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Colgü schien die Antwort erneut aufschieben zu wollen, doch als er das Funkeln in den Augen seiner jüngeren Schwester sah, überlegte er es sich anders.
»Na schön«, antwortete er. »Aber gehen wir lieber da hin, wo wir offener sprechen können und nicht noch mal unterbrochen werden. Es gibt viele Lauscher, die den Königen von Muman übel gesonnen sind.«
Fidelma hob überrascht die Augenbrauen, sagte aber nichts dazu. Sie wußte, daß ihr Bruder nicht zu Übertreibungen neigte.
Sie folgte ihm wortlos aus dem Zimmer und durch die Korridore des Palastes, deren Steinwände mit reichen Teppichen verkleidet und mit Kunstgegenständen geschmückt waren, die die Eoganacht-Könige im Laufe der Jahrhunderte gesammelt hatten. Colgü führte sie durch einen großen Raum, den sie als die Tech Screptra, das scriptorium oder die Bibliothek des Palastes, kannte, wo sie als kleines Mädchen lesen und schreiben gelernt hatte. Neben eindrucksvollen illustrierten Pergamenttexten enthielt die Tech Screptra einige der alten Bücher von Muman. Darunter befanden sich die »Stäbe der Dichter«, Stöcke aus Espenoder Haselholz, in die die Schreiber der Vorzeit ihre Sagas, Gedichte und Geschichten in Ogham eingeritzt hatten, der alten Schrift, die noch in Teilen von Muman in Gebrauch war. In dieser Tech Screptra waren die Phantasie und der Wissensdurst des kleinen Mädchens wachgerufen worden.
Fidelma blieb kurz stehen, beinahe überwältigt von Nostalgie, und hing lächelnd ihren Erinnerungen nach. Mehrere Glaubensbrüder saßen dort und brüteten im Licht der blakenden Talgkerzen über den Büchern.
Sie merkte, daß Colgü ungeduldig auf sie wartete.
»Wie ich sehe, öffnet ihr auch weiterhin die Bibliothek den Gelehrten der Kirche«, meinte sie beifällig, als sie zusammen weitergingen. Die große Bibliothek von Cashel war das persönliche Eigentum der Könige von Muman.
»Das wird nie anders sein, solange wir im Glauben bleiben«, antwortete Colgü fest.
»Ich habe aber gehört, daß gewisse engstirnige Glaubensmänner die alten Texte, die >Stäbe der Dichter<, mit der Begründung verbrennen, daß sie von götzen-anbetenden Heiden geschrieben wurden. In Cashel gibt es viele solcher Bücher. Schützt ihr sie vor solcher Intoleranz?«
»Solche Intoleranz ist doch bestimmt nicht mit unserem Glauben vereinbar, kleine Schwester?« bemerkte Colgü trocken.
»Das würde ich auch sagen. Andere vielleicht nicht. Man berichtete mir, Colman von Cork habe vorgeschlagen, alle heidnischen Bücher zu vernichten. Doch ich finde, es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen, daß die Schätze unseres Volkes nicht verbrannt werden und verlorengehen, nur weil die Intoleranz in Mode kommt.«
Colgü lachte belustigt.
»Die Frage ist überhaupt akademisch. Colman von Cork ist aus Furcht vor der Pest aus dem Lande geflohen. Seine Stimme zählt nicht mehr.«
Sie durchquerten die winzige Familienkapelle. In Fidelmas Familie wurden viele Geschichten überliefert, wie der heilige Patrick selbst nach Cashel gekommen war, um ihren Ahnherrn, König Conall Corc, zum neuen Glauben zu bekehren. Eine besagte, er habe das Kleeblatt, das seamrog, dazu benutzt, Co-nall die heilige Dreieinigkeit zu erklären. Dabei war das nicht schwer zu verstehen, denn alle heidnischen Götter des alten Irland waren dreieinige Götter, vereinigten drei Personen in einem Gott.
Sie gelangten in die Privaträume der Familie und ihrer engsten Gefolgsleute, die hinter den allgemein zugänglichen Empfangsräumen lagen.
Ihr Zimmer war für sie hergerichtet worden, in dessen Kamin ein frisch entfachtes Feuer loderte. Es war das Zimmer, in dem sie geboren worden war und ihre ersten Lebensjahre verbracht hatte. Es war kaum verändert worden.
Vor dem Feuer stand ein Tisch mit Speisen und Wein.
Colgü bedeutete seiner Schwester, sich auf einem Stuhl niederzulassen.
»Essen wir erst, und dabei werde ich versuchen, dir zu erklären, warum König Cathal dich herrufen ließ.«
Fidelma gehorchte. Sie hatte eine lange und anstrengende Reise hinter sich und war heißhungrig.
»Bist du sicher, daß unser Vetter zu krank ist, um mich zu sehen?« erkundigte sie sich, bevor sie die Mahlzeit begann. »Ich habe keine Angst vor der Gelben Pest. Seit zwei Jahren bin ich ihr oftmals begegnet und gesund geblieben. Und wenn ich ihr zum Opfer fallen sollte, nun, dann war es Gottes Wille.«
Colgü schüttelte traurig den Kopf.
»Cathal ist nicht einmal mehr in der Lage, mich zu erkennen. Sein Arzt meint, er werde diese Nacht nicht überleben. Forbassach von Laigin hatte tatsächlich recht. Es ist jetzt meine Pflicht, auf seine Forderungen zu antworten.«
Fidelma preßte die Lippen zusammen, als sie begriff, was das bedeutete.
»Wenn Cathal heute nacht stirbt, dann wirst du ...?«
Sie hielt inne im Bewußtsein, daß es ungehörig war, diesen Gedanken auszusprechen, solange ihr älterer Vetter noch am Leben war.
Doch Colgü beendete ihren Satz mit einem bitteren Lachen.
»Dann werde ich König von Muman? Ja, genau das bedeutet es.«
Wie alle irischen Könige und Fürsten, waren die Eoganacht-Könige von den derbfhine ihrer Familien,
das heißt von allen lebenden Nachkommen von einem gemeinsamen Urgroßvater, in dieses Amt gewählt worden. Beim Tode eines Königs kamen sie zusammen und wählten denjenigen von ihnen, der als nächster den Thron besteigen sollte. Es traten also nicht notwendigerweise die Söhne das Erbe des Vaters an. Failbe Fland, der Vater Colgüs und Fidelmas, war König in Cashel gewesen. Er war vor sechsundzwanzig Jahren gestorben, als Fidelma und Colgü noch Kinder waren.
Um für irgendein Amt im Lande in Frage zu kommen, mußte der Kandidat jedoch mindestens das »Alter der Wahl« erreicht haben, das vierzehn Jahre für ein Mädchen und siebzehn Jahre für einen Jungen betrug. Failbe Flands Vettern waren ihm in seinem Amt gefolgt, bis man drei Jahre zuvor Cathal mac Cathail zum König von Muman gewählt hatte.
Es war Brauch und Gesetz, auch den Thronfolger, den tdnaiste, schon zu Lebzeiten eines Königs zu bestimmen. Als Cathal König von Cashel wurde, hatte man Fidelmas Bruder Colgü zu seinem tdnaiste gewählt.
Wenn also Cathal starb, würde er König von Mu-man werden, dem größten der fünf Königreiche von Eireann.
»Du übernimmst eine schwere Verantwortung, Bruder«, sagte sie und legte ihm die Hand auf den Arm.
Er seufzte und nickte langsam.
»Ja. Selbst in guten Zeiten sind mit dem Amt viele schwere Bürden verbunden. Aber jetzt sind die Zeiten schlecht, Fidelma. Das Königreich steht vor vielen Problemen. Das größte Problem ist erst vor wenigen Tagen aufgetaucht, und deshalb hatte Cathal nach dir geschickt, als er noch nicht so krank war. Seit du von hier fort bist, kleine Schwester, hat sich dein Ruf als Brehon, als Anwältin am Gericht und als Aufdeckerin von Geheimnissen weit verbreitet. Wir haben davon gehört, welche Dienste du dem Großkönig geleistet hast, dem König von Northumbrien und selbst dem Heiligen Vater in Rom.«
Fidelma machte eine abwehrende Geste.
»Ich befand mich zufällig an den Orten, wo mein Talent gebraucht wurde«, antwortete sie. »Jeder, der einen logischen Verstand besitzt, hätte die Probleme ebenso lösen können.«
Colgü lächelte sie an.
»Du warst noch nie eingebildet, Schwester.«
»Zeig mir eine eingebildete Person, und ich weise dir ihre Mittelmäßigkeit nach. Aber was hat das alles mit Forbassach von Fearna zu tun?«
»Das erfährst du gleich. König Cathal glaubte, du könntest ein Rätsel lösen, das die Sicherheit des Königreichs bedroht. Eigentlich bedroht es sogar den Frieden der fünf Königreiche von Eireann.«
»Welches Rätsel?« fragte Fidelma und machte sich an die Mahlzeit, die man für sie vorbereitet hatte.
»Hast du von dem Ehrwürdigen Dacan gehört?«
Fidelma hob leicht eine Augenbraue bei Nennung dieses Namens.
»Wer hätte das nicht?« erwiderte sie rasch. »In einigen Kreisen wird er schon als Heiliger betrachtet. Er ist ein Lehrer und Theologe von nicht geringen Fähigkeiten. Sein Bruder, der Abt Noe von Fearna, ist der persönliche Berater des Königs von Laigin und gilt als ebenso fromm wie sein Bruder. Beide genießen hohe Achtung und großes Ansehen. In vielen Gegenden der fünf Königreiche hört man von ihrer Weisheit und Mildtätigkeit.«
Colgü nickte langsam zu Fidelmas begeisterter Schilderung. Ein müder Ausdruck trat in sein Gesicht, als gefalle ihm nicht, was er da vernahm, er habe aber nichts anderes erwartet.
»Du weißt, daß es in letzter Zeit Feindseligkeiten zwischen den Königreichen Muman und Laigin gegeben hat?«
»Ich habe gehört, daß, seit vor ein paar Monaten der alte König Faelan an der Pest gestorben ist, der neue König Fianamail Mittel und Wege sucht, sein Ansehen zu erhöhen, indem er Streit mit Muman anfängt«, stimmte sie zu.
»Und wie könnte er sein Ansehen besser erhöhen, als dadurch, daß er einen Anlaß findet, um von Mu-man die Rückgabe des Kleinkönigtums Osraige zu fordern«, stellte Colgü bitter fest.
Fidelma spitzte die Lippen zu einem lautlosen Pfiff der Überraschung.
Osraige war ein Kleinkönigreich, das seit langem die Ursache schlechter Beziehungen zwischen den beiden größeren Königreichen Muman und Laigin bildete. Es erstreckte sich in nordsüdlicher Richtung entlang dem Fluß Feoir. Vor Jahrhunderten, als die Könige von Muman als Großkönige über alle fünf Königreiche von Eireann herrschten, unterstand Os-raige der Schutzherrschaft der Könige von Laigin. Als Edirsceal von Muman Großkönig wurde, beschlossen die Männer von Laigin, ihn umzubringen, damit Nuada Necht von Laigin seinen Platz einnehme. Der König wurde ermordet, doch die Täter wurden entdeckt. Der Sohn von Edirsceal, Conaire Mor, wurde später Großkönig, und er und seine Brehons berieten, welchen Sühnepreis das Königreich Laigin als Entschädigung für diese Schandtat an Muman zahlen sollte. Es wurde beschlossen, daß Laigin das Königreich Osraige abzutreten habe. Von da an gehörte Osraige zum Königreich Muman, und seine Kleinkönige entrichteten ihren Tribut in Cashel und nicht mehr in Fearna, der Hauptstadt von Laigin.
Immer mal wieder protestierten die Könige von Laigin beim Großkönig und forderten die Rückgabe von Osraige. Doch sechs Jahrhunderte waren vergangen seit den Tagen von Conaire Mor, als Osraige an Muman fiel. Jeder Protest war von der Großen Ratsversammlung der Brehons von Eireann abgelehnt worden, die alle drei Jahre im Königspalast in Tara zusammentrat. Strafe und Entschädigung waren als gerecht bestätigt worden.
Fidelma richtete den Blick wieder auf das besorgte Gesicht ihres Bruders.
»Aber wenn Fianamail auch ein junger und unerfahrener König ist, wird er doch wohl nicht daran denken, Osraige mit Gewalt zurückzuholen?«
Ihr Bruder machte eine bejahende Geste.
»Nicht mit Gewalt allein, Fidelma«, sagte er. »Kennst du die innenpolitische Lage in Osraige?«
Fidelma wußte wenig von diesem Königreich und gab es auch zu.
»Aus Gründen, die jetzt zu umständlich zu erklären wären, wurden vor fast zweihundert Jahren die angestammten Könige von Osraige durch eine Familie aus dem Clan der Corco Loigde im Südwesten des Königreichs abgelöst. Seitdem hat es in Osraige ständig Unruhen gegeben. Die Corco Loigde sind nicht populär. Ab und zu gab es Aufstände in Osraige, um sie zu stürzen. Vor weniger als einem Jahr wurde Illan, der letzte Nachkomme der angestammten Könige von Osraige mit Anspruch auf den Königstitel, von dem gegenwärtigen König Scandlan umgebracht. Natürlich gehört Scandlan der herrschenden Familie der Corco Loigde an.«
Colgü hielt einen Moment inne und ordnete seine Gedanken, ehe er fortfuhr.
»Es heißt, Illan habe einen Erben. Gerüchte besagen, dieser Erbe, wenn es ihn denn gibt, würde sich gern mit Laigin einigen, wenn Laigin verspricht, ihm bei der Absetzung der Corco Loigde als Könige zu helfen.«
»Das würde Krieg zwischen Laigin und Muman bedeuten; Laigin müßte Osraige mit Gewalt zurückholen«, erklärte Fidelma.
Ihr Bruder beugte sich mit unglücklicher Miene vor.
»Doch wenn nun eine Tat geschehen wäre, die genau der ähnelt, für die Laigin seinerzeit Osraige abtreten mußte?«
Fidelma richtete sich auf, und ihre Muskeln spannten sich. Colgü blickte düster drein.
»Du hast bestätigt, daß du weißt, welches Ansehen der Ehrwürdige Dacan von Laigin bei vielen Menschen genießt. Er war ein frommer und verehrter Mann. Und du hast bestätigt, daß du weißt, daß sein Bruder, Noe von Fearna, sowohl von seinem König Fianamail als auch vom Volk der fünf Königreiche ähnlich hoch geschätzt wird.«
Fidelma bemerkte, daß Colgü die Vergangenheitsform benutzte, schwieg aber.
»Vor zwei Monaten«, fuhr Colgü mit Besorgnis in der Stimme fort, »kam der Ehrwürdige Dacan nach Cashel und bat den König, hier arbeiten zu dürfen. Dacan hatte von der Arbeit gehört, die in der Abtei des heiligen Fachtna in Ros Ailithir geleistet wird, und wollte sich der Gemeinschaft dort anschließen. Natürlich hieß König Cathal einen so gelehrten und geachteten Wissenschaftler wie Dacan in seinem Reich willkommen.«
»Also begab sich Dacan nach Ros Ailithir?« fragte Fidelma, als Colgü verstummte.
»Vor acht Tagen erhielten wir die Nachricht, daß der Ehrwürdige Dacan in seiner Zelle in der Abtei ermordet wurde.«
Fidelma war es sofort klar, daß der Tod des Ehrwürdigen Dacan, auch wenn das Sterben durch das Wüten der Pest alltäglich geworden war, nachhaltiges Aufsehen in allen fünf Königreichen erregen würde, noch dazu, wenn er durch Gewaltanwendung eingetreten war.
»Willst du damit sagen, daß du meinst, der neue König von Laigin, Fianamail, werde Dacans Tod dazu benutzen, als Entschädigung die Rückkehr des Gebiets von Osraige in seinen Herrschaftsbereich zu fordern?«
Colgü duckte sich unwillkürlich.
»Ich meine es nicht nur, ich weiß es. Bereits gestern ist Forbassach von Fearna als Gesandter des Königs Fianamail von Laigin hier angekommen.«
In Fearna befand sich sowohl der Sitz der Könige von Laigin als auch Noes Abtei.
»Wie kann die Nachricht sie so schnell erreicht haben?« fragte Fidelma.
Colgü hob die Hände.
»Ich vermute, es ist sofort jemand von Ros Ailithir losgeritten, um Dacans Bruder Noe in Fearna zu verständigen.«
»Logisch«, stimmte Fidelma zu. »Aber was hat dieser arrogante Forbassach in der Angelegenheit zu sagen?«
»Der Gesandte von Fianamail hat seine Forderungen genau formuliert. Es müsse nicht nur das eric-Bußgeld bezahlt werden, die festgelegte Geldstrafe, sondern auch als Sühnepreis die Rückgabe aller Herrschaftsrechte über Osraige an Laigin erfolgen. Lehnen wir das ab, will Fianamail es auf blutigem Wege durchsetzen. Du kennst die Gesetze besser als ich, Fidelma. Haben sie das Recht, solche Ansprüche zu stellen? Ich fürchte, ja, denn Forbassach ist nicht dumm.«
Fidelma preßte nachdenklich die Lippen zusammen.
»Unser Rechtssystem gestattet es, einen Mord durch die Zahlung einer Entschädigung zu sühnen, durch das eric-Bußgeld, wie du richtig sagst. Es beträgt sieben cumals, den Gegenwert von einundzwanzig Milchkühen. Doch wenn das Opfer ein Mann oder eine Frau von Rang und Bedeutung ist, dann haben die Verwandten des Opfers das Recht, einen Sühnepreis, den log n-enech, zu fordern. Das war auch das Gesetz, nach dem Conaire Mor seinerzeit Osraige für Muman forderte. Wenn der Täter diesen Sühnepreis nicht entrichten kann, wird erwartet, daß seine Verwandten dafür aufkommen. Wird er nicht gezahlt, dürfen die Verwandten des Opfers eine Blutfehde, digal genannt, beginnen, um den Sühnepreis zu erlangen. Doch das bedeutet nicht, daß dem König von Laigin dieses Recht zusteht. Es sind noch mehrere Fragen zu klären.«
»Gib mir einen Rat, Fidelma«, bat Colgü und beugte sich vor.
»Welches Anrecht hat Fianamail in dieser Angelegenheit? Nur Verwandtschaft berechtigt dazu, einen Sühnepreis zu benennen und zu fordern.«
»Fianamail ist ein Vetter von Dacan und spricht für seine Sippe. Darin wird er auch von Noe, dem Bruder Dacans, unterstützt.«
Fidelma erlaubte sich einen tiefen Seufzer.
»Das gestattet Fianamail allerdings, seinen Anspruch zu erheben. Aber unterstützt ihn Abt Noe tatsächlich in seinen Forderungen? Sie führen doch mit Sicherheit zu Blutvergießen. Noe ist ein herausragender Vertreter des Glaubens und wird geliebt und geachtet wegen seiner versöhnenden Lehren und seiner Handlungen der Vergebung. Wie kann er dann zu einer solchen Rache aufrufen?«
»Dacan war schließlich Noes Bruder«, erklärte Colgü.
»Trotzdem kann ich mir schwer vorstellen, daß Noe sich so verhält.«
»Nun, er tut es jedenfalls. Aber du hast angedeutet, daß es noch andere Gründe gibt, weshalb Laigin keinen Sühnepreis von Muman verlangen könne. Welche?«
»Die Strafen können nur über die Familie der Person verhängt werden, die für Dacans Tod verantwortlich ist. Wer hat Dacan getötet? Nur wenn ein Mitglied unserer Familie, der Eoganachta als Königsfamilie von Muman, dafür haftbar ist, kann Laigin einen Sühnepreis von Muman fordern.«
Colgü machte eine hilflose Geste.
»Wir wissen nicht, wer Dacan getötet hat, doch die Abtei Ros Ailithir wird von unserem Vetter Brocc geleitet. Ihm als Abt wird die Schuld am Tode Dacans angelastet.«
Fidelma kniff die Augen zusammen, um ihre Überraschung zu verbergen. Sie hatte eine vage Erinnerung an ihren älteren Vetter, für ihren Bruder und sie stellte er eine ferne und unfreundliche Gestalt dar.
»Was veranlaßt den König von Laigin, unserem Vetter die Schuld am Tode Dacans zu geben? Tut er es einfach nur, weil Brocc für die Sicherheit aller verantwortlich ist, die sich in seiner Abtei aufhalten, oder hat er ihm etwas vorzuwerfen?«
»Das weiß ich nicht«, gestand ihr Bruder. »Aber ich glaube nicht, daß Fianamail von Laigin leichtfertig eine Anschuldigung erheben würde.«
»Hat man schon Schritte unternommen, um das festzustellen?«
»Fianamails Gesandter hat lediglich erklärt, daß alle Beweismittel und Aussagen dem Großkönig und seinem Oberrichter bei der großen Ratsversammlung in Tara vorgelegt werden. Man wird die Versammlung ersuchen, Laigin zu unterstützen und Osraige Fiana-mail zu übertragen.«
Fidelma dachte nach.
»Wie kann Fianamail so sicher sein, daß er die Verantwortung von Muman für Dacans Tod beweisen kann? Sein Gesandter Forbassach ist eitel und arrogant, aber er ist ein ollamh bei Gericht. Selbst seine Freundschaft mit dem König von Laigin und sein Stolz als Mann von Laigin würden ihn nicht blind gegenüber dem Gesetz machen. Er muß wissen, daß die Beweise ausreichen, einen solchen Anspruch vor dem Gericht des Großkönigs zu erheben. Worin besteht dieses Beweismaterial?«
Colgü wußte darauf keine Antwort. Er entgegnete: »Fidelma, die Ratsversammlung in Tara tritt in drei Wochen zusammen. Wir haben also nicht viel Zeit, das herauszufinden.«
»Das Gesetz schreibt eine Spanne von einem Monat nach der Entscheidung der Ratsversammlung vor, ehe Fianamail mit einem Heer in Osraige einmarschieren und das Gebiet gewaltsam in Besitz nehmen darf, wenn es nicht friedlich übergeben wird«, erklärte Fidelma.
»Dann bleiben uns also sieben Wochen, bevor Blutvergießen und Krieg in diesem Lande ausbrechen?«
»Vorausgesetzt, daß die Entscheidung zugunsten von Laigin ausfällt«, erwiderte Fidelma. »Hier liegt vieles im dunkeln, Colgü. Falls Fianamail nicht etwas weiß, was wir nicht wissen, sehe ich nicht, weshalb der Großkönig und seine Ratsversammlung ein Urteil gegen Muman fällen sollten.«
Colgü schenkte noch zwei Gläser Wein ein und reichte eines seiner Schwester mit einem trüben Lächeln.
»Das waren genau die Worte unseres Vetters Ca-thal, bevor ihn das Fieber niederwarf. Aus diesem Grunde bat er mich, nach dir zu schicken. Am Morgen, nach dem der Bote nach Kildare losgeritten war, ergriff ihn das Fieber. Wenn die Ärzte recht behalten, bin ich König, bevor die Woche vergangen ist. Wenn es Krieg gibt, muß ich damit zurechtkommen.«
»Das wäre kein guter Anfang für deine Herrschaft, Bruder«, stimmte ihm Fidelma zu, nippte an ihrem Wein und überdachte den Fall sorgfältig. Dann hob sie den Blick und betrachtete das sorgenvolle Gesicht ihres Bruders. »Gibst du mir den Auftrag, den Tod Dacans zu untersuchen und dir die entsprechenden Beweise vorzulegen?«
»Und dem Großkönig«, fügte Colgü rasch hinzu. »Du hast die Vollmacht von Muman, diese Untersuchung durchzuführen. Ich bitte dich auch, uns als Anwältin vor der Ratsversammlung des Großkönigs zu vertreten.«
Fidelma schwieg lange.
»Sag mir eines, Bruder: Angenommen, die Resultate meiner Nachforschungen fallen zugunsten des Königs von Laigin aus? Wenn nun die Eoganachta für den Tod Dacans verantwortlich sind? Wenn der König von Laigin das Recht hat, Osraige als Sühnepreis von Cashel zu verlangen? Wenn all diese unangenehmen Vermutungen durch meine Feststellungen bestätigt werden? Wirst du dich dann dem Urteil des Gesetzes beugen und Laigins Forderung erfüllen?«
Widerstreitende Empfindungen spiegelten sich im Gesicht ihres Bruders, während er sich zu einem Entschluß durchrang.
»Wenn du mich persönlich fragst, Fidelma, würde ich mit ja antworten. Ein König muß sich nach dem geltenden Gesetz richten. Doch ein König muß auch für das Wohl seines Volkes sorgen. Haben wir nicht den alten Spruch: Was stellt das Volk über den König? Das Volk ernennt den König, nicht der König das Volk. Ein König muß dem Willen seines Volkes gehorchen. Also erwarte nicht von mir, daß ich für alle Fürsten und Stammeshäupter dieses Reiches spreche, schon gar nicht für die von Osraige. Ich fürchte, sie werden nicht bereit sein, einen solchen Sühnepreis zu zahlen.«
Fidelma sah ihn fest an.
»Das bedeutet Krieg«, sagte sie leise.
Colgü versuchte grimmig zu lächeln.
»Wir haben noch drei Wochen bis zur Ratsversammlung, Fidelma. Und wie du sagst, noch sieben Wochen bis zum Vollzug des Urteils, wenn die Entscheidung gegen uns fällt. Gehst du nach Ros Ailithir und findest heraus, wer Dacan getötet hat?«
»Darum brauchst du mich nicht erst zu bitten, Colgü. Ich bin schließlich deine Schwester.«
Colgüs Schultern sanken erleichtert herab, und er stieß einen leisen, tiefen Seufzer aus.
Fidelma streichelte ihm den Arm.
»Aber erwarte nicht zu viel von mir, Bruder. Ros Ailithir ist mindestens drei Tagereisen von hier entfernt, und es liegt unwegsames Gelände dazwischen. Ich soll also hinreisen, ein Geheimnis aufdecken und rechtzeitig zurück sein, um ein Plädoyer für die Ratsversammlung in Tara vorzubereiten? Damit verlangst du wirklich ein Wunder von mir.«
Colgü nickte.
»Ja, König Cathal und ich verlangen ein Wunder von dir, Fidelma. Wenn Männer und Frauen all ihren Mut, ihr Wissen und ihre Klugheit einsetzen, dann sind sie dazu fähig, Wunder zu vollbringen.«
»Dennoch bürdet ihr mir große Verantwortung auf«, stellte sie fest. Sie wußte, daß sie sich nicht gegen diesen Auftrag zu entscheiden vermochte. »Ich werde tun, was ich kann. Heute nacht ruhe ich mich in Cashel aus. Ich hoffe, daß morgen der Sturm nachläßt. Sobald es hell wird, breche ich nach Ros Ailithir auf.«
Colgü lächelte erfreut.
»Und du reist nicht allein, kleine Schwester. Wie du sagst, ist der Weg nach Südwesten beschwerlich, und wer weiß, welche Gefahren dich in Ros Ailithir erwarten? Ich gebe dir einen meiner Krieger mit.«
Fidelma zuckte gleichgültig die Achseln.
»Ich kann mich allein verteidigen. Du vergißt, daß ich mich in der Kunst des troid-sciathagid, der Selbstverteidigung, geübt habe.«
»Wie könnte ich das vergessen?« lachte Colgü. »Oft genug hast du mich in unserer Jugend im waffenlosen Kampf besiegt. Aber freundschaftlicher Kampf ist eine Sache, Fidelma, ernsthafter Waffengang eine andere.«
»Das brauchst du mir nicht zu erklären, Bruder. Viele unserer Missionare, die in die Reiche der Sachsen oder der Franken gehen, lernen diese Methode der Selbstverteidigung, um ihr Leben schützen zu können. Sie hat mir schon gute Dienste geleistet.«
»Trotzdem muß ich darauf bestehen, daß dich einer meiner erprobten Krieger begleitet.«
Fidelma nahm es gelassen.
»Ich folge deinem Auftrag, Bruder. Du bist hier der tdnaiste, und ich verfahre entsprechend deinen Wünschen.«
»Dann sind wir uns einig.« Colgü klang erleichtert. »Ich habe schon einen Mann dafür abgeordnet.«
»Kenne ich den Krieger, den du ausgewählt hast?«
»Du bist ihm bereits begegnet«, erwiderte ihr Bruder. »Es ist der junge Krieger, der vorhin Forbassach hinausgeworfen hat. Er heißt Cass und gehört zur Leibwache des Königs.«
»Ach, der mit dem Lockenkopf?« fragte Fidelma.
»Ja, der. Er ist mein Freund, und ich würde ihm nicht nur mein Leben anvertrauen, sondern auch deines.«
Fidelma lächelte schalkhaft.
»Genau das tust du, Bruder. Wieviel weiß Cass von meinem Auftrag?«
»So viel, wie ich dir davon sagen konnte.«
»Du vertraust ihm also«, stellte Fidelma fest.
»Willst du mit ihm sprechen?« fragte ihr Bruder.
Sie schüttelte den Kopf und unterdrückte ein plötzliches Gähnen.
»Wir haben Zeit genug zur Unterhaltung an den drei Tagen, die wir bis Ros Ailithir brauchen. Jetzt würde ich ein heißes Bad und Schlaf vorziehen.«