doch zunächst haben wir wichtigere Dinge zu klären, nämlich, wer Dacans Mörder war.«

Wieder begannen die Zuhörer miteinander zu flüstern. Barrans Augen verengten sich, als er sich vorbeugte und durch Klopfen mit seinem Amtsstab Ruhe gebot.

»Willst du damit sagen, daß du ihn kennst?« wollte er wissen.

Fidelma antwortete mit einem geheimnisvollen Lächeln.

»Darauf komme ich gleich. Vorher muß ich noch ein paar andere Dinge erläutern.«

Mit einer ungeduldigen Geste forderte Barran sie zum Weitersprechen auf.

»Wie ich schon sagte, Dacan kam allein mit dem Ziel nach Ros Ailithir, die Genealogie Illans zu erforschen. Zu seiner Überraschung stellte er fest, daß seine frühere Ehefrau, Grella aus der Abtei Cealla, hier als Bibliothekarin arbeitete. Er hielt das für einen Glücksfall, denn Grella stammte aus Osraige, und ihre Beziehung zu Dacan hatte nicht in Feindschaft geendet. So erbat Dacan ihre Hilfe, um die Aufzeichnungen zu bekommen, die er brauchte. Sie half ihm gern, weil auch sie daran interessiert war, die Erben Illans zu finden. Leider waren ihre Gründe für dieses Interesse nicht dieselben wie die ihres früheren Gatten.«

Wieder entstand Bewegung in den Bänken hinter Fidelma.

Barran hob den Kopf und forderte Ruhe, während sein ollamh leise auf ihn einredete.

Schwester Grella hatte sich erhoben, ihr Gesicht war gerötet vor Wut und Erregung.

»Schwester Grella, setz dich!« befahl Barran, dessen ollamh sie erkannt hatte.

»Ich setze mich nicht hin, und ich lasse mich nicht beleidigen!« schrie Grella hysterisch, »und ich lasse mich auch nicht zu Unrecht anklagen.«

»Hat Schwester Fidelma dich beleidigt?« fragte der Oberrichter. »Ich habe nichts davon gehört. Wenn ja, dann erkläre mir bitte, womit sie dich beleidigt hat? Warst du mit Dacan von Fearna verheiratet oder nicht?«

»Mugron, der Kapitän des Kriegsschiffs von Laigin, ist bereit, das zu bezeugen«, warnte Fidelma sie rasch und wies auf den Platz in den Bänken von Laigin, wo der Seemann saß.

»Ich war mit Dacan verheiratet, aber ...«, gestand Grella.

»Die Ehe endete mit einer Scheidung?« unterbrach sie der Oberrichter.

»Ja

»Als Dacan nach Ros Ailithir kam, wußte er da, daß du die Bibliothekarin der Abtei warst?«

»Nein.«

»Aber er bat dich um Hilfe bei seinen Forschungen?«

»Ja

»Und du hast sie gern geleistet?«

»Ja

»Hattest du die gleichen Motive für diese Nachforschungen wie Dacan?«

Grella wurde rot und senkte den Kopf.

»Dann hat Fidelma dich auch nicht beleidigt«, erklärte Barran, der das als Antwort nahm. »Setz dich, Schwester Grella, damit du nicht mit deiner Feindseligkeit dieses Gericht beleidigst.«

»Aber ich weiß, daß diese Frau behaupten wird, ich hätte Dacan getötet! Sie spielt Katze und Maus mit mir! Soll sie mich doch offen beschuldigen!«

»Beschuldigst du Schwester Grella des Mordes an Dacan?« fragte der Oberrichter Fidelma.

»Ich glaube, ich kann das alles erklären, Barran, indem ich Salbach, den Fürsten der Corco Loigde, vernehme.«

»Wenn du Beschuldigungen erhebst, Fidelma, dann mußt du sie auch beweisen«, warnte Barran sie.

»Dazu bin ich bereit.«

Barran winkte einem der Krieger der fianna, der Leibgarde des Großkönigs, und gleich darauf wurde Salbach mit vor dem Körper gebundenen Händen hereingebracht. Er stellte sich mit spürbarem Trotz vor die Ratsversammlung.

»Salbach von den Corco Loigde«, begann Fidelma, »du stehst vor dieser Versammlung bereits unter der Anschuldigung, für die Handlungen deines bo-aire Intat verantwortlich zu sein. Intat hat in deinem Namen die Ermordung vieler Unschuldiger sowohl in Rae na Scrine als auch im Hause Moluas angeordnet.«

Salbach hob herausfordernd den Kopf, erwiderte aber nichts.

»Du bestreitest die Anschuldigungen nicht?« fragte der Oberrichter.

Salbach sagte immer noch nichts.

Barran seufzte tief.

»Du mußt nicht antworten, doch das Gericht wird seine Schlußfolgerungen aus deinem Schweigen ziehen. Wenn du den Vorwürfen nichts entgegnest, müssen wir sie als wahr ansehen, und ihnen wird eine entsprechende Strafe folgen.«

»Ich bin bereit, die Strafe auf mich zu nehmen«, erklärte Salbach. Offensichtlich hatte er die Stärke der Beweise gegen ihn erwogen und sah keinen anderen Ausweg, als seine Schuld einzugestehen.

»Ist Schwester Grella auch bereit, ihre Strafe auf sich zu nehmen?« fragte Fidelma in der Hoffnung, daß sie Salbachs Gefühle für die Bibliothekarin richtig einschätzte. Wenn Salbach sich mit seiner Strafe abfand, war er dann vielleicht auch bereit, sie Grella zuzumuten?

»Sie ist keines der Verbrechen schuldig, die man mir zur Last legt«, sagte er ruhig. »Laßt sie frei.«

»Aber Schwester Grella war deine Geliebte, nicht wahr, Salbach?«

»Das habe ich zugegeben.«

»Es war entweder dein Vetter Scandlan oder du warst es - ganz gleich, von wem die Idee stammt -, der vorschlug, Grella möge ihre Stellung als Bibliothekarin dazu nutzen, die genealogischen Bücher von Osraige, die in der Abtei aufbewahrt werden, durchzusehen und zu versuchen, den Erben Illans zu finden. Stimmt das?«

»Du bist verpflichtet zu antworten«, wies ihn der Oberrichter an, als Salbach zögerte.

»Es stimmt.«

»Dann kam euch ein Zufall zu Hilfe. Grella berichtete dir, daß ihr früherer Ehemann Dacan mit genau demselben Ziel nach Ros Ailithir gekommen war. Auch er suchte nach dem Erben Illans. Da sie wußte, daß er der größere Gelehrte war, überredete ihn Grel-la, eng mit ihr zusammenzuarbeiten, so daß sie dich über seine Fortschritte unterrichten konnte. War es nicht so? Du wolltest genauso gern wie Dacan wissen, wer der Erbe Illans war. Doch während Dacan ihn suchte, um ihn für Laigins Zwecke zu nutzen, wolltest du ihn finden, um den Letzten aus der Reihe der ursprünglichen Könige zu vernichten. Das würde die Dynastie der Corco Loigde in Osraige endgültig sichern.«

Es herrschte gespanntes Schweigen. Niemand sprach. Alle Augen waren auf Salbach gerichtet. Es war Schwester Grella, die die Stille mit einem Angstschrei brach, als sie zum erstenmal die Schrecklichkeit des Geschehenen begriff.

»Aber es stimmt nicht . Ich wußte doch nicht, daß Salbach . Ich wußte doch nicht, daß er sie töten wollte . Ich bin nicht verantwortlich für den Tod all dieser unschuldigen Kinder . Das bin ich nicht.«

Salbach wandte sich um und fuhr sie an, sie solle still sein.

»Als Dacan herausfand, wo sich die Erben Illans aufhielten«, sprach Fidelma schonungslos weiter, »lief Grella mit der Neuigkeit zu dir. Es war am Tag vor dem Tode Dacans. Er hatte festgestellt, daß der Vorsteher von Sceilig Mhichil, dem Kloster des Erzengels Michael, ein Vetter Illans war. Er hatte herausbekommen, daß die Erben Illans zu ihrer Sicherheit dorthin gebracht worden waren. Er schrieb es auf und setzte hinzu, daß er nach Sceilig Mhichil aufbrechen werde. Er wurde ermordet, bevor er seine Reise antreten konnte.«

»Woher wußte er das? Die hier aufbewahrten Aufzeichnungen sagen doch sicher nichts über den Aufenthaltsort der Erben Illans aus?« wollte der Oberrichter wissen.

»Seltsamerweise doch. Dacan fand das Testament Illans auf einigen Stäben der Dichter. Die Ironie der Geschichte liegt darin, daß Scandlan sich nach dem Tode Illans seiner Burg und seiner Habe bemächtigte, darunter auch seiner Bibliothek. In dieser Bibliothek befand sich das Testament, das er absichtlich in Og-ham auf Stäben der Dichter geschrieben hatte. Scand-lan konnte es nicht lesen und schickte es mit anderen Büchern zusammen als Geschenk an diese Abtei, die Hauptabtei der Corco Loigde.«

»Selbst dann«, wandte Barran ein, »hätte doch jeder erfahrene Gelehrte das Testament in Ogham lesen und es deuten können?«

»Illan war anscheinend ein gebildeter Mann, denn das Testament war verschlüsselt. Ich fand einen Stab aus dem Testament in Dacans Zimmer, wo er ihn unvorsichtigerweise hatte liegengelassen. Sein Mörder hatte ihn nicht bemerkt. Ich verfüge nur über einen kleinen Rest des Stabes und damit nur über ein kleines Stück des Testaments. Die anderen Stäbe wurden vernichtet.«

Sie holte den angebrannten Stab hervor, den sie in der Nacht zuvor aus der Gruft in der Kirche mitgenommen hatte.

»Nur dieses Stück ist übrig. Darauf steht: >Die Entscheidung des Ehrenwerten bestimmt die Pflegschaft meiner Kinder.<«

»Das hört sich wie Kauderwelsch an«, lachte For-bassach.

»Nicht, wenn man den Code und den ganzen Text kennt. Auf dem Stab, den ich in Dacans Zimmer fand, stand außerdem: >Möge mein süßer Vetter für meine Söhne auf dem Felsen Michaels sorgen, wie es mein ehrenwerter Vetter bestimmen wird.<«

»Noch mehr Kauderwelsch!« höhnte Forbassach.

»Dacan war nicht der Meinung. Er wußte, daß Scei-lig Mhichil der Felsen Michaels war. Es war leicht zu ermitteln, daß der Vorsteher dort Mel hieß. Der Name bedeutet >süß<. Mel war folglich Illans >süßer< Vetter!«

»Du läßt die Lösung des Rätsels sehr leicht erscheinen«, bemerkte der Oberrichter.

»Dann erlaube mir, später darauf zurückzukommen. Für jetzt genügt es, daß Dacan das Rätsel des Testaments entzifferte und sein Ergebnis auf einem Pergament niederschrieb. Schwester Grella las es und teilte es Salbach mit. Der schickte sofort Intat zum >Fel-sen Michaels<. Doch Illans Söhne waren nicht mehr dort. Intat erfuhr, daß zwei Söhne Illans auf dem Felsen gewesen und daß sie von einem Mönch abgeholt worden waren. Dieser Mönch war ein Vetter von Pater Mel.

Hier kam wieder Grella ins Spiel, sie hielt Salbach auf dem laufenden. Grella war inzwischen die Seelenfreundin von Schwester Eisten in Rae na Scrine geworden. Durch einen der Zufälle, wie sie nur zu oft im Leben vorkommen, war Eisten genau die Person, in deren Obhut die Söhne Illans gegeben worden waren, nachdem man sie von Sceilig Mhichil fortgeholt hatte. Man hatte sie in das Waisenhaus in Rae na Scrine geschickt. Schwester Eisten beging den größten Fehler ihres Lebens. Sie vertraute das Geheimnis ihrer Seelenfreundin Schwester Grella an.

Triumphierend berichtete Grella Salbach davon. Er wollte Eisten eine Falle stellen, indem er sie und ihre Waisenkinder in seine Burg einlud. Wenn er ihre Schützlinge erst einmal kannte . Nun, Eisten begleitete Grella, aber sie brachte die Kinder nicht mit. Im Dorf war die Gelbe Pest ausgebrochen, und sie wollte die Kinder nicht unnötig umherreisen lassen. Mit dieser Entscheidung rettete sie den Söhnen Illans das Leben, aber sie beschwor die Vernichtung des Dorfes herauf.

Salbach gab Intat den Befehl, nach Rae na Scrine zu reiten und die Kinder umzubringen. Das Problem war, daß Intat nicht genau wußte, wer sie waren. Brutal wie er war, entschied er sich, das ganze Dorf zu vernichten. Als ich und Cass dazukamen, versuchte er sein Verbrechen dadurch zu vertuschen, daß er behauptete, die Gelbe Pest herrsche im Dorf und er und seine Männer wären besorgte Nachbarn, die die Pest ausbrennen wollten. Schwester Eisten und einige Kinder überlebten.

Eisten stand unter Schock. Ich glaubte, der Tod der Dorfbewohner und besonders eines Babys, das sie zu retten versuchte, hätten sie so tief getroffen. In Wirklichkeit aber hatte sie den wahren Grund für das Morden erkannt. Sie wußte sogar, wer sie verraten hatte. Sie fragte mich, ob eine Seelenfreundin das Vertrauen brechen könne. Ich hätte ihr besser zuhören sollen, dann wäre sie vielleicht nicht getötet worden. Ich hätte sie retten können. Kannst du mir bis hierher folgen, Salbach?«

Salbach schwieg. Er war offensichtlich entsetzt über ihre Kombinationsgabe und wußte, daß ihm wenig zu sagen blieb, außer der Wahrheit.

»Du besitzt einen scharfen Verstand, Fidelma. Ich hätte dich nicht unterschätzen dürfen. Ja, du hast recht. Es stimmt, was du bisher erzählt hast.«

»Als du in die Abtei kamst und feststelltest, daß Schwester Eisten mit mehreren Kindern überlebt hatte, konntest du es nicht wagen, es dabei zu belassen. Zweifellos auf deinen Befehl fing Intat Eisten ab, als sie unten am Hafen war. Er folterte sie, um herauszubekommen, wohin man die Söhne Illans gebracht hatte. Sie verriet nichts, also erschlug er sie und warf ihre Leiche ins Meer.

Wieder kam dir Grella zu Hilfe und fand heraus, daß einige der Kinder aus Rae na Scrine zum Haus Moluas gebracht worden waren. Die Leichen von drei Frauen und einem Mann und von zwanzig Kindern und die verkohlten Ruinen ihrer Häuser sind stumme Zeugen von Intats Besuch.«

»Ich leugne nichts. Aber ich erkläre bei meiner Ehre als Fürst, daß mein Vetter Scandlan von Osraige nichts von meinen Plänen wußte, die Königsherrschaft von Osraige für unsere Familie zu sichern. Auch Grella wußte das nicht. Sie trägt keine Schuld an dem Blut, das auf meine Anweisung vergossen wurde.«

Fidelma betrachtete Salbach mit unverhohlenem Abscheu. Es war für sie schwer zu begreifen, daß ein Mann die Verantwortung für soviel Tod und Verderben auf sich nahm und zugleich versuchte, aus einer pervertierten Auffassung von Ehre und Liebe heraus andere zu schützen. Aber es war eine seltsame Welt, und die Menschen waren die seltsamsten Geschöpfe darin.

Grella schluchzte jetzt ganz offen und rief: »Davon wußte ich nichts! Das wußte ich nicht!«

Fidelma sah sie ohne Mitleid an.

»Du warst so blind von deiner Liebe zu Salbach, daß du die Wahrheit nicht sahst. Ich gebe zu, daß das möglich ist, wenn auch schwer zu verstehen. Du wolltest nicht glauben, daß dein Liebhaber dazu fähig war, die Ermordung kleiner Kinder zu befehlen. Ich denke, in Wirklichkeit wolltest du gar nicht wissen, was um dich herum vor sich ging.«

An einer der Türen entstand Bewegung. Fidelma lächelte bitter, als sie sah, daß Scandlans Platz leer war. Der Oberrichter hatte es auch bemerkt, winkte ein Mitglied der fianna heran und erteilte ihm leise Anordnungen.

»Dein Vetter kommt nicht aus der Abtei heraus«, erklärte er Salbach.

»Was spielt das jetzt noch für eine Rolle?« Salbach zuckte die Achseln. »Ich habe meine Schuld in dieser Angelegenheit zugegeben. Ich bin bereit, das Urteil auf mich zu nehmen. Wahrscheinlich werde ich meinen Reichtum und meinen Fürstentitel verlieren und ins Exil gehen müssen. Dazu bin ich bereit. Ihr könnt das Urteil auch sofort fällen.«

In dem Tumult, der ausgebrochen war, hatte sich Forbassach erhoben. Er lächelte schief.

»Wir sind Schwester Fidelma dankbar dafür, daß sie uns den Schuldigen entdeckt hat. Doch ich muß darauf hinweisen, daß Salbach als Fürst der Corco Loigde im Treueverhältnis zu Cashel steht. Fidelma hat bewiesen, daß die Verantwortung für den Tod Dacans bei Cashel liegt. Unser Anspruch auf Osraige als Sühnepreis dafür ist also nach wie vor gerechtfertigt.«

»Das stimmt anscheinend«, stellte Oberrichter Bar-ran fest. »Oder ist das noch nicht alles, was du uns zu berichten hast, Schwester Fidelma?«

»Allerdings«, bestätigte Fidelma. »Denn ich beschuldige Salbach nicht der Ermordung Dacans. Er ist nur verantwortlich für den Mord an all den Kindern, für den Tod der Menschen, die ich genannt habe. Weder er noch Grella haben den Ehrwürdigen Dacan umgebracht.«

Ein erregtes Murmeln ging durch die Bänke von Mu-man, als Schwester Fidelma das sagte. Colgü hatte schon ein langes Gesicht gemacht. Ihm war klar gewesen, welche Schlußfolgerung Forbassach zwangsläufig ziehen würde. Jetzt schaute er seine Schwester verblüfft an.

»Wenn es nicht Salbach war, der Dacan umbrachte«, fragte der Oberrichter, »willst du dann dieser Versammlung endlich verraten, wer es war?«

»Dazu kommen wir auf ganz logischem Wege«, erwiderte Fidelma. »Doch kehren wir zuerst noch einmal zu dem Tag zurück, an dem Dacan beim Studium der hier in der Bibliothek vorhandenen Genealogien entdeckte, wo sich die Erben Illans aufhielten. Wie ich schon sagte, setzte er sich hin und schrieb einen Brief an seinen Bruder Noe.«

Noe beugte sich vor und sprach schnell auf Forbas-sach ein.

Wieder einmal sprang der hitzige Anwalt auf.

»Es gibt keinen Beweis dafür, daß Dacan, selbst wenn er mit einer solchen Nachforschung beschäftigt war, dem Abt Noe darüber berichtete; es gibt keinen Beweis dafür, daß er überhaupt darum gebeten wurde, dem Abt zu berichten. Angesichts dessen ist diese Behauptung eine Beleidigung des Abts und des Königs Fianamail von Laigin.«

»Das bestreite ich«, erklärte Fidelma mit Entschiedenheit. »Ich habe beantragt, Assid von den Ui Dego zu der Verhandlung vorzuladen. Ist er anwesend?«

Ein wohlgebauter Mann mit dem wiegenden Gang eines Seemanns kam nach vorn. Sein Gesicht war gebräunt und sein Haar von der Sonne gebleicht.

»Ich bin Assid«, erklärte er in beinahe trotzigem Ton. »Ich erscheine vor dieser Versammlung auf Befehl des Oberrichters, doch gegen meinen Willen, denn ich habe nicht die Absicht, meinem König zu schaden.«

Er stand mit gekreuzten Armen vor dem cos-na-ddla und starrte Fidelma feindselig an.

»Das möge im Protokoll festgehalten werden«, wies der Oberrichter seinen Sekretär an.

»Möge es festgehalten werden, daß Assid in der Tat ein treuer Untertan Fianamails von Laigin ist«, fügte Fidelma lächelnd hinzu.

»Das bestreite ich nicht«, erklärte Assid mißtrauisch.

»Bist du Kapitän und Eigner eines Küstenhandelsschiffs?«

»Das bestreite ich auch nicht.«

»Seit ungefähr einem Jahr treibst du Handel zwischen Laigin und dem Gebiet der Corco Loigde?«

»Das bestreite ich wiederum ebenfalls nicht.«

»Und du hieltest dich in der Abtei auf in der Nacht, in der der Ehrwürdige Dacan starb?«

»Das ist allgemein bekannt.«

»Du verließest die Abtei am selben Tag und fuhrst direkt nach Laigin. Du begabst dich nach Fearna und meldetest Fianamail und Abt Noe die Ermordung Dacans.«

Assid zögerte und nickte langsam. Er versuchte zu erraten, worauf Fidelma hinauswollte.

»Deshalb war Laigin in der Lage, in dieser Angelegenheit so schnell zu reagieren.« Fidelma richtete diese Worte als Erklärung an die Versammlung, nicht als Frage an Assid. »Sage uns, Assid, denn ich hatte vorher keine Gelegenheit, dich zu vernehmen, wie verlief jener Abend in der Abtei? Sage uns, wann du den Ehrwürdigen Dacan zuletzt lebend gesehen hast und wann du von seinem Tod erfuhrst?«

Assid gab seine aggressive Haltung auf und stützte sich haltsuchend mit dem Gewicht seines Oberkörpers auf die Schranke vor ihm.

»Es stimmt«, sagte er langsam, an den Oberrichter gewandt, »daß ich an dieser Küste Handel treibe und beschlossen hatte, Ros Ailithir anzulaufen und mich eine Nacht im Gästehaus der Abtei auszuruhen. Dort traf ich den Ehrwürdigen Dacan ...«

»Den du als einen Bekannten begrüßtest?« unterbrach ihn Fidelma.

Assid zögerte und zuckte die Achseln.

»Wer in ganz Laigin kennt den Ehrwürdigen Dacan nicht?« konterte er.

»Aber du kanntest ihn besser als die meisten Leute, denn du begrüßtest ihn als einen alten Freund. Dafür gibt es einen Zeugen«, setzte sie hinzu für den Fall, daß er es leugnen wollte.

»Dann bestreite ich es nicht«, erwiderte Assid.

»Ich frage mich, weshalb du Ros Ailithir anliefst? War es reiner Zufall? Nein. Es gibt noch andere Gästehäuser an der Küste. Du hättest sogar in Cuan Doir übernachten können. Doch du kamst hierher. Das läßt mich vermuten, daß du dich mit Dacan verabredet hattest.«

Assid schaute unbehaglich drein. Offensichtlich hatte Fidelma mit ihrer Annahme recht.

»Also fragte ich mich, warum du dieses Treffen mit Dacan verabredet hattest. Sagst du es uns, oder soll ich es erklären?«

Assid versuchte ein Zeichen von den Bänken von Laigin zu erhaschen.

Fidelma holte die Buchtasche von der Bank, auf der sie gesessen hatte, und nahm mehrere Stücke Pergament heraus.

»Ich lege hier als Beweisstück den Entwurf eines Briefes von Dacan an seinen Bruder, Abt Noe, vor, in dem er diesen davon unterrichtet, daß er den Aufenthaltsort eines überlebenden Erben Illans entdeckt hat, und er tut das in Worten, die kaum einen Zweifel daran lassen, daß er mit dieser Nachforschung beauftragt war und daß er damit rechnete, daß sein Bruder daraufhin etwas unternehmen werde.

Zum Glück für uns machte Dacan einen Tintenfleck auf diesen Entwurf. Als peinlich genauer und systematischer Mensch legte er ihn beiseite und schrieb einen neuen Brief. Entweder vergaß er, den Entwurf zu vernichten, oder er wurde ihm gestohlen, bevor er das tun konnte. Jedenfalls befand er sich im Besitz von Schwester Grella, und deshalb können wir beweisen, daß Dacan im Auftrag seines Bruders handelte.«

Fidelma machte sich nicht die Mühe, zu den Bänken von Laigin hinüberzusehen. Dort war es merkwürdig still, während Barran das Beweisstück prüfte, das Fidelma ihm gereicht hatte.

»Und du sagst, daß Assid die Reinschrift dieses Briefes erhielt und den Bericht zu Noe brachte?« fragte Barran.

Fidelma neigte bejahend den Kopf.

Der Oberrichter wandte sich an Forbassach als den Anwalt für Laigin. Seine Miene war finster.

»Forbassach, die Beweislage ist klar. Ich muß dich jetzt warnen. Der Gesetzestext, das Din Techtugad, bestimmt, daß jemand, der ein falsches Zeugnis ablegt, damit seinen Sühnepreis verwirkt. Falsches Zeugnis ist eine der drei Vergehen, die Gott am strengsten bestraft. Ich will zu diesem Zeitpunkt noch keine Strafe aussprechen, sondern gebe dem Abt Noe Zeit, darüber nachzudenken.« Er wandte sich wieder an Fidelma. »Fahre bitte fort, Schwester.«

»Gibst du das zu, Assid, oder leugnest du es?« fragte sie.

Assid ließ den Kopf hängen.

»Ich gebe zu, daß ich herkam, um eine Botschaft von Dacan abzuholen und sie seinem Bruder Noe zu bringen. Nach dem Abendessen traf ich mich mit Da-can, und er gab mir den Brief. Wir wechselten ein paar erregte Worte, weil er mir nicht sagen wollte, was darin stand, und mir einen Eid abnahm, daß ich ihn nicht öffnen würde. Ich habe immer noch keine Ahnung, was in dem Brief stand. Dann ging ich zu Bett. Am Morgen hörte ich, daß Dacan umgebracht worden war. Bruder Rumann, der Verwalter der Abtei, fragte mich, wo ich mich während der Nacht aufgehalten hatte. Als ihm klar war, daß ich nichts wußte, gab er mir die Erlaubnis abzureisen. Ich verließ die Abtei und fuhr direkt nach Laigin. Den Brief nahm ich natürlich mit. Ich berichtete Abt Noe, was geschehen war. Das ist alles, was ich mit dieser Sache zu tun habe.«

»Noch ein paar Fragen. Wann hast du Dacan zuletzt lebend gesehen?«

»Gleich nach der Completa, dem letzten Gottesdienst des Tages. Kurz nach Mitternacht, würde ich sagen.«

»Wo hast du ihn gesehen?«

»In seinem Zimmer, als er mir den Brief übergab.«

»Und wo war dein Zimmer?«

»In dem Stockwerk über Dacans.«

»Du hast also nichts gehört, nachdem du ihn verlassen hattest? Zu welcher Zeit war das?«

Assid zog die Brauen zusammen und versuchte sich zu erinnern.

»Nach Mitternacht. Ich hörte nur noch etwas, als ich die Treppe hinaufging. Ich hörte, wie Dacan nach der jungen Novizin klingelte, die uns im Gästehaus bediente. Ich hörte, wie er zu ihr sagte, sie solle ihm Wasser bringen.«

»Du kannst jetzt abtreten, es sei denn, Forbassach will dir noch Fragen stellen.«

Forbassach hatte sich schnell mit dem grimmig dreinblickenden Abt Noe besprochen. Er antwortete, er habe keine Fragen an Assid.

Fidelma wandte sich nun an den Oberrichter.

»Wir haben gehört, daß es Dacan gelungen war, den Aufenthalt der Erben Illans zu ermitteln. Er berichtete seinem Bruder Noe, daß er am nächsten Tag nach Sceilig Mhichil aufbrechen werde, um sie dort zu finden.«

»Meinst du damit, daß er getötet wurde, weil man ihn daran hindern wollte?« fragte Barran.

»Er wurde getötet, weil man fürchtete, er würde Il-lans Erben Schaden zufügen.«

»Aber du hast doch erklärt, die Söhne Illans wären bereits aus Sceilig Mhichil abgeholt und Schwester Eisten in Obhut gegeben worden. Stimmt das nicht?«

»Die Geschichte wird kompliziert. Als Illan getötet wurde, gab man seine Söhne einem seiner Vettern in Pflege, der sie aufziehen sollte.«

Fidelma fuhr herum und zeigte auf die Bänke, wo die Angehörigen der Abtei saßen.

»Es war Bruder Midach aus dieser Abtei, der der Pflegevater der beiden Jungen wurde, die man in Scei-lig Mhichil als Primus und Victor kannte.«

Midach saß unbewegt da. Auf seinem Gesicht war ein leichtes Lächeln eingefroren. Er schwieg. Fidelma fuhr fort: »Dacan glaubte, Illans Vetter Pater Mel von Sceilig Mhichil sei der Pflegevater. In der Hinsicht hatte er das Testament nicht sorgfältig genug gelesen. Darin heißt es eindeutig: >Die Entscheidung des Ehrenwerten bestimmt die Pflegschaft meiner Kinder.< Weiß hier nicht jeder, daß der Name Midach >der Eh-renwerte< bedeutet? Midach wurde als aite oder Pflegevater der Söhne Illans eingesetzt.

Entweder aus Mißtrauen oder durch Zufall las Mi-dach die Aufzeichnungen Dacans in der Bibliothek und erkannte, daß der alte Gelehrte nach den Kindern Illans suchte. Dacan überraschte Midach, als der in seinen Aufzeichnungen las, und sie gerieten in Streit. Bruder Martan kann das bezeugen. In Sorge um seine Schützlinge verließ Midach die Abtei noch am selben Abend und fuhr nach Sceilig Mhichil. Er holte die Jungen dort weg und brachte sie zu Schwester Eisten, seiner früheren Schülerin. Er konnte sie danach noch ein paarmal besuchen unter dem Vorwand, das Dorf mit Medikamenten gegen die Gelbe Pest zu versorgen. Er wurde dort gesehen und mir beschrieben. Die wahren Namen der Kinder Illans sind Cetach und Cos-rach. Würde man diese Namen ins Lateinische übersetzen, ergäbe das Primus und Victor, wie sie auf Scei-lig Mhichil genannt wurden.

Midach war entsetzt, als er erfuhr, daß Intat Rae na Scrine überfallen hatte. Er glaubte, Dacan arbeite für Salbach und durch ihn für Scandlan von Osraige. Er wußte leider nicht, daß Grella an der Intrige beteiligt und Eistens Seelenfreundin war. Nach dem Überfall auf das Dorf stellte er fest, daß seine Schützlinge noch lebten und in der Abtei in Sicherheit waren. Er wollte die beiden Jungen aber außer Landes schaffen und bat Schwester Eisten, sich um eine Überfahrt mit einem Schiff zu kümmern.

Cetach, der ältere Junge, hatte erfahren, daß Salbach nach ihnen suchte. Als Salbach hierher kam, bat er mich deshalb inständig, weder ihn noch seinen Bruder dem Fürsten gegenüber zu erwähnen. Dann verschwanden beide.

Während Midach die Kinder versteckte, wollte Eisten eine Überfahrt auf einem Handelsschiff buchen. Erst geriet sie an das falsche Schiff, denn sie fragte einen Matrosen des Kriegsschiffs aus Laigin unter dem Kommando von Mugron. Unglücklicherweise wurde sie dann von Intat entdeckt. Den Rest der Geschichte kennen wir. Trotz Folter verriet Eisten nicht, wo sich die Jungen befanden, und Intat erschlug sie aus Wut. Die Kinder mußten in ihrem Versteck bleiben, bis Midach sie in Sicherheit bringen könnte.«

Fidelma hielt inne, denn ihre Kehle war trocken geworden.

Barran nutzte die Gelegenheit, um Midach etwas zu fragen.

»Leugnest du diese Geschichte oder einen Teil davon?«

Midach saß mit gekreuzten Armen reglos da.

»Ich bestätige sie nicht und leugne sie nicht.«

Der Oberrichter wandte sich wieder an Fidelma.

»Es gibt einen Punkt in deiner Erklärung, in dem ich dir nicht folgen kann. Du hast dich noch nicht zu Dacans Tod geäußert, und so wichtig all diese Ereignisse auch sind, ist das doch der Hauptgrund für den von Laigin erhobenen Anspruch.«

»Dazu komme ich noch, Barran«, versicherte ihm Fidelma.

»Midach verbarg Cetach und Cosrach hier in der Abtei, wo sie noch versteckt sind. Ich glaube, wir können sie jetzt ohne Gefahr aus der Grabstätte des heiligen Fachtna herausholen, denn sie stehen unter dem Schutz des Großkönigs. Ist es nicht so?«

Diese Frage war an Sechnassach gerichtet.

Der Großkönig beantwortete Fidelmas fragenden Blick mit einem knappen Lächeln.

»Sie stehen unter meinem Schutz, Fidelma von Kil-dare.«

»Midach, holst du sie her?«

Der Arzt erhob sich unsicher. Zum Sprechen war er zu erschüttert.

»Wenn du zu der Statue des Cherubs hinter dem Hochaltar gehst und sie eine halbe Wendung nach links drehst, gibt sie den Mechanismus frei, der die Steinplatte bewegt«, sagte Fidelma. Midach blieb vor Überraschung der Mund offen.

»Wie hast du das herausgefunden?« fragte er entgeistert.

»Die Stufen führen hinunter in das geheime Grabmal des heiligen Fachtna, des Gründers dieser Abtei«, fuhr Fidelma fort. »Dort halten sich Cetach und Cos-rach seit dem Tode Schwester Eistens versteckt. Ist das nicht so, Midach?«

Midach ließ resigniert die Schultern sinken.

»Es ist so, wie sie sagt«, murmelte er. »Sie weiß anscheinend alles.«

Auf einen Wink Sechnassachs folgten zwei Mann seiner Leibgarde den Anweisungen Fidelmas und holten gleich darauf zwei schwarzhaarige Jungen aus dem unterirdischen Grabmal heraus. Angstvoll schauten sie auf die vielen Menschen.

Der Oberrichter beeilte sich, ihnen zu sagen, daß sie sich in Sicherheit befänden.

Forbassach war aufgesprungen.

»Ich muß darauf hinweisen, daß wir aus Laigin nicht die geringste Absicht hegen, diesen Jungen Schaden zuzufügen . falls sie wirklich die Söhne Il-lans sind.«

»Sie sind die Söhne Illans«, bestätigte Fidelma. »Und wenn die schwarze Farbe aus ihrem Haar herausgewaschen ist, werdet ihr zwei kupferrote Schöpfe erblicken. Midach färbte ihnen das Haar als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme, als er sie zu Schwester Eisten brachte. Stimmt das nicht?«

Midach schien zu niedergeschlagen, um zu antworten.

Forbassach begann erneut zu sprechen: »Wir haben die Erben Illans lediglich gesucht, um festzustellen, wer sie wirklich sind. Um ihren Aufenthalt zu ermitteln. Es war unser Ziel, ihnen unsere Unterstützung ihres Anspruchs zu versichern und ihnen die Königsherrschaft in Osraige wieder zu verschaffen. Es gibt nur eine Macht, die sich diesem Bestreben widersetzen würde: Cashel. Wie wir von Anfang an gesagt haben, läge es allein in Cashels Interesse, sie zu vernichten. Denn es lag in Cashels Interesse, Dacan umzubringen. Wir wiederholen unseren Anspruch auf Os-raige als Sühnepreis für Dacans Tod.« Er lächelte den beiden Jungen zu. »Da jedoch keiner der beiden Jungen das Alter der Wahl auch nur annähernd erreicht hat und als König bestätigt werden kann, muß die Entscheidung über die Königswürde Fearna zufallen.«

Da sprang Colgü voller Zorn auf, die Regeln des Gerichtsverfahrens mißachtend.

»Cashel steckt nicht hinter all diesen Machenschaften. Salbach hat selbst zugegeben, daß er der Schuldige ist. Dafür wird Cashel ihn bestrafen. Die Übeltaten des Fürsten der Corco Loigde können nicht Cashel zur Last gelegt werden!«

»Doch die Corco Loigde stehen im Treueverhältnis zu Cashel«, gab Forbassach höhnisch zur Antwort. »Wem sonst als Cashel kann also die Schuld zur Last gelegt werden?«

Barran hob beide Hände.

»Daß ihr beide euch nicht an die Regeln des Gerichtsverfahrens haltet, stimmt mich traurig. Daß ihr beide es nicht lassen könnt, euch vor mir zu streiten, verlangt Bestrafung. Colgü, dir wird eine Strafe von einem sed, dem Wert einer Milchkuh, auferlegt, weil du es nicht deiner ddlaigh überlassen hast, deine Argumente vorzutragen. Forbassach, du trägst die größere Schuld, weil du nicht nur juristisch ausgebildet, sondern auch der Anwalt deines Königs bist. Du zahlst einen cumal, den Wert von drei Milchkühen. Passiert das noch einmal, fallen die Strafen nicht so milde aus.«

Barran gab allen einen Augenblick Zeit, sich zu beruhigen, und ließ dann die beiden Jungen vor das cos-na-dala führen.

»Habe ich richtig verstanden, daß diese Jungen noch nicht das Alter der Wahl erreicht haben?« fragte er Midach.

»Das stimmt«, antwortete der Arzt und übernahm damit seine Rolle als ihr Pflegevater.

»Dann können wir ihrer Aussage keinerlei Gewicht beimessen«, seufzte der Oberrichter. »Sie dürfen zwar vernommen werden, doch wenn ihre Worte durch andere Zeugnisse bestritten werden, sind sie hinfällig. So lautet das Gesetz.«

»Das ist mir klar, Barran«, stimmte ihm Fidelma zu. »Falls Forbassach nichts einzuwenden hat, werde ich sie auch nicht als Zeugen aufrufen.«

»Ich würde es vorziehen, wenn Schwester Fidelma sich dem Mord an Dacan zuwenden würde«, erwiderte Forbassach.

»Dann werde ich das jetzt tun«, antwortete Fidelma. »Es kann nun als erwiesen gelten, daß Dacans Tod in ursächlichem Zusammenhang stand mit der Aufgabe, zu deren Lösung er nach Ros Ailithir gekommen war. Er wurde umgebracht, weil man glaubte, er stelle eine Bedrohung dar. Doch ich möchte auf eins hinweisen: Es stimmt, daß ein lebendiger Dacan für Salbach von größerem Wert war als ein toter Da-can. Wem also mußte Dacan als eine Bedrohung erscheinen? Offensichtlich den Kindern Illans, wie ich bereits früher sagte.«

Forbassach war erneut aufgesprungen.

»Und wie ich bereits früher sagte, Laigin bedrohte diese Kinder nicht. Es versuchte, ihnen zu helfen.«

»Aber wußten die Kinder das?«

Fidelmas Frage war schneidend und rief ein unsicheres Schweigen hervor.

Sie wandte sich Midach zu. Der sonst so fröhliche Arzt stand müde und erschöpft vor ihr.

»Dacan hatte zwei Monate lang in der Abtei seine Nachforschungen betrieben, bevor du erfuhrst, daß er nach deinen Pflegekindern suchte. Als du das entdecktest, bist du sofort aufgebrochen, um sie von Sceilig Mhichil wegzuholen. Du hast die Abtei am selben Abend verlassen, an dem Dacan getötet wurde, an dem Abend, an dem er seinem Bruder Noe schrieb, er wolle nach Sceilig Mhichil reisen.«

Barran schaltete sich ein und meinte Fidelma zuvorzukommen.

»Hast du Dacan getötet, Bruder Midach?«

»Dacan war am Leben, als ich die Abtei verließ«, erwiderte Midach mit leiser, aber fester Stimme.

»Das stimmt«, bestätigte Fidelma rasch. Der Oberrichter hob abwehrend die Hand.

»Woher willst du das wissen?«

»Ganz einfach. Wir wissen, daß Dacan gegen Mitternacht getötet wurde, bestimmt nicht früher. Mi-dach mußte gleich nach der Vesper an Bord seines Schiffes sein, damit es mit der abendlichen Ebbe nach Sceilig Mhichil auslaufen konnte. Ich habe die Gezeiten von den Seeleuten hier nachprüfen lassen. Wäre er länger hiergeblieben, hätte er erst am folgenden Morgen abreisen können.«

»Wer hat dann Dacan umgebracht?« Barran war völlig ratlos.

»Jemand, der wie Midach glaubte, daß Dacan den Kindern Illans Schaden zufügen wollte.«

Es herrschte Schweigen, denn jedem war klar, daß die lange Verhandlung nun der Enthüllung des Mörders zustrebte.

Fidelma war überrascht, daß niemand zu derselben Schlußfolgerung kam, die sie schon einige Zeit zuvor gezogen hatte. Als keiner sprach und keiner sich regte, sagte sie: »Nun - wer sonst als die Kinder Illans würde sich von Dacan bedroht fühlen? Wer sonst als der älteste Sohn, der stärker bedroht war als seine Brüder?«

Jeder blickte Cetach an.

»Aber du hast doch gerade gesagt, daß diese beiden Jungen zu der Zeit noch auf Sceilig Mhichil waren, also zwei bis drei Tage Schiffsreise von Ros Ailithir entfernt«, wandte Barran ein.

»Ich habe nicht gesagt, daß es einer dieser beiden Jungen war«, sagte Fidelma laut in das Stimmengewirr hinein.

Wieder wirkten ihre Worte wie ein Wasserguß auf Feuer. Verblüfftes Schweigen trat ein.

»Aber du hast doch gesagt ...«, begann der Oberrichter.

»Ich sagte, daß der älteste Sohn Illans Dacan umbrachte.«

»Dann ...?«

»Illan hatte drei Söhne. Ist es nicht so, Midach? Da-can schrieb in dem Brief an seinen Bruder, daß Illans ältester Sohn gerade das Alter der Wahl erreicht habe. Das schließt diese beiden Jungen aus, die bei weitem noch nicht siebzehn sind. Und es bedeutet auch, daß Illan noch einen dritten Sohn hatte.«

»Du scheinst alles zu wissen, Fidelma«, knurrte Midach grimmig. »Ja, mein Vetter Illan hatte drei Söhne. Sie alle wurden mir in Pflege gegeben, als Illan getötet wurde. Die beiden jüngeren waren bereits nach Sceilig Mhichil zu unserem Vetter Mel geschickt worden. Es stimmt, alles hat sich so ereignet, wie du es beschrieben hast.«

»Und wo ist der älteste Sohn?« wollte Barran wissen.

»Ich kann das Vertrauen meiner Familie nicht brechen«, sagte Midach.

»Der älteste Sohn wurde nach Ros Ailithir gebracht, aber unter falschem Namen«, schaltete sich Fidelma ein.

Sie wandte sich um, und ihr Blick suchte die Reihen der Nonnen ab, die dicht gedrängt in der Abteikirche saßen, bis er die weiße Maske entdeckte, in die sich das Gesicht von Schwester Necht verwandelt hatte.

»Komm nach vorn, Schwester Necht, oder sollte ich lieber Nechtan sagen?« fügte Fidelma hinzu und benutzte die männliche Form des Namens.

Die unbeholfene »Schwester« erhob sich, ihre Blik-ke flogen hierhin und dorthin, als suche sie einen Weg zur Flucht, dann sanken ihre Schultern resigniert herab.

Ein hochgewachsener Leibwächter des Großkönigs ging zu ihr, tippte der »Schwester« auf die Schulter und bedeutete »ihr«, sie solle vor die Richter treten. Langsam und widerwillig gehorchte »Schwester Necht«.

Kein Laut war zu hören, und alle Augen folgten der Gestalt, als sie langsam dorthin schritt, wo Fidelma sie erwartete. Die »Novizin« gab sich keine Mühe mehr, ihre männliche Haltung zu verbergen.

»Darf ich euch Nechtan vorstellen, den Sohn Illans von Osraige. Nechtan ist der ältere Bruder von Cetach und Cosrach.«

»Schwester Necht« straffte »ihre« Schultern und schob trotzig »ihr« Kinn vor, als »sie« vor Fidelma stand.

»Würdest du bitte deine Kopfbedeckung abnehmen?« sagte Barran.

»Schwester Necht« riß sich die Kopfbedeckung herunter.

»Das Haar ist kupferfarben, fast rot«, gab Forbassach in quengeligem Ton zu. »Aber diese ... diese Person ... sieht immer noch wie ein Mädchen aus.«

»Müssen wir diese Komödie noch weiterspielen, Nechtan?« fragte Fidelma. »Sag die Wahrheit.«

»Es ist alles vorbei, mein Junge«, rief Midach traurig und ohne Hoffnung. »Gestehen wir die Wahrheit ein.«

Der Junge mit dem kupferroten Haar starrte Fidelma mit beinahe haßerfülltem Blick an.

»Ja, ich bin Nechtan, der Sohn Illans«, verkündete er stolz.

»Es war alles meine Idee«, beeilte sich Midach zu erklären. »Ich wußte nicht, was ich sonst tun sollte. Ich wußte, daß Scandlan und seine Familie nach Illans Erben suchten. Ich kannte Illans Testament natürlich. Die Jungen waren in meine Obhut gegeben worden, und die jüngeren sollten nach Sceilig Mhichil gehen. Ich glaubte, dort wären sie sicher. Doch ich wußte nicht, wo ich Nechtan verstecken sollte. Aber dann kam mir der Gedanke, er könne sich, als Novizin verkleidet, in der Abtei verbergen und so könne ich ihn stets im Auge behalten. Wer die Erben Illans suchte, der suchte nach seinen Söhnen und nicht nach einem Mädchen.«

»Nechtan war zwar gerade siebzehn geworden, doch mit seiner dunklen Stimme und schlanken Gestalt verwandelte er sich nun in eine junge Frau«, ergänzte Fidelma. »Mit einer Farbe aus Holunderbeeren ließen sich Lippen und Wangen röten, und aus Nech-tan wurde Schwester Necht.«

»Anfangs nahm ich an, Dacan handle im Auftrag von Scandlan«, fuhr Midach fort. »Als ich entdeckte, daß er Illans Testament entziffert hatte, verließ ich sofort die Abtei, um die Jungen von der Insel wegzuholen, bevor man sie dort aufspürte. Ich brachte sie zurück und gab sie Schwester Eisten mit nach Rae na Scrine. Erst nach meiner Rückkehr in die Abtei erfuhr ich, daß Dacan umgebracht worden war.«

»Und wann gestand dir Nechtan, daß er es getan hatte?« fragte ihn Fidelma.

»Am nächsten .« Midach biß sich auf die Lippen und senkte den Kopf. Nechtan starrte schweigend vor sich hin und zeigte keinerlei Bewegung.

Der Oberrichter beugte sich vor.

»Warum hat der Junge Dacan getötet?« fragte Bar-ran. »Diesen Punkt wollen wir endlich geklärt haben.«

»Schwester Necht oder vielmehr Nechtan tötete Dacan aus Furcht«, antwortete Fidelma. »Bevor Mi-dach nach Sceilig Mhichil abfuhr, hatte er ihm erzählt, daß er glaube, Dacan arbeite für seine Feinde. Necht haßte Dacan bereits wegen seines selbstherrlichen, rücksichtslosen Wesens. Es fehlte nur noch ein Funke. Wenige Stunden, nachdem Midach abgereist war, um seine Brüder zu retten, erstach Nechtan Dacan. Ich glaube nicht, daß er die Tat vorsätzlich beging. Erst nachdem sie geschehen war, versuchte Nechtan sie so darzustellen, als sei sie mit Vorbedacht verübt worden.«

»Wie meinst du das?« fragte Barran.

»Nechtan brachte Dacan um und versuchte später, eine Spur zu einer anderen Person zu legen, damit man dieser Person die Schuld gebe.«

»Und wie tat er das?«

»Nachdem Midach die Abtei verlassen hatte, wurde Nechtan in Dacans Zimmer gerufen und sollte ihm Wasser bringen. Vielleicht gab es einen Wortwechsel. Nechtan zog ein Messer und versetzte dem alten Mann im Zorn eine Reihe von Stichen.«

»Er hatte einen Verdacht, wer ich war, das weiß ich!« protestierte Nechtan und sprach damit zum erstenmal. Seine früher schon dunkle Stimme klang etwas schärfer und männlicher, verriet aber kein Gefühl. »Entweder sein Leben oder meins, so standen die Dinge. Er hätte mich getötet, wenn er gewußt hätte, wer ich bin.«

Forbassach saß da und schüttelte verständnislos den Kopf. Fidelma wies auf ihn.

»Du kannst dem ehrenwerten Anwalt von Laigin glauben, wenn er sagt, daß Dacan und Laigin den Kindern Illans nicht schaden wollten«, meinte Fidelma. »Also hast du Dacan aus einer unbegründeten Furcht heraus umgebracht, Nechtan. Dacan suchte nach dir, weil Laigin deinen Anspruch auf die Königsherrschaft in Osraige unterstützen wollte. Man könnte deine Furcht als verständlich bezeichnen. Aber was deine Tat schändlicher macht, Nechtan, ist dein Versuch, eine Spur zu Schwester Grella zu legen.«

»Ich wußte, daß Schwester Grella mit Dacan zusammenarbeitete. Ich wußte auch, daß Grella Salbachs Geliebte war«, verteidigte sich Nechtan. »Als Midach abreiste, um meine Brüder zu retten, beschloß ich, uns alle zu retten. Wenn Grella des Mordes an Dacan beschuldigt würde, wäre das lediglich eine gerechte Vergeltung.«

»Du versuchtest das ganze Material zu vernichten, das Dacan gesammelt hatte und aus dem deine Identität und die deiner Brüder hervorging. Du wußtest aber nicht, daß Grella den Entwurf von Dacans Brief an seinen Bruder an sich genommen hatte, um ihn Salbach zu zeigen. Außerdem hast du nicht darauf geachtet, daß ein Ogham-Stab in Dacans Zimmer unter das Bett gerollt war. Du verrietest Entsetzen, als ich ihn fand. Deshalb mußtest du mir in die Bibliothek folgen, als ich ihn Grella brachte, damit du sicher wärst, daß er nichts preisgebe. Grella erkannte ihn und tat so, als stünde etwas ganz anderes darauf, um mich von der Spur abzulenken. Ich ließ den Stab in der Bibliothek, und später am Abend kehrtest du dorthin zurück und verbranntest ihn mit den anderen Ogham-Stäben, um deine Spuren zu verwischen.«

»Aber Dacan wurde gefesselt, bevor er getötet wurde«, wandte der Oberrichter ein. »Wie brachte der Junge das fertig?«

»Er wurde gefesselt, nachdem er getötet wurde, um Grella stärker zu belasten. Es war klar, daß er nicht vorher gefesselt wurde, denn die Stoffstreifen von Grellas Rock waren so mürbe, daß der Schwächste diese Fesseln hätte zerreißen können. Das merkte ich schon zu Anfang meiner Untersuchung und wußte, daß ich es mit einem sorgfältig ausgetüftelten Plan zu tun hatte.«

Fidelma sprach nun direkt zu Nechtan.

»Du mußt wohl den ganzen Rest der Nacht wach gelegen und über deine Tat nachgedacht haben. Dann hast du beschlossen, daß du nicht nur eine Spur legen mußt, die den Verdacht von dir weglenkt, sondern du wolltest auch, wie du zugegeben hast, Gerechtigkeit üben an einer Person, die du zu deinen Feinden zähltest.«

Nechtan stand da und schwieg.

»Du hast gewartet, bis die Glocke zur Frühmette rief, und beobachtet, wie Schwester Grella zum Gottesdienst ging. In der Hoffnung, daß noch niemand Dacans Leiche entdeckt hatte, schlichst du dich in Grellas Zimmer und fandest einen alten Leinenrock, von dem du Streifen abreißen konntest. Es war das einzige unverwechselbare Kleidungsstück, das dir in die Hände fiel. Wahrscheinlich hast du gehofft, sie würde den Rock oft tragen und die fehlenden Streifen würden sofort auffallen. Dir war nicht klar, daß keine Nonne einen solchen Rock tragen würde und daß es einfach ein alter abgelegter Rock war.

Mit den Streifen gingst du in Dacans Zimmer. Es war dunkel. Die Öllampe war leergebrannt. Also fülltest du sie auf und zündetest sie wieder an. Offensichtlich war noch niemand dagewesen. Dann bandest du Dacan an den Knöcheln und an den Händen. Um ihm die Hände auf dem Rücken zu binden, mußtest du die Leiche auf dem Bett umdrehen, mit der Brust nach unten, wodurch Blutflecke auf die Decke gerieten. Das erschien mir merkwürdig, denn Dacan lag mit dem Rücken auf dem Bett und hatte Wunden in der Brust, und das Blut befand sich auf der Decke unter der Leiche. Die Leiche war also zu irgendeinem Zweck bewegt worden. Danach gingst du fort, hast aber vergessen, die Lampe zu löschen. Eine halbe Stunde später kam Bruder Conghus. Deine falsche Fährte bewirkte damals nichts. Niemand war so erfahren, ihre Bedeutung zu erkennen. Sie ergab keinen Sinn, bis ich mehr als eine Woche später eintraf, um die Spur aufzunehmen.

Als ich von Sceilig Mhichil zurückkehrte und feststellte, daß verschiedene Gegenstände aus dem Beutel verschwunden waren, den ich bei Abt Brocc zurückgelassen hatte, begann ich zu ahnen, was geschehen sein könnte. Man hatte die Gegenstände gestohlen, die Hinweise auf die Söhne Illans enthielten. Geblieben waren die Beweisstücke, die Schwester Grella mit dem Mord in Verbindung brachten.«

Fidelma hielt inne und wartete auf eine Äußerung des Jungen. Nach einer Pause redete Barran ihn an.

»Du sagst nichts. Gibst du das alles zu?«

Der Junge zuckte die Achseln.

»Ich habe nichts zu sagen. Ich handelte in Notwehr.«

»Das bedeutet praktisch ein Geständnis«, warnte ihn der Oberrichter.

»Wenn du es sagst«, antwortete der Junge ungerührt.

Midach trat vor und umarmte den Jungen mit sorgenvollem Gesicht.

»Mein Sohn, ich bin dein anamchara und dein Pflegevater. Ich habe dich in allen Dingen geleitet. Ich werde dir den besten Anwalt zu deiner Verteidigung beschaffen.«

Midachs Miene war voller Angst, als er Fidelma ansah.

»Es ist mein Fehler. Es ist allein mein Fehler! Ich habe ihm die Furcht vor Dacan eingegeben.« Er wandte sich an den Oberrichter. »Kann ich die Schuld für diesen Jungen auf mich nehmen?«

Barran schüttelte den Kopf.

»Der Junge hat das Alter der Wahl erreicht. Er ist verantwortlich für sein Tun wie ein Erwachsener. Was seine Angst vor Dacan betrifft, so hast du ihr nur eine greifbare Form verliehen, denn offensichtlich haßte der Junge Dacan bereits und fürchtete ihn aus diesem Haß heraus.«

»Ja, er handelte aus Furcht. Selbst Fidelma von Kil-dare ist der Meinung.«

»Das mag so sein. Doch einen unschuldigen Menschen absichtlich zu belasten ist ein noch schlimmeres Verbrechen.«

»Noch ein Wort, Barran«, unterbrach ihn Fidelma. »Dieses Gericht hat seine Pflicht erfüllt, wenn es den Abt von Ros Ailithir und den König von Muman von jeglicher Schuld am Tode Dacans von Fearna freispricht. Diese Ratsversammlung muß sich darauf beschränken, den Anspruch Laigins auf Schadenersatz zu beurteilen. Es ist nun an diesem Gericht, seinen Spruch zu fällen. Eine weitere Aufgabe hat es nicht.

Nechtan wird sich vor einem anderen Gericht für seine Taten zu verantworten haben, ebenso wie Sal-bach, dessen Verbrechen alle anderen weit übertreffen. Dieses andere Gericht möge dann auch entscheiden, welcher Grad an Schuld Nechtan zuzumessen ist. Und wenn Nechtan es wünscht, werde ich ihn als sein Anwalt vertreten, denn ich meine, kein Junge, ob er nun gerade das Alter der Wahl erreicht hat oder nicht, sollte so sehr um sein Leben fürchten müssen wie die drei Söhne Illans im letzten Jahr. Ich bin der Ansicht, daß diese Furcht seine Schuld in gewissem Maße mindert, wenn nicht sogar aufhebt.«

Midach starrte Fidelma verwundert an, wie viele andere auch.

Barran räusperte sich.

»Ich danke dir, Fidelma von Kildare«, sagte er trok-ken, »daß du mich an unsere Aufgabe erinnert hast. Ich glaube allerdings, daß ich oder die Ratsversammlung sie auch sonst nicht vergessen hätten.«

Fidelma senkte den Kopf unter der milden Ironie des Oberrichters.

»Anwälte von Cashel und Fearna, habt ihr eure Plädoyers und Gegenplädoyers abgeschlossen?« fragte der Oberrichter nun.

Fidelma zögerte einen Moment, dann ergänzte sie: »Ich möchte das Gericht noch einmal an das erinnern, was ich zu Anfang sagte. Dacan kam, wie inzwischen auch sein Bruder Noe zugegeben hat, mit dem heimlichen Auftrag in dieses Königreich, den Aufenthalt der Söhne Illans zu ermitteln, damit sie für die politischen Ziele des Königreichs Laigin eingesetzt werden könnten. Ich behaupte, daß auf Grund dieser Täuschung Dacan jeden Anspruch verwirkt hat, den er oder seine Verwandten nach dem Gastrecht erheben könnten.

Die Verantwortung liegt nicht beim Abt von Ros Ailithir und auch nicht in letzter Instanz bei Cashel.

Zweitens habe ich bewiesen, daß Nechtan, der Sohn Illans von Osraige, der wahre Schuldige ist; er ermordete Dacan, weil er sein Leben und das seiner jüngeren Brüder in Gefahr glaubte. Es liegt nicht in der Zuständigkeit dieses Gerichts, über seine Schuld zu urteilen, doch ich möchte noch einmal hervorheben, daß es mildernde Umstände für Nechtans Handeln gibt.«

Fidelma kehrte zu ihrem Platz zurück und setzte sich zum erstenmal, seit sie sich erhoben hatte, um ihr Plädoyer zu halten.

Barran gab Forbassach das Zeichen, sein Plädoyer zusammenzufassen und das zu widerlegen, was er für falsch hielte.

Der Anwalt des Königs von Laigin war in eine Diskussion mit seinem unglücklich dreinschauenden jungen König und dem mit steinerner Miene dasitzenden Abt von Fearna vertieft. Er wandte sich dem Gericht zu, erhob sich und sagte zögernd: »Laigin akzeptiert, daß Cashel nicht die Verantwortung für Dacans Tod trägt. Aber ein Mord ist geschehen, und das Gericht muß entscheiden, wer dafür verantwortlich zu machen ist.«

Barran wandte sich ab und wechselte flüsternd ein paar Worte mit dem Großkönig und dann mit Ultan von Armagh. Dann sagte er: »Der Fall, über den dieses Gericht zu urteilen hat, liegt nun klar vor uns. Schwester Fidelma hat uns daran erinnert. Dieses Gericht soll darüber entscheiden, ob die Verantwortung für den Tod Dacans bei Cashel liegt. Sollte dem so sein, würde Laigin Anspruch auf Osraige als Sühnepreis erheben. Die Beweise, die uns vorgelegt wurden, führen zu dem Urteil, daß die Verantwortung für Da-cans Tod nicht bei Cashel liegt. Daraus folgt, daß Laigins Forderung nach dem Sühnepreis abgelehnt wird. Osraige bleibt, wie schon in den letzten sechshundert Jahren, unter der Oberhoheit von Cashel, und seine Könige entrichten ihren Tribut an Cashel und nicht an Fearna.«

Beifalls erscholl.

Barran hob die Hand.

»Dennoch meine ich, in Übereinstimmung mit dem Großkönig, daß es noch etwas gibt, das das Gericht bei seinem Spruch berücksichtigen sollte. Wir haben gehört, aus welchem Grunde hier ein so tragischer Weg von Tod und Vernichtung beschritten wurde. All das ist auf die Tatsache zurückzuführen, daß das Volk von Osraige die Königsherrschaft, die ihm von der Familie Ciarans von Saighir auferlegt wurde, die Königsherrschaft der Familie der Fürsten der Corco Lo-lgde, als nicht gerecht empfindet. Der heilige Ciaran war, meinen wir, schlecht beraten, als er die Corco Loigde in Osraige einsetzte. Es ist nun an der Zeit, daß die ursprünglichen Könige von Osraige wieder ihren rechtmäßigen Platz einnehmen. Wir möchten den König von Cashel ermahnen, Maßnahmen zu treffen, damit das Volk des Kleinkönigreichs von Os-raige frei entscheiden kann, von wem es nach den Gesetzen rechtmäßiger Thronfolge regiert werden will.«

Colgü erhob sich mit ernstem Gesicht.

»Es hat mir großen Schmerz bereitet, zu erfahren, was sich in meinem Königreich ereignet hat. Die Morde an all den Unschuldigen werden nicht ungestraft bleiben. Die Familie der Fürsten der Corco Lo-lgde hat in moralischer Hinsicht ihren Anspruch verwirkt, Osraige zu regieren. Das Volk von Osraige soll entscheiden. So soll es sein, darauf schwöre ich meinen heiligen Eid.«

Der Oberrichter dankte Colgü mit einem Lächeln.

»Deine Worte haben den Großkönig erfreut. Es gibt noch eine weitere Ermahnung, die wir unserer Meinung nach mit unserem Urteil verbinden sollten. Es bleibt einem Gericht von Cashel überlassen, den Grad der Schuld und das Strafmaß für den unglückseligen Nechtan festzulegen. Nach dem, was wir vor diesem Gericht gehört haben, können wir jedoch sagen, daß Dacans Sühnepreis durch sein heimliches Vorgehen im Auftrag von Laigin verringert wird. Die Strafe für den Tod eines Gelehrten vom Range Dacans beträgt nach dem Gesetz sieben cumals, das entspricht dem Wert von einundzwanzig Milchkühen. Der Sühnepreis für einen Mann von seinem kirchlichen Rang beträgt zwanzig sed, das entspricht dem Wert von zwanzig Milchkühen. Es wäre also die Summe von einundvierzig sed zu entrichten von dem, der für seinen Tod schuldig gesprochen wird. Allerdings ...«

Barran sah den König von Laigin an.

»Es gibt in dieser Sache noch weitere Schuldige. Dieses Gericht erklärt, daß die Auftraggeber Dacans den Frieden der Königreiche von Cashel und Laigin gestört und mit einem blutigen Krieg gedroht haben. Dafür sind sie verantwortlich. Der Sühnepreis für den König einer Provinz beträgt sechzehn cumals, und weil der König von Laigin seine Ehre beschmutzt hat, hat er sechzehn cumals an den Großkönig zu zahlen.«

Fianamail sah blaß und verbittert aus, aber er schwieg.

»Weitere sieben cumals hat Fianamail an den König von Cashel zu zahlen, weil er dessen Ehre verletzt hat. So lautet das Urteil des Gerichts. Hat Fianamail von Laigin etwas dazu zu sagen?«

Der junge König stand zögernd auf und setzte zum Sprechen an, doch dann schüttelte er den Kopf und nahm seinen Platz wieder ein. Er flüsterte mit seinem dalaigh.

Forbassach als sein Anwalt erhob sich.

»Laigin akzeptiert die Ermahnung des Gerichts«, sagte er ruhig. »Cedant arma togae ... Mögen die Waffen dem Talar des Richters weichen.«

»So muß es auch sein«, stimmte ihm der Oberrichter feierlich zu. »Die Verhandlung vor dieser Ratsversammlung ist hiermit geschlossen.«

Fidelma saß mit ihrem Bruder auf der Bastion des Wehrgangs auf der hohen Mauer der Abtei; sie schauten auf die Bucht hinaus. Der kleine Meeresarm lag jetzt still und verlassen da, abgesehen von ein paar Küstenseglern und Fischerbooten. Die vielen Schiffe, die den Großkönig und seine Hofleute, den Erzbischof von Armagh und Fianamail von Laigin und seine Gefolgsmänner hergebracht hatten, waren alle wieder abgesegelt. Selbst das bedrohliche Kriegsschiff Mugrons, das ein fester Bestandteil der Szenerie der Bucht geworden zu sein schien, hatte die Anker gelichtet und war der Flotte Laigins gefolgt, als sie die Küste von Muman verließ. Geblieben war ein ruhiger, beschaulicher Anblick.

»Wirklich, Fidelma«, sagte Colgü aufgeräumt, »du hast bewiesen, daß dein Ruf wohlbegründet ist.«

Fidelma zuckte gleichmütig die Achseln.

»Es gibt keinen Grund zur Selbstzufriedenheit«, erwiderte sie. »Wäre ich es nicht gewesen, der diese bösen Menschen zu Fall bringen half, dann hätte es jemand anders getan. Sagt nicht schon Euripides, daß böse Menschen durch ihr eigenes Wesen daran gehindert werden, Erfolg zu haben?«

»Ich glaube, du denkst da mehr an Salbach als an den jungen Nechtan, nicht wahr?« meinte Colgü ernst. »Wenn du Salbach nicht überführt hättest, dann hätten wahrscheinlich noch viele Menschen ihr Leben verloren, bevor wir ihm auf die Schliche gekommen wären. Wenigstens können sich die Corco Loigde jetzt einen neuen Fürsten wählen, und zwar einen, wie ich hoffe, der mehr Ehre und Menschlichkeit besitzt. Und Osraige wird wohl auch zufrieden sein, wenn es sich seine alten Herrscher wieder erwählen kann. Ich für mein Teil bin der Ansicht, daß Scandlan ebensoviel Schande trifft wie Salbach.«

»Ja, es ist gut so«, pflichtete ihm Fidelma bei. »Ich kann es zwar nicht beweisen, aber ich glaube, daß Scandlan von Osraige auch an der Verschwörung beteiligt war, alle Gegner seiner Dynastie zu vernichten. Was den jungen Nechtan angeht, wenn er mich als seine Anwältin haben will, dann werde ich ihn verteidigen«, sagte Fidelma noch einmal. »Er war ein Gefangener der Umstände und lebte in großer Furcht.«

»Aber seine Hand führte das Messer, das in Dacans Brust stach«, wandte Colgü ein.

»Die Angst leitete ihn und verlieh ihm die Kraft. In allen Dingen gibt es Abstufungen der Schuld.«

»Nun, das Gespenst des Krieges hat sich verzogen, und das verdanken wir dir, Fidelma.«

»Für diesmal jedenfalls.« Fidelma lächelte spöttisch. »Mein Mentor, der Brehon Morann von Tara, sagte immer, daß dem Menschen auf seinem Wege durch die Geschichte Wälder vorangingen und Wüsten und Einöden folgten.«

»Der war kein Optimist«, erwiderte Colgü.

»Wenn du die Menschen aus der Distanz betrachtest, wirst du an ihnen zwangsläufig nicht viel Lobenswertes finden«, meinte Fidelma. »Die Kunst und die Philosophie sind nicht dem Wesen des Menschen entsprungen, sie entstehen trotz des menschlichen Wesens.«

Der Klang der Vesperglocke ließ sie gleichzeitig zum Glockenturm der Abtei aufblicken. Colgü lächelte seine Schwester an und legte ihr brüderlich den Arm um die Schulter.

»Komm, gehen wir hinein zum Essen. Trübsal blasen können wir später. Es steht dir nicht gut, so pessimistisch zu sein, meine kleine Schwester.«

»Nun, was wäre, wenn wir so täten, als wäre alles gut, während es uns doch so elend geht. Nein«, wehrte sie mit erhobener Hand den ärgerlichen Protest ihres Bruders ab. »Ich bin schon still. Gehen wir essen. Bereits Euripides sagte, wenn der Magen voll ist, dann hört die Streitlust auf.«

Arm in Arm schritten die Geschwister dem Refektorium der Abtei entgegen.