177533.fb2 Tod im Skriptorium - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 5

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Kapitel 3

Es war keine angenehme Reise durch die weiten Täler und über die hohen Bergketten von Muman. Wenn auch der Sturm am zweiten Tag nachgelassen hatte, so hatte sich doch der Boden unter dem unaufhörlichen Regen in einen Morast verwandelt, klammerte sich an den Hufen und Fesseln ihrer Pferde wie mit angstvollen Händen fest und hemmte ihren Schritt. Die Talsohlen und Grasebenen waren sumpfig und teilweise überflutet, so daß sie sie kaum durchqueren konnten, jedenfalls nicht zügig. Der Himmel sah grau verhangen und drohend aus und ließ keinen Strahl der hellen Herbstsonne durch, die düsteren Wolken hingen immer noch so niedrig wie Bergnebel. Auch der ab und zu durch die fast blattlosen Baumwipfel heulende Wind vermochte dieses Leichentuch nicht zu zerreißen.

Fidelma fror und fühlte sich elend. Das war kein Reisewetter. Wäre die Angelegenheit nicht so dringend gewesen, hätte sie nie daran gedacht, solch einen Ritt zu unternehmen. Sie saß steif auf ihrem Pferd und spürte die Kälte bis ins Mark trotz des schweren Wollmantels und der Kapuze, die normalerweise den eisigen Griff der unwirtlichen Temperaturen abhielten. Selbst in ihren Lederhandschuhen wurden ihre Hände, die die Zügel führten, gefühllos.

Schon mindestens eine Stunde hatte sie nicht mehr mit ihrem Begleiter gesprochen, seit sie in dem Gasthaus an der Straße ihr Mittagsmahl eingenommen hatten. Sie hielt den Kopf gegen den kalten Wind gesenkt und konzentrierte sich darauf, ihr Pferd auf dem schmalen Pfad zu lenken, der den steilen Berg vor ihnen hinaufführte.

Vor ihr ritt Cass, der junge Krieger, ebenso in einen schweren Wollmantel mit Pelzkragen gehüllt; er saß mit betont guter Haltung im Sattel. Fidelma lächelte grimmig in sich hinein und fragte sich, wieviel ihm daran lag, vor ihrem kritischen Blick eine gute Figur abzugeben. Es schickte sich nicht für ein Mitglied der Leibgarde der Könige von Muman, vor der Schwester des Thronfolgers irgendeine Schwäche zu zeigen. Als sie ihn ab und zu in einem unbeobachteten Augenblick in der feuchten Kälte erschauern sah, empfand sie Mitleid mit ihm.

Der Pfad führte um die Kante des Berges herum. Ein kalter Windstoß aus dem Südwesten fuhr ihnen ins Gesicht, als sie hinter der schützenden Felswand hervorkamen. Fidelma spürte einen feinen Salzgeruch in der Luft, der unverkennbar die Nähe des Ozeans verriet.

Cass zügelte sein Pferd und ließ Fidelma aufschließen. Dann wies er über die baumbestandenen Hügel und die wellige Ebene, die in Richtung auf den südlichen Horizont zu verschwimmen schienen. Die Wolken hingen so tief darüber, daß man nicht erkennen konnte, wo die Erde aufhörte und der Himmel begann.

»Wir sollten die Abtei Ros Ailithir noch vor Anbruch der Nacht erreichen«, verkündete Cass. »Vor uns liegt das Land der Corco Loigde.«

Fidelma kniff die Augen zusammen gegen den scharfen Wind und spähte hinunter. Es war ihr nicht sofort eingefallen, daß die Abtei Ros Ailithir im Land des Clans der Corco Loigde lag, als ihr Bruder ihr sagte, daß die Könige von Osraige aus diesem Clan stammten. War das nur Zufall? Sie wußte wenig von den Corco Loigde, außer daß sie einer der großen Clans waren, die zum Königreich Muman gehörten, und daß sie ein stolzes Volk waren.

»Wie heißt dieser Berg?« fragte sie und unterdrückte ein Erschauern.

»Sie nennen ihn den >Langen Felsen<«, antwortete Cass. »Es ist der höchste Punkt, bevor wir das Meer erreichen. Hast du die Abtei schon einmal besucht?«

Fidelma schüttelte den Kopf.

»Ich war noch nie in diesem Teil des Reiches, aber ich habe gehört, daß die Abtei am Ende eines engen Meeresarms liegt.«

Der Krieger nickte.

»Ros Ailithir liegt von hier genau im Süden.« Er zeigte die Richtung mit der Hand. Dann zuckte er zusammen, als ihn ein plötzlicher kalter Windstoß voll ins Gesicht traf. »Aber reiten wir hinunter und aus dem Wind heraus, Schwester.«

Er gab seinem Pferd die Sporen, und Fidelma ließ ihn eine Länge vor, ehe sie ihm folgte.

Nicht nur das unangenehme Wetter machte diese Reise so strapaziös, Fidelma stellte fest, daß Cass kein unterhaltsamer Gefährte war. Er verfügte nur über einen geringen Vorrat an leichtem Gesprächsstoff, und Fidelma tadelte sich selbst immer wieder dafür, daß sie ihn ständig mit Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham verglich, der in Whitby und Rom ihr Begleiter gewesen war. Zu ihrem Ärger fühlte sie sich merkwürdig verlassen; etwas Ähnliches hatte sie gespürt, als sie sich von Eadulf in Rom verabschiedet hatte, um in ihr Heimatland zurückzukehren. Sie wollte nicht zugeben, daß sie die Gesellschaft des sächsischen Mönchs vermißte. Es war unfair, Cass immer wieder mit Eadulf zu vergleichen, und doch ...

Sie hatte wenigstens soviel von dem schweigsamen Krieger erfahren, daß er im Dienste Cathals von Cas-hel gestanden hatte, seit er das »Alter der Wahl« erreicht und sein Vaterhaus verlassen hatte, um den Dienst am Königshof anzutreten. Seine Allgemeinbildung war nur gering. Er hatte an einer der Militärschulen in Muman studiert, bis er Berufskrieger oder tren-fher geworden war. Er hatte sich in zwei Feldzügen ausgezeichnet und war zum Kommandeur eines catha, einer Einheit von dreitausend Mann, in Kriegszeiten ernannt worden. Doch Cass prahlte nicht mit seinen Waffentaten. Das konnte man ihm wenigstens zugute halten. Fidelma hatte Erkundigungen über ihn eingezogen, ehe sie in Cashel aufbrachen. Sie erfuhr, daß er im Dienste von Muman sieben Einzelkämpfe erfolgreich bestanden hatte und so ein Mitglied des Ordens vom Goldenen Halsreifen und Vorkämpfer des Königs geworden war.

Sie lenkte ihr Pferd vorsichtig hinter ihm her den steilen Pfad hinunter, auf seinen vielen Windungen bald dem Wind ausgesetzt und bald im Windschatten. Als sie den Fuß des Berges erreichten, hatte der böige Sturm etwas nachgelassen, und Fidelma erblickte am westlichen Horizont einen hellen Streifen.

Cass lächelte, als er ihrem Blick folgte.

»Morgen werden die Wolken fort sein«, kündigte er zuversichtlich an. »Der Wind trug das Gewitter vom Südwesten heran. Nun wird er uns schönes Wetter bringen.«

Fidelma antwortete nicht. Irgend etwas in den Hügeln im Südosten hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Zuerst glaubte sie, es sei lediglich eine Reflektion des durch die schweren Wolken brechenden Sonnenlichts. Aber worin sollte es sich spiegeln? Einige Augenblik-ke später begriff sie, was sie da sah.

»Da drüben brennt es, Cass!« rief sie und zeigte in die Richtung. »Es ist ein großes Feuer, glaube ich.«

Cass folgte ihrer ausgestreckten Hand mit scharfen Augen.

»Tatsächlich ein großes Feuer, Schwester. In der Richtung liegt ein Dorf. Ein armer Weiler mit einer Mönchszelle und einem Dutzend Häusern. Ich kam vor sechs Monaten dort durch, als ich in dieser Gegend war. Es heißt Rae na Scrine, das Heiligengrab an der ebenen Stelle. Was kann da brennen? Sollten wir nachsehen?«

Fidelma zögerte. Ihre Aufgabe war es, so schnell wie möglich nach Ros Ailithir zu gelangen.

Cass runzelte die Stirn bei ihrem Zaudern.

»Es liegt auf unserem Wege nach Ros Ailithir, Schwester, und in der Zelle wohnt eine junge Nonne, Schwester Eisten. Vielleicht ist sie in Not.« Sein Ton klang vorwurfsvoll.

Fidelma errötete, sie kannte ihre Pflicht. Nur ihre größere Verantwortung gegenüber dem Königreich Muman hatte sie unsicher gemacht.

Statt einer Antwort stieß sie ihrem Pferd die Hak-ken in die Flanken und trieb es an, gekränkt von Cass’ leichtem Tadel ob ihrer Unentschlossenheit.

Sie brauchten einige Zeit, bis sie eine Stelle auf einem kleinen, dicht bewaldeten Hügel erreichten, von wo sie das Dörfchen Rae na Scrine überblicken konnten. Alle Gebäude schienen in Flammen zu stehen, eine schwarze Säule aus Rauch und Brandstücken erhob sich über ihnen. Fidelma parierte ihr Pferd, und Cass rammte sie beinahe. Ein Dutzend Männer mit Schwertern und Brandfackeln in den Händen liefen im Dorf umher. Sie waren offensichtlich die Brandstifter. Ehe Fidelma noch reagieren konnte, bewies ihnen ein wilder Ruf, daß man sie erspäht hatte.

Fidelma wollte Cass warnen und zum Rückzug veranlassen, falls die Männer Feinde wären, doch da bemerkte sie eine Bewegung hinter ihnen bei den Bäumen, die den Weg säumten.

Zwei Männer waren mit gespannten Bogen auf den Weg getreten und zielten auf sie. Sie schwiegen. Es gab nichts zu sagen. Cass wechselte einen Blick mit Fidelma und zuckte nur die Achseln. Sie verhielten sich ruhig und warteten ab; zwei oder drei Männer, die offensichtlich mit das Dorf in Brand gesteckt hatten, stürmten nun den Hügel herauf und blieben vor ihnen stehenblieben.

»Wer seid ihr?« fragte ihr Anführer, ein großer, rotgesichtiger Kerl mit schmutz- und rußbedecktem Gesicht. Er hielt ein Schwert in der Hand, aber nun keine Brandfackel mehr in der anderen. Er trug eine stählerne Sturmhaube auf dem Kopf, einen pelzbesetzten Wollmantel und eine goldene Amtskette. Seine hellen Augen glänzten vom Kampffieber.

»Wer seid ihr?« schrie er wieder. »Was habt ihr hier zu suchen?«

Fidelma starrte ungerührt hinab auf die drohende Gestalt. Ihre gespielte Verachtung verbarg ihre Furcht.

»Ich bin Fidelma von Kildare; Fidelma von den Eo-ganachta von Cashel«, fügte sie hinzu. »Und wer bist du, daß du Reisende auf der Landstraße anhältst?«

Die Augen des großen Mannes weiteten sich leicht. Er trat einen Schritt vor und betrachtete sie genau, ohne zu antworten. Dann musterte er Cass mit der gleichen Aufmerksamkeit.

»Und du? Wer bist du?« Er stellte die Frage so barsch, um zu zeigen, daß ihn die Verwandtschaft Fi-delmas mit den Königen von Cashel überhaupt nicht beeindruckte.

Der junge Krieger lockerte den Mantel, damit der goldene Halsreif zu sehen war.

»Ich bin Cass, Vorkämpfer des Königs von Cas-hel«, sagte er mit all der kühlen Arroganz, die er in seine Stimme legen konnte.

Der rotgesichtige Mann trat zurück und bedeutete seinen Leuten, die Waffen zu senken.

»Dann macht euch auf euren Weg. Reitet fort von hier, seht euch nicht um, dann passiert euch auch nichts.«

»Was geht hier vor?« fragte Fidelma und wies auf die brennenden Häuser.

»Der Fluch der Gelben Pest ist auf den Ort gefallen«, erklärte der Mann scharf. »Wir brennen ihn aus, das ist alles. Nun reitet los!«

»Aber was ist mit den Menschen?« protestierte Fidelma. »Auf wessen Befehl tut ihr das? Ich bin eine dalaigh am Brehon-Gericht und Schwester des Thronfolgers von Cashel. Sprich, Mann, oder du mußt dich vor den Brehons von Cashel verantworten.«

Der Rotgesichtige kniff die Augen zusammen bei dem scharfen Ton der jungen Frau. Er schluckte einen Augenblick und starrte sie an, als könne er seinen Ohren nicht trauen. Dann sagte er zornig: »Die Könige in Cashel haben im Lande der Corco Loigde nichts zu befehlen. Das Recht dazu hat nur unser Fürst Salbach.«

»Und Salbach ist dem König in Cashel verantwortlich, Mann«, machte ihm Cass klar.

»Wir sind weit weg von Cashel«, erwiderte der Mann trotzig. »Ich habe euch gewarnt, daß hier die Gelbe Pest herrscht. Nun macht euch fort, ehe ich es mir anders überlege und meine Männer schießen lasse.«

Er zeigte auf seine Bogenschützen. Sie hoben wieder ihre Waffen und zogen die Bogensehnen straff. Die Federn der Pfeile lagen fest an ihren Wangen.

Cass’ Gesicht war angespannt.

»Tun wir, was er sagt, Fidelma«, flüsterte er. Selbst wenn bloß ein Finger abrutschte, würde der Pfeil sein Ziel sicher treffen. »Dieser Mann argumentiert nur mit Gewalt.«

Widerwillig kehrte Fidelma um und folgte Cass zurück zur Landstraße. Doch sobald sie um eine Biegung zwischen den Hügeln herum waren, faßte sie ihn am Arm und hielt ihn an.

»Wir müssen zurück und sehen, was da geschieht«, sagte sie fest. »Mit Feuer und Schwert gegen ein Dorf, in dem die Pest herrscht? Was für ein Fürst würde ein solches Vorgehen billigen? Wir müssen nachsehen, was aus den Menschen geworden ist.«

Cass sah sie zweifelnd an.

»Das ist gefährlich, Schwester. Wenn ich ein paar Männer bei mir hätte oder wenn ich allein wäre .«

Fidelma schnaubte verächtlich.

»Laß dir von meinem Geschlecht oder meinem geistlichen Stand keine Angst einjagen, Cass. Ich bin bereit, die Gefahr zu teilen. Oder fürchtest du dich vor der Pest?«

Cass blinzelte angestrengt. Er war in seinem Kriegerstolz getroffen.

»Ich bin bereit, zurückzureiten«, antwortete er kühl. »Ich machte mir nur Sorgen um dich und deinen Auftrag. Doch wenn du es verlangst, kehren wir zurück. Aber es wäre besser, nicht den direkten Weg zu nehmen. Die Krieger könnten gerade darauf warten. Die fürchte ich mehr als die Pest. Wir reiten noch weiter um die Hügel herum, lassen dann unsere Pferde stehen und suchen uns einen Punkt, von dem aus wir einen Blick auf das Dorf haben, ehe wir uns ihm nähern.«

Fidelma stimmte zögernd zu. Der Umweg hatte seinen Sinn.

Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie ein Versteck hinter einem Gebüsch am Rande des immer noch brennenden Dorfes fanden. Die Holzhäuser standen in prasselnden Flammen, und einige stürzten ein und schleuderten Funkenregen und Rauchwolken empor. In kurzer Zeit, erkannte Fidelma, wäre das Dorf nur noch eine verkohlte, glimmende Masse. Der Rotge-sichtige und seine Gefolgsleute schienen verschwunden. Es gab kein Lebenszeichen mehr inmitten der knisternden und gelegentlich brausenden Flammen.

Fidelma erhob sich langsam und zog einen Zipfel ihrer Kopfbedeckung vor den Mund, um ihre Lunge vor dem wallenden Rauch zu schützen.

»Wo sind die Menschen?« fragte sie. Freilich erwartete sie keine Antwort von Cass, der verständnislos die brennenden Überreste von einem Dutzend Heimstätten betrachtete. Sie erhielt die Antwort, sobald sie die Frage ausgesprochen hatte. Zwischen den brennenden Häusern lagen die Leichen von Männern, Frauen und Kindern. Die meisten waren niedergestreckt worden, bevor man ihr Heim in Brand setzte. Der Pest waren sie offensichtlich nicht zum Opfer gefallen.

»Schwester Eistens Hütte stand dort drüben«, sagte Cass düster und zeigte in eine Richtung. »Sie führte eine kleine Herberge für Reisende und ein Waisenhaus. Ich habe dort gewohnt, als ich vor sechs Monaten hier durchkam.«

Er führte sie durch den Rauch und die schwelenden Trümmer an den Rand des Dorfes. Neben einem Felsen, dem eine Quelle entsprang, stand ein Gebäude. Die Herberge war nicht völlig zerstört worden, weil sie größtenteils aus übereinandergeschichteten Steinen erbaut war. Nur das Holzdach, die Türen und der Inhalt des Gebäudes waren verbrannt. Sie standen vor einem Haufen heißer, glimmender Asche.

»Die Menschen erschlagen, und kein Anzeichen von Pest. Das ist ein Rätsel«, knurrte Cass.

»Eine Fehde?« überlegte Fidelma. »Vielleicht die Vergeltung für etwas, was die Dorfbewohner getan haben?«

Cass zuckte die Achseln.

»Wenn wir nach Ros Ailithir kommen, müssen wir dem Fürsten des Gebiets melden, was hier geschehen ist, und im Namen von Cashel eine Erklärung verlangen«, sagte er.

Fidelma stimmte ihm zu und blickte zögernd zum östlichen Himmel auf. Bald würde es dunkel werden. Sie mußten sich auf den Weg zur Abtei machen, sonst würde es Nacht, lange bevor sie sie erreichten.

Plötzlich hörten sie das schrille Weinen eines Babys. Fidelma sah sich rasch um und versuchte festzustellen, woher es kam. Cass war ihr schon voraus und kletterte den Hang zum Waldrand hinter der ausgebrannten Herberge hinauf.

Fidelma blieb nichts weiter übrig, als ihm nachzueilen.

Im Gebüsch bewegte sich etwas, und Cass langte hinein und packte etwas, das sich in seinem Griff wandte und schrie.

»Gott bewahre uns!« flüsterte Fidelma.

Es war ein Kind von kaum acht Jahren, schmutzig und zerlumpt, das vor Furcht kreischte.

Weiter oben kam eine junge Frau unter den Bäumen hervor. Ihr Gesicht war von Ruß und Schmutz verschmiert.

Angst spiegelte sich darin. In den Armen hielt sie einen weinenden Säugling, und an ihren Rock klammerten sich zwei kleine rothaarige Mädchen, offenkundig Schwestern. Hinter ihr standen zwei dunkelhaarige Knaben. Sie alle waren sichtlich verstört.

Fidelma sah, daß die Frau kaum über zwanzig war, sie trug das Gewand einer Nonne. Obwohl das Baby es fast verdeckte, bemerkte Fidelma ein großes und ungewöhnlich geformtes Kruzifix. Es war eher im römischen Stil gearbeitet als im irischen, reich verziert und mit Halbedelsteinen besetzt. Trotz ihrer Jugend war die junge Frau von molliger Gestalt. Sie hatte ein rundes Gesicht und hätte normalerweise beschützende Mütterlichkeit ausgestrahlt, jetzt aber zitterte sie am ganzen Leibe.

»Schwester Eisten!« rief Cass überrascht aus. »Hab keine Angst. Ich bin es, Cass von Cashel. Ich habe in deiner Herberge gewohnt, als ich vor sechs Monaten durch dieses Dorf kam. Erinnerst du dich nicht an mich?«

Die junge Nonne musterte ihn eingehend und schüttelte den Kopf. Doch etwas Erleichterung schien sich in ihrem Gesicht abzuzeichnen, als sie ihre dunklen Augen fragend auf Fidelma richtete.

»Ihr seid nicht von Intat? Ihr gehört nicht zu seiner Schar?« fragte sie ängstlich.

»Wer Intat auch ist, wir gehören nicht zu seiner Schar«, antwortete Fidelma. »Ich bin Schwester Fidelma von Kildare. Mein Gefährte und ich sind auf der Reise zur Abtei Ros Ailithir.«

Die Muskeln im Gesicht der jungen Schwester begannen sich zu entspannen. Sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten.

»Sind ... sind sie ... weg?« stieß sie endlich hervor. Ihre Stimme zitterte vor Furcht.

»Anscheinend sind sie fort«, beruhigte Fidelma sie. Sie trat vor und wollte ihr das Baby abnehmen. »Komm, du siehst völlig erschöpft aus. Gib mir das Kind, damit du dich ausruhen und uns erzählen kannst, was passiert ist. Was waren das für Leute?«

Schwester Eisten fuhr zurück, als wolle sie jede Berührung vermeiden. Sie hielt das Baby nur noch fester.

»Nein! Faßt keinen von uns an.«

Fidelma hielt verblüfft inne.

»Was heißt das? Wir können euch nicht helfen, ehe wir nicht wissen, was hier geschieht.«

Schwester Eisten starrte sie aus großen Augen an.

»Die Pest, Schwester«, flüsterte sie. »Wir hatten die Pest in unserem Dorf.«

Der Griff, mit dem Cass unbewußt den noch immer zappelnden Jungen festhielt, verlor plötzlich an Kraft. Cass erstarrte. Der Junge riß sich los.

»Pest?« flüsterte Cass und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Er war sichtlich beunruhigt von der Bestätigung, daß hier die Pest umging.

»Also gab es doch Pest im Dorf?« fragte Fidelma.

»Mehrere Leute starben in den letzten Wochen daran. Mich hat sie Gott sei Dank verschont, aber andere sind ihr erlegen.«

»Sind unter euch welche krank?« fragte Cass eindringlich und musterte besorgt die Kinder.

Schwester Eisten schüttelte den Kopf.

»Intat und seinen Männern war das auch egal. Wir wären alle gestorben, wenn wir uns nicht versteckt hätten .«

Fidelma starrte sie mit wachsendem Entsetzen an.

»Ihr wärt niedergemacht worden, ob ihr nun die Pest hattet oder nicht? Erklär mir das! Wer ist dieser Intat?«

Schwester Eisten unterdrückte ein Schluchzen. Sie war nahe am Zusammenbrechen. »Vor drei Wochen gab es die ersten Pestkranken im Dorf. Die Pest nahm weder auf Geschlecht noch Alter Rücksicht.«

Fidelma ließ den Blick von dem Baby, das nur ein paar Monate alt sein konnte, zu den wohl neunjährigen rothaarigen Mädchen wandern. Der blonde kleine Junge, der Cass entwichen war und sich hinter Schwester Eisten verschanzt hatte, war auch etwa in dem Alter. Die beiden größeren Jungen mit ihren finsteren Gesichtern, ihrem schwarzen Haar und mißtrauischen grauen Augen waren älter. Der eine mochte kaum über zehn Jahre sein, der andere vielleicht vierzehn oder fünfzehn. Sie schienen Brüder zu sein. Fidelma wandte den Blick wieder der molligen, zitternden jungen Nonne zu.

»Du sagtest, dieser Intat kam und tötete die Menschen und brannte euer Dorf nieder, während hier noch viele Leute gesund waren?«

Schwester Eisten schluchzte laut und bemühte sich sichtlich, ihre Gedanken zusammenzunehmen.

»Diese Kinder und ich sind allein von den dreißig Seelen im Dorf übriggeblieben. Wir hatten keine Krieger, die uns beschützten. Hier gab es nur Bauernhöfe. Erst dachte ich, die Angreifer fürchteten, daß die Pest auf die Nachbardörfer übergreifen könnte, und wollten uns in die Berge treiben, damit wir sie nicht ansteckten. Aber dann begannen sie zu töten. Es machte ihnen anscheinend besondere Freude, die kleinen Kinder umzubringen.«

Sie stöhnte leise auf bei der Erinnerung.

»Sind denn alle Männer in dem Dorf der Pest zum Opfer gefallen?« forschte Cass. »Gab es keinen, der euch verteidigte gegen diesen Angriff?«

»Es waren nur wenige Männer, die sich zur Wehr setzten. Was sollten ein paar Bauern gegen ein Dutzend bewaffnete Krieger ausrichten? Sie starben unter den Hieben Intats und seiner Männer .«

»Intat?« fragte Fidelma. »Wer ist dieser Intat, von dem du ständig sprichst?«

»Er ist der Gaugraf dieser Gegend.«

»Der Gaugraf dieser Gegend?« Sie war empört. »Er wagte es, das Dorf mit Feuer und Schwert zu vernichten?«

»Ich konnte ein paar Kinder nehmen und sie und mich im Wald in Sicherheit bringen«, wiederholte Schwester Eisten und schluchzte. »Wir versteckten uns, während Intat sein schlimmes Werk verrichtete. Er steckte das Dorf in Brand und .«

Sie konnte nicht weitersprechen.

»Was für ein großes Verbrechen ist hier begangen worden, Cass?« sagte Fidelma leise und starrte auf die immer noch brennenden Häuser hinunter.

»Hätte nicht jemand zum boaire, zum Bezirksrichter, gehen und Schutz fordern können?« forschte Cass, sichtlich erschüttert von Schwester Eistens Bericht.

Die mollige Nonne verzog bitter das Gesicht.

»Intat ist ja der Richter dieses Bezirks!« rief sie zornig. »Er sitzt im Rat bei Salbach, dem Fürsten der Corco Loigde. Nun habt ihr das Schlimmste gehört, jetzt wißt ihr auch, daß hier die Pest herrschte, also macht euch auf den Weg und laßt uns in den Bergen umkommen.«

Fidelma schüttelte mitleidig den Kopf.

»Unser Weg ist jetzt auch euer Weg«, sagte sie bestimmt. »Ihr kommt mit uns nach Ros Ailithir, denn ich nehme an, diese Kinder haben keine Familie, die für sie sorgt?«

»Nein, Schwester.« Die junge Nonne starrte Fidelma verwundert an. »Ich führte hier ein kleines Haus für die Waisen, die die Pest hinterlassen hat, und dies sind meine Schützlinge.«

»Dann also auf nach Ros Ailithir.«

Cass sah sie besorgt an.

»Es ist ein langer Weg nach Ros Ailithir«, flüsterte er und fügte noch leiser hinzu: »Der Abt wird es dir vielleicht nicht danken, wenn du die Abtei mit der Pest in Berührung bringst.«

Fidelma schüttelte den Kopf.

»Wir alle sind von ihr bedroht. Wir können uns nicht vor ihr verstecken oder sie ausbrennen. Wir müssen Gottes Willen annehmen, ob sie uns nun verschont oder nicht. Es ist schon spät. Sollten wir nicht lieber hier bleiben? Hier haben wir es wenigstens warm.«

Das löste sofort den Protest Schwester Eistens aus.

»Und wenn nun Intat und seine Männer zurückkommen?« jammerte sie.

Cass nickte. »Sie hat recht, Fidelma. Die Möglichkeit besteht. Es ist besser, nicht hier zu bleiben, falls Intat sich in der Nähe aufhält. Wenn er erfährt, daß es

Überlebende gibt, wird er seine Untat vollenden wollen.«

Widerstrebend stimmte Fidelma ihm zu.

»Je schneller wir aufbrechen, desto schneller sind wir da. Wir reiten so weit in Richtung Ros Ailithir, wie wir kommen.«

»Aber Intat hat unsere Tiere weggetrieben«, protestierte Schwester Eisten erneut. »Wir hatten zwar keine Pferde, aber ein paar Esel .«

»Wir haben zwei Pferde, die Kinder können zu zweit oder zu dritt auf ihnen reiten«, versicherte ihr Fidelma. »Wir Erwachsenen müssen zu Fuß gehen und uns beim Tragen des Babys abwechseln. Das arme Ding. Was ist mit der Mutter passiert?«

»Sie war eine von denen, die Intat erschlug.«

Fidelmas Augen wurden stahlhart.

»Er wird sich vor Gericht für diese Untat zu verantworten haben. Als ein boaire muß er die Folgen seiner Handlungsweise kennen. Und vor Gericht wird er kommen!« versicherte Fidelma.

Cass sah mit unverhohlenem Respekt, wie Fidelma ruhig, aber bestimmt die Führung übernahm, die Kinder auf die Pferde setzte und selbst das Baby trug, um Schwester Eisten die Gelegenheit zu geben, sich ein wenig zu erholen. Der jüngere der beiden dunkelhaarigen Brüder schien nicht gewillt, den Schutz des Waldes zu verlassen, zweifellos noch verstört durch das, was er erlebt hatte. Es war sein älterer Bruder, der ihn schließlich mit ruhigen Worten zum Mitgehen überredete. Der ältere Junge lehnte es ab, sich auf ein Pferd zu setzen, sondern lief nebenher mit der Begründung, er nähere sich dem »Alter der Wahl« und sei schon fast erwachsen. Fidelma ließ ihn gewähren. Sie zogen ihren Weg, und Cass hoffte inständig, daß ihnen nicht Intat und seine Bande unterwegs begegneten.

Cass konnte jedoch auch die Ängste verstehen, die Dorfbewohner dazu brachten, über ihre Nachbarn herzufallen, wenn diese die Pest hatten. Er hatte manche Geschichten gehört, wie die Gelbe Pest ganze Siedlungen entvölkerte, nicht nur in den fünf Königreichen von Eireann, sondern auch jenseits des Meeres, von wo sie gekommen sein sollte. Zum anderen war Cass klar, daß selbst die Furcht vor der Ausbreitung der Pest Intat und seine Leute nicht von ihrer Verantwortung vor dem Gesetz befreite. Intat als bo-aire mußte wissen, welche Folgen er zu tragen hätte, wenn die Nachricht von dem schrecklichen Massaker nach Cashel gelangte. Er hatte Fidelma und Cass ihre Reise nur unbehelligt fortsetzen lassen, weil er glaubte, sie würden nicht herausfinden, was geschehen war. Falls Intat bemerkte, daß sie einen Haken geschlagen hatten und auf Überlebende seiner gräßlichen Bluttat gestoßen waren, wäre ihr Leben in Gefahr. Am besten entfernten sie sich möglichst schnell und möglichst weit von diesem Ort.

Er bewunderte Colgüs Schwester dafür, daß sie anscheinend keine Angst vor der Pest hatte. Er hätte sich nicht freiwillig zu diesen Kindern gesellt, hätte er nicht gefürchtet, sich vor Fidelma bloßzustellen. So unterdrückte er seine Bedenken und tat, was sie ihm sagte.

Fidelma plauderte fröhlich, um die verschreckten Kinder aufzuheitern. Sie griff möglichst entlegene Themen auf und fragte Schwester Eisten, woher sie denn das so eigenartig aussehende Kruzifix habe, das sie trug. Schwester Eisten erzählte, daß sie eine Pilgerfahrt unternommen habe, die drei Jahre dauerte. Eisten war älter, als sie aussah, bereits zweiundzwanzig. Sie war mit einer Gruppe Nonnen ins Heilige Land gereist, hatte Bethlehem besucht und war zur Geburtsstätte des Heilands gepilgert. Dort hatte sie das kunstvolle Kruzifix gekauft. Fidelma ermunterte sie, von ihren Abenteuern zu erzählen, damit die Kinder abgelenkt und beschäftigt waren.

Im Innern war Fidelma alles andere als glücklich. Sie war niedergedrückt, nicht weil sie mit möglicherweise Pestinfizierten in Kontakt gekommen war, sondern von den Bedingungen der Reise, die noch schlimmer waren als am Morgen, als sie nur über das Wetter, die Kälte und die Nässe gestöhnt hatte. Wenigstens hatte sie da mit trockenen Füßen auf dem Pferd gesessen. Jetzt stolperte sie durch Schlamm und Morast und hatte Mühe, mit dem Baby im Arm das Gleichgewicht zu halten. Der Säugling wimmerte beständig und wand sich hin und her, was es noch schwieriger machte. Fidelma wollte die anderen nicht beunruhigen, aber selbst im Dämmerlicht erkannte sie die verräterische gelbliche Verfärbung der Haut des Kindes und das Fieber in seinem Gesicht.

»Wie weit ist es noch bis Ros Ailithir?« Diese Frage gestattete sie sich, nachdem sie zwei Stunden gelaufen waren.

»Sieben Meilen von hier, aber der Weg wird nicht besser«, antwortete Schwester Eisten.

Fidelma biß die Zähne zusammen. Das Abenddunkel rückte rasch von Osten heran und vereinigte sich mit den düsteren, niedrigen Wolken, und unversehens hüllte dichter Nachtnebel den Weg ein.

Widerwillig legte Fidelma einen Halt ein.

»Wir schaffen es heute nicht mehr bis zur Abtei«, erklärte sie Cass. »Wir müssen einen Ort finden, an dem wir bis zum Morgen bleiben können.«

Wie um die Gefahren einer Nachtwanderung zu betonen, begann ein Wolfsrudel hinter den Bergen zu heulen. Eins der kleinen Mädchen fing zu weinen an, und sein klägliches, schmerzliches Wimmern schnitt Fidelma ins Herz. Die rothaarigen Schwestern hießen Cera und Ciar, wie sie inzwischen wußte. Der blonde Knabe wurde Tressach genannt, und die beiden anderen Jungen waren, wie sie vermutet hatte, Brüder: Cetach und Cosrach. Soviel hatte sie ihnen auf ihrer kurzen Reise durch den kalten Wald entlockt.

»Als erstes brauchen wir eine Fackel«, meinte Cass. »Dann suchen wir uns einen Unterschlupf.«

Er gab die Zügel seines Pferdes Cetach, dem älteren Jungen, und ging in den Wald. Fidelma hörte das Knacken von Zweigen und leise Flüche, während Cass trockenes Holz für eine Fackel suchte.

»Weißt du, ob es hier trockene Stellen gibt, an denen wir Schutz finden können?« fragte Fidelma Schwester Eisten.

Die junge Nonne schüttelte den Kopf.

»Hier gibt es nur Wald.«

Cass war es gelungen, ein Bündel Zweige anzuzünden, aber sie brannten nicht lange.

»Am besten, wir machen uns ein Feuer«, murmelte er, als er wieder zu Fidelma trat. »Die Bäume bieten ein wenig Schutz. Aber für die Kinder wird es eine kalte Nacht.«

Fidelma seufzte und nickte. Es blieb ihnen nichts anderes übrig. Man sah schon kaum noch ein paar Schritte weit. Vielleicht hätte sie darauf bestehen sollen, über Nacht im Dorf zu bleiben. Dort hätten sie es inmitten der glimmenden Ruinen wenigstens warm gehabt. Doch es hatte keinen Sinn, sich jetzt Vorwürfe zu machen.

»Gehen wir also in den Wald und versuchen, einen trockenen Platz zu finden. Dann schlafen wir, so gut wir nur können.«

»Die Kinder haben seit dem Morgen nichts gegessen«, erinnerte sie Schwester Eisten.

Fidelma stöhnte innerlich.

»Wir können nichts machen, ehe es nicht wieder hell wird, Schwester. Konzentrieren wir uns darauf, so warm und trocken zu bleiben, wie es geht. Essen kommt erst später an die Reihe.«

Es waren Cass’ scharfe Augen, die eine kleine Lichtung zwischen hohen Bäumen entdeckten, auf der ein großer Busch so etwas wie ein Zelt über einer ziemlich trockenen Stelle mit Zweigen und Blättern bildete.

»Wie geschaffen für uns«, frohlockte er. Fidelma konnte beinahe sehen, wie er in der Dunkelheit lächelte.

»Ich binde die Pferde an und mache ein Feuer. Ich habe meinen croccan, meinen Kessel, bei mir und koche uns einen heißen Tee. Du und Schwester Eisten, ihr bringt die Kinder unter den Busch.«

Binnen einer halben Stunde hatte Cass ein ordentliches Feuer im Gange und seinen croccan, mit Wasser gefüllt, darüber gehängt. Fidelma bestand darauf, Kräuter hineinzutun, die, wie sie sagte, sie vor der kalten Nachtluft schützen würden. Sie fragte sich, ob Cass oder Eisten wußten, daß man einem Aufguß von Blättern und Blüten des Krauts dremire bui nachsagte, er würde vor der Gelben Pest schützen. Alle schwiegen, als der Tee herumgereicht wurde, nur die Kinder beklagten sich, daß er so bitter schmeckte. Doch bald schliefen sie vor Erschöpfung ein.

Das Geheul der Wölfe erhob sich immer wieder über die seltsamen nächtlichen Geräusche des Waldes.

Cass hockte vor dem Feuer und warf Holzstücke in die hungrigen Flammen, die vor Nässe zischten und spuckten, aber wenigstens brannten und ein wenig Wärme abgaben.

»Wir ziehen weiter, sobald es hell wird«, erklärte Fidelma. »Wenn wir einigermaßen gut vorankommen, sollten wir die Abtei am Vormittag erreichen.«

»Einer von uns muß Wache halten«, bemerkte Cass. »Wenn schon nicht wegen Intat und seinen Leuten, dann, um sich um das Feuer zu kümmern. Ich übernehme die erste Wache.«

»Dann übernehme ich die zweite«, antwortete Fidelma und zog ihren Mantel enger um sich in dem vergeblichen Versuch, dem Kleidungsstück mehr Wärme zu entlocken.

Es wurde eine lange, kalte Nacht, doch abgesehen vom Heulen ferner Wölfe und den Rufen anderer Nachttiere störte nichts den unruhigen Frieden der kleinen Gruppe.

Als sie alle in der grauen, müden Morgendämmerung erwachten und die eisige Kälte des neuen Tages spürten, stellte Schwester Eisten fest, daß das Baby in der Nacht gestorben war. Niemand sprach von der gelblichen Verfärbung der wachsbleichen Haut des Säuglings.

Cass grub ein flaches Grab mit seinem Schwert, und unter dem verwirrten Schluchzen der kleineren Kinder sprachen Schwester Fidelma und Schwester Eisten ein leises Gebet und begruben den winzigen Leichnam. Schwester Eisten hatte sich nicht an den Namen des Kleinen erinnern können.

Inzwischen hatten sich die Wolken verzogen, und die blutleere Herbstsonne stand niedrig an dem blaßblauen Himmel - hell, doch ohne Wärme. Cass hatte recht behalten, das Wetter war umgeschlagen.