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Das Wetter hatte sich erneut mit der verwirrenden Schnelligkeit geändert, die für die Inseln und Halbinseln des Südwestens von Muman typisch ist. Der Himmel zeigte ein klares, fast durchsichtiges Blau, und die Sonne schien mit einer Wärme wie an einem der letzten Tage des Sommers und nicht wie im Spätherbst. Von den Stürmen war nur eine Seebrise übriggeblieben, die böig, aber nicht heftig wehte. Die See war nicht ganz still, sondern kabbelig und unruhig, und sie ließ die Schiffe, die in der Bucht von Ros Ailithir vor Anker lagen, ab und zu an den Tauen zerren. Möwen beherrschten den Himmel, doch dazwischen zogen auch große dunkle Kormorane ihre Kreise und stießen herab im Kampf um die größten Fische, begleitet von den klagenden oder zornigen Schreien ihrer Artgenossen. Einige weißbäuchige Sturmschwalben, die das Unwetter auf das Meer hinausgetrieben hatte, kehrten zur Küste zurück.
Fidelma hockte auf der dicken Steinmauer des Klosters, die einen Umgang wie eine Brustwehr hatte. Sie schaute nachdenklich hinab auf die Bucht. Dort lagen ein paar Fischerboote, einige Küstensegler und ein hochseefähiges Schiff für den Handel mit Britannien oder Gallien. Sie hatte gehört, es sei ein fränkisches Handelsschiff. Doch ihr Interesse galt dem Kriegsschiff des Königs von Laigin, das bedrohlich nahe am Eingang zur Bucht ankerte.
Fidelma saß schon lange auf der Mauer und musterte das Schiff. Sie fragte sich, was Fianamail, der junge König von Laigin, mit dieser Geste erreichen wollte. Muman einschüchtern? Sie sah darin, daß er Osraige als Sühnepreis forderte, lediglich ein politisches Manöver zur Rückgewinnung verlorenen Landes, und zwar ein ziemlich unverfrorenes. Es würde doch wohl keiner glauben, daß der Tod des Ehrwürdigen Dacan, auch wenn er ein Vetter des Königs von Laigin war, die Rückgabe eines Gebietes unumgänglich machte, das über fünfhundert Jahre zu Cashel gehört hatte. Sollte Fianamail deswegen wirklich mit Krieg drohen?
Sie schaute hinab auf das flatternde Seidenbanner der Könige von Laigin, das stolz in der Seebrise wehte, die um den Mast strich. Auf dem Deck übten sich mehrere Krieger im Gebrauch ihrer Waffen, was wohl eher dazu angetan war, auf die Beobachter an Land Eindruck zu machen, als zur Ertüchtigung der Krieger aus Laigin.
Fidelma wünschte, sie hätte sich mehr mit dem Abschnitt des Buches von Acaill - des großen Gesetzeswerkes - befaßt, der sich speziell auf die muir-bretha, die Seerechte, bezog. Das Gesetz sagte sicherlich etwas dazu, ob eine solche Einschüchterung zulässig war. Sie hatte das Gefühl, daß das Bündel von Zweigen, das am Tor der Abtei hing, in diesem Zusammenhang etwas zu bedeuten hatte, aber sie wußte nicht, was. Sie überlegte, ob sich vielleicht in der Tech Screptra, der Bibliothek der Abtei, Gesetzbücher befanden, die sie dazu konsultieren könnte.
Vom Turm her erklang die Glocke, die die Terz verkündete.
Fidelma erhob sich und schritt den hölzernen Wehrgang entlang zurück zur Treppe, die auf den Innenhof von Ros Ailithir hinunterführte. Ein Stück weiter stand eine bekannte Gestalt auf der Mauer und blickte hinaus auf das Meer. Es war Schwester Eisten. Sie nahm Fidelma nicht wahr, so gebannt schaute sie auf die Bucht.
Fidelma trat unbemerkt neben sie.
»Ein sehr schöner Morgen, nicht wahr, Schwester«, grüßte sie.
Schwester Eisten schrak zusammen und wandte sich überrascht um. Sie blinzelte und neigte den Kopf.
»Schwester Fidelma. Ja, sehr schön.« Ihre Antwort war ohne Wärme.
»Wie geht es dir heute?«
»Mir geht es gut.«
Die knappen, einsilbigen Worte klangen wenig erfreut.
»Das ist schön. Geht es dem kleinen Jungen auch wieder gut?«
Schwester Eisten sah sie verwirrt an.
»Dem kleinen Jungen?«
»Ja. Hat er sich von seinem Alptraum erholt?« Als sie bemerkte, daß Schwester Eisten sie anscheinend immer noch nicht verstand, fügte sie hinzu: »Dem Jungen mit Namen Cosrach. Du hieltest ihn gestern nachmittag in den Armen.«
»Ach ... ja«, antwortete Schwester Eisten unsicher.
»Schwester Fidelma!«
Fidelma wandte sich um. Es war Schwester Necht, die sie gerufen hatte und nun die Treppe heraufeilte. Fidelma hatte das seltsame Gefühl, daß es ihr nicht recht war, Schwester Eisten und Fidelma zusammen stehen zu sehen.
»Bruder Rumann möchte dich sprechen, Schwester«, verkündete Schwester Necht. »Er erwartet dich dringend im Gästehaus.«
Fidelma zögerte und schaute Eisten an. »Bist du sicher, daß dir nichts fehlt?«
»Alles in Ordnung, danke«, antwortete Eisten ohne Überzeugungskraft.
»Wenn du eine Seelenfreundin brauchst, wende dich einfach an mich.«
Im Gegensatz zur römischen Kirche, in der jeder seine Sünden einem Priester zu beichten hatte, wies die irische Kirche jeder Person einen anamchara oder Seelenfreund zu. Er oder sie nahm nicht eine Beichte entgegen, sondern war eher ein Vertrauter, ein geistlicher Berater, der nach den Gebräuchen des Glaubens in den fünf Königreichen handelte. Fidelmas Seelenfreundin seit Erreichen des Alters der Wahl war Lia-din von den Ui Drona, ihre Freundin seit den Kindertagen. Doch es war nicht zwangsläufig so, daß der Seelenfreund vom gleichen Geschlecht sein mußte. Colmcille und andere Glaubensführer hatten Seelenfreunde vom anderen Geschlecht gewählt.
Eisten schüttelte heftig den Kopf.
»Ich habe schon eine Seelenfreundin in der Abtei«, wies sie Fidelma zurück.
Fidelma seufzte und folgte zögernd Schwester Necht. Natürlich ging es Eisten nicht gut. Etwas ängstigte sie weiterhin. Fidelma wollte schon die Treppe hinabsteigen, als Schwester Eistens Stimme sie zurückhielt.
»Sag mir, Schwester .«
Fidelma wandte sich fragend um. Eisten starrte noch immer düster aufs Meer hinaus.
»Sag mir, Schwester, kann eine Seelenfreundin das Vertrauen brechen, das man ihr geschenkt hat?«
»Wenn sie das tut, dann, meine ich, kann sie keine Seelenfreundin mehr sein«, antwortete Fidelma sofort. »Aber das hängt von den Umständen ab.«
»Schwester!« drängte Necht am Fuße der Treppe.
»Reden wir später darüber«, schlug Fidelma vor. Eisten schwieg, und Fidelma ging langsam die Treppe hinunter zu Necht.
In dem Zimmer, das Fidelma für ihre Befragungen angewiesen worden war, wartete ungeduldig der Verwalter der Abtei.
Fidelma ließ sich auf dem Stuhl gegenüber Bruder Rumann nieder und bemerkte, daß Cass schon seinen Platz in der Zimmerecke eingenommen hatte. Fidelma sah Schwester Necht an. Sie hatte lange überlegt, ob es klug sei, sie bei sämtlichen Befragungen dabei sein zu lassen. Vielleicht konnte man sich darauf verlassen, daß sie alles für sich behielt, vielleicht aber auch nicht. Schließlich hatte Fidelma entschieden, es sei besser, sie nicht der Versuchung auszusetzen.
»Ich benötige deine Dienste für eine Weile nicht«, erklärte sie Necht, die sichtlich darüber enttäuscht war. »Sicherlich hast du im Gästehaus noch andere Pflichten zu erfüllen.«
Bruder Rumann war sehr einverstanden.
»Das hat sie wirklich. Die Zimmer müssen gereinigt und in Ordnung gebracht werden.«
Als Schwester Necht unwillig gegangen war, wandte sich Fidelma wieder dem Verwalter zu.
»Wie lange bist du schon Verwalter der Abtei, Bruder Rumann?« begann sie.
Sein feistes Gesicht verzog sich.
»Seit zwei Jahren, Schwester. Warum?«
»Verzeih die Frage«, meinte Fidelma höflich. »Ich möchte soviel über dich erfahren wie möglich.«
»Dann laß dir sagen, daß ich seit dem Erreichen des Alters der Wahl in der Abtei bin - und das war vor dreißig Jahren.«
In gekränktem Ton umriß er kurz seinen Lebensweg, als habe sie kein Recht, danach zu fragen.
»Dann bist du also siebenundvierzig Jahre alt und seit zwei Jahren Verwalter?« stellte Fidelma zusammenfassend fest.
»Genau.«
»Sicher weißt du so gut wie alles, was es über Ros Ailithir zu wissen gibt?«
»Alles«, antwortete Rumann selbstzufrieden.
»Das ist schön.«
Rumann runzelte leicht die Stirn und fragte sich, ob sie sich über ihn lustig machte.
»Was willst du wissen?« erkundigte er sich.
»Abt Brocc beauftragte dich mit der Untersuchung des Todes von Dacan. Was hast du herausgefunden?«
»Daß er von einem Unbekannten ermordet wurde. Das war alles«, erwiderte der Verwalter.
»Fangen wir bei dem Zeitpunkt an, als der Abt dir mitteilte, daß Dacan tot ist.«
»Das teilte mir nicht der Abt mit, sondern Bruder Conghus.«
»Wann war das?«
»Kurz nachdem er den Abt von Dacans Tod unterrichtet hatte. Ich traf ihn, als er zu Bruder Tola eilte, unserem Unterarzt. Tola untersuchte die Leiche.«
»Was tatest du dann?«
»Ich begab mich zum Abt, um ihn zu fragen, was ich machen sollte.«
»Du gingst nicht zuerst in Dacans Zimmer?«
Rumann schüttelte den Kopf.
»Was hätte ich dort ausrichten können, bevor Tola Dacan untersucht hatte? Der Abt wies mich an, die Angelegenheit in die Hand zu nehmen. Danach erst ging ich in Dacans Zimmer. Bruder Tola war gerade dabei, die Untersuchung abzuschließen. Er sagte, Da-can sei gefesselt und mit mehreren Stichen in die Brust getötet worden. Dann schafften er und Martan, der Apotheker, die Leiche fort.«
»Ich habe gehört, daß der Raum nicht in Unordnung war und die Öllampe neben dem Bett noch brannte.«
Rumann nickte bestätigend.
»Tola löschte die Lampe, als er ging«, sagte Fidelma. »Daraus schließe ich, daß du das Zimmer schon verlassen hattest, als die Leiche hinausgetragen wurde.«
Rumann blickte Fidelma mit sichtlichem Respekt an.
»Du hast einen scharfen Verstand, Schwester. So war es tatsächlich. Während Tola noch zu tun hatte, sah ich mich rasch im Zimmer um nach einer Waffe oder einem ähnlichen Gegenstand, der den Täter verraten könnte. Ich fand aber nichts. Deshalb ging ich, kurz bevor Tola die Leiche hinaustragen ließ.«
»Du hast das Zimmer nicht noch einmal durchsucht?«
»Nein. Auf Anordnung des Abts ließ ich das Zimmer in dem Zustand verschließen, in dem es sich befand. Ich hatte nichts gefunden, was zur Entdeckung des Täters beitragen könnte. Der Abt meinte aber, daß weitere Nachforschungen nötig werden könnten.«
»Du hast zu keinem Zeitpunkt Öl in die Lampe neben dem Bett nachgefüllt?«
Bei dieser Frage zog Rumann überrascht die Augenbrauen hoch.
»Weshalb sollte ich sie auffüllen?«
»Ganz egal«, entgegnete Fidelma schnell mit einem Lächeln. »Was geschah dann? Wie hast du deine weiteren Nachforschungen angestellt?«
Rumann rieb sich nachdenklich das Kinn.
»In jener Nacht schliefen Schwester Necht und ich im Gästehaus, und wir schliefen fest, bis uns die Morgenglocke weckte. Es war nur noch ein anderer Gast im Haus, und er hatte nichts gesehen oder gehört.«
»Wer war dieser Gast? Ist er noch im Kloster?«
»Nein. Er war nur ein Reisender. Er hieß Assid von den Ui Dego.«
»Ach so.« Ihr fiel ein, daß Brocc den Namen erwähnt hatte. »Assid von den Ui Dego. Verbessere mich, wenn ich mich irre, Rumann, aber die Ui Dego wohnen doch nördlich von Fearna in Laigin, nicht wahr?«
Rumann machte eine Geste der Verlegenheit.
»Ich glaube, ja«, räumte er ein. »Vielleicht kann dir Bruder Midach mehr darüber sagen.«
»Wieso Bruder Midach?« fragte Fidelma.
»Nun, er ist öfter in die Gegend gereist«, antwortete Rumann etwas entschuldigend. »Ich glaube, er wurde dort in der Nähe geboren.«
»Erzähl mir mehr über Assid, den Reisenden«, bat Fidelma den Verwalter.
»Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Er kam mit einem Küstenschiff. Ich glaube, er ist Kaufmann und treibt Handel die Küste entlang. Er fuhr mit der Nachmittagsflut ab an dem Tage, als Dacan getötet wurde. Vorher hatte ich ihn natürlich gründlich befragt.«
»Und er hat dir versichert, daß er nichts gehört und nichts gesehen hat?« Fidelma lächelte ironisch.
»Genau das.«
»Hätte nicht die Tatsache, daß Assid aus Laigin stammt und Laigin jetzt eine so wichtige Rolle in der Angelegenheit spielt, euch veranlassen sollen, ihn zur weiteren Befragung hierzubehalten?« erkundigte sich Fidelma.
Rumann schüttelte den Kopf.
»Woher sollten wir das damals wissen? Mit welcher Begründung sollten wir ihn festhalten? Willst du damit andeuten, daß er der Mörder seines Landsmanns ist? Wir haben zudem neben Midach noch mehrere Brüder und Schwestern in der Abtei, die in Laigin geboren sind.«
»Ich bin nicht hier, um irgend etwas anzudeuten, Rumann«, erwiderte Fidelma, etwas gereizt von der Selbstzufriedenheit des Verwalters. »Ich bin hier, um den Fall zu untersuchen.«
Der füllige Mönch fuhr zurück und schluckte. Er war es nicht gewohnt, daß man so mit ihm sprach.
Fidelma wiederum taten ihre Worte sofort leid, und sie gestand sich im stillen ein, daß der Verwalter kaum hätte anders handeln können. Welche Gründe gab es zu der Zeit, Assid von den Ui Dego festzusetzen? Keine. Aber wie sollte sie den Fall aufklären, wenn der Hauptzeuge den Schauplatz verlassen hatte? Allerdings war jetzt eindeutig klar, wer die Nachricht von der Ermordung Dacans nach Fearna gebracht hatte.
»Dieser Assid«, begann Fidelma nun in freundlicherem Ton, »weshalb bist du so sicher, daß er Kaufmann ist?«
»Wer sonst außer einem Kaufmann fährt in einer barc die Küste entlang und sucht Unterkunft in unserem Gästehaus? Sein Besuch war nicht ungewöhnlich. Wir beherbergen oft Kaufleute wie ihn.«
»Seine Mannschaft blieb vermutlich an Bord der barc?«
»Ich glaube schon. Hier übernachtete sie jedenfalls nicht.«
»Erhebt sich also die Frage, warum er nicht auch an Bord blieb, sondern hier ein Nachtquartier suchte?« überlegte Fidelma. »In welchem Zimmer schlief er?«
»In dem, das jetzt Schwester Eisten bewohnt.«
»Kannte er Dacan?«
»Ich glaube, ja. Ich kann mich erinnern, daß sie sich freundlich begrüßten. Das war an dem Abend, als As-sid ankam. Das war wohl ganz natürlich, da sie beide aus Laigin stammten.«
»Hast du dich später bei Assid nach seiner Beziehung zu Dacan erkundigt?« wollte Fidelma wissen.
Rumann schüttelte den Kopf.
»Warum sollte mich sein Verhältnis zu Dacan interessieren?«
»Aber du sagtest doch, daß sie sich freundschaftlich begrüßten, was darauf schließen läßt, daß sie sich persönlich kannten und nicht nur vom Namen her«, erwiderte Fidelma.
»Ich sah keinen Grund, Assid zu fragen, ob er mit Dacan befreundet gewesen sei.« »Wie willst du einen Mörder finden, wenn du nicht solche Fragen stellst?« entgegnete Fidelma gereizt.
»Ich bin kein dalaigh«, verteidigte sich Rumann empört. »Ich hatte nur den Auftrag, zu untersuchen, wie Dacan in unserem Gästehaus zu Tode kam, nicht eine gerichtliche Untersuchung zu führen.«
Daran war manches wahr. Rumann war nicht für eine Untersuchung ausgebildet. Fidelma bereute ihre Schärfe.
»Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Sag mir einfach alles, was du über diesen Assid weißt.«
»Er kam an dem Tag, bevor Dacan getötet wurde, und wie ich dir bereits sagte, fuhr er am nächsten Tag ab. Er bat um Unterkunft für eine Nacht. Seine barc ankerte in der Bucht, und er trieb wahrscheinlich Handel. Das ist alles, was ich weiß.«
»Nun gut. Und weiter hielt sich zu der Zeit niemand im Gästehaus auf?«
»Nein.«
»Ist das Gästehaus von anderen Gebäuden der Abtei aus leicht zu erreichen?«
»Wie du gesehen hast, Schwester, gibt es keine Einschränkungen innerhalb der Mauern der Abtei.«
»Also könnte jeder beliebige von den Schülern, Mönchen oder Nonnen hier hereingekommen sein und Dacan umgebracht haben?«
»Das könnte sein«, gab Rumann ohne Zögern zu.
»War jemand besonders vertraut mit Dacan während seines Aufenthalts hier? Hatte er engere Freunde unter den Mönchen oder den Schülern?«
»Niemand war wirklich befreundet mit ihm. Nicht einmal der Abt. Der Ehrwürdige Dacan war ein Mensch, der jeden auf Abstand hielt. Überhaupt nicht freundlich. Ein Asket, dem weltliche Dinge gleichgültig waren. Ich erhole mich an manchen Abenden bei einem Brettspiel, brandubh oder fidchell. Ich lud ihn einmal dazu ein, und er lehnte ab, als hätte ich ihm ein gotteslästerliches Vergnügen vorgeschlagen.«
Darin wenigstens, dachte Fidelma, stimmten alle überein, mit denen sie über den Ehrwürdigen Dacan gesprochen hatte. Ein freundlicher Mensch war er nicht gewesen.
»Gab es denn überhaupt niemanden in der Abtei, mit dem er mehr sprach als mit anderen?«
Rumann zuckte die Achseln.
»Allenfalls unsere Bibliothekarin, Schwester Grella. Vermutlich deswegen, weil er soviel in unserer Bibliothek forschte.«
Fidelma nickte nachdenklich.
»Ach ja, ich habe gehört, daß er nach Ros Ailithir kam, um bestimmte Texte zu studieren. Mit Schwester Grella werde ich später reden.«
»Natürlich unterrichtete er auch«, ergänzte Ru-mann. »Er gab Geschichte.«
»Kannst du mir sagen, wer seine Schüler waren?«
»Nein. Danach müßtest du unseren fer-leginn fragen, unseren Rektor, Bruder Segan. Er entscheidet alles, was hier mit den Studien zu tun hat. Natürlich untersteht auch er Abt Brocc.«
»Bei seinen Forschungen hat doch der Ehrwürdige Dacan wahrscheinlich viel aufgeschrieben?«
»Das nehme ich an«, antwortete Rumann. »Ich habe oft gesehen, daß er Manuskripte und natürlich seine Wachstäfelchen bei sich trug. Ohne die letzteren verließ er nie sein Zimmer.«
»Warum«, sagte Fidelma und hielt inne, um ihrer Frage Nachdruck zu verleihen, »gab es dann keine Manuskripte oder beschriebene Täfelchen in seinem Zimmer?«
Bruder Rumann starrte sie verständnislos an.
»Gab es da wirklich keine?« fragte er verblüfft.
»Nein. Es liegen Täfelchen da, aber ihre Oberfläche wurde wieder geglättet, und das Pergament auf seinem Tisch ist leer.«
Der Verwalter zuckte erneut die Achseln. Das tat er offenbar häufig.
»Das überrascht mich. Vielleicht hat er seine Aufzeichnungen in unserer Bibliothek aufbewahrt. Ich verstehe allerdings nicht, was das mit seinem Tod zu tun hat.«
»Wußtest du, wonach Dacan hier forschte?« Fidelma machte sich nicht die Mühe, auf seine Frage einzugehen. »Wußte irgend jemand, weshalb er gerade nach Ros Ailithir gekommen war?«
»Es steht mir nicht zu, mich in die Angelegenheiten anderer einzumischen. Mir genügte es, daß Dacan mit einer Empfehlung des Königs von Cashel kam und mein Abt seinen Besuch billigte. Ich versuchte, wie andere auch, freundlich mit ihm zu verkehren, aber wie ich schon sagte, er war kein freundlicher Mensch. Um die Wahrheit zu gestehen, Schwester, es herrschte keine große Trauer in der Abtei, als Dacan in die Andere Welt einging.«
Fidelma beugte sich interessiert vor.
»Man hat mir berichtet, daß Dacan zwar als abweisend galt, aber vom Volk als ein Mann von großer Heiligkeit geliebt und verehrt wurde.«
Bruder Rumann verzog spöttisch die Lippen.
»Davon habe ich auch gehört, und vielleicht ist das auch so - in Laigin. Ich kann nur sagen, daß er hier in Ros Ailithir willkommen geheißen wurde, aber diesem Willkommen nicht mit der gleichen Wärme be-gegnete. Deshalb überließ man ihn lieber sich selbst. Ja, sogar unsere kleine Schwester Necht fürchtete sich vor ihm.«
»Wirklich? Warum das?«
»Vermutlich war er ein Mensch, dessen Kälte Ängste erweckte.«
»Ich dachte, der Ruf seiner Heiligkeit erstreckte sich über Laigin hinaus. An vielen Orten spricht man von ihm und seinem Bruder Noe wie von Colmcille, Brendan oder Enda.«
»Man kann nur über das sprechen, was man weiß, Schwester. Manchmal ist ein solcher Ruf nicht gerechtfertigt.«
»Sag mir, diese Abneigung gegen Dacan ...«
Bruder Rumann unterbrach sie kopfschüttelnd.
»Gleichgültigkeit war das, Schwester. Gleichgültigkeit, nicht Abneigung, denn es gab keinen Anlaß zur Abneigung.«
»Nun gut. Gleichgültigkeit, wenn du so willst«, sagte Fidelma. »Und du glaubst nicht, daß sie hinreichte, jemanden hier zu veranlassen, ihn zu töten?«
Die Augen des Verwalters verengten sich in seinem fleischigen Gesicht.
»Jemand von hier? Willst du damit andeuten, daß einer unserer Brüder in Ros Ailithir ihn umgebracht haben könnte?«
»Vielleicht auch einer seiner Schüler, dem seine Art nicht gefiel? So etwas hat es schon gegeben.«
»Na, davon habe ich noch nie gehört. Ein Schüler achtet seinen Lehrer.«
»Unter normalen Umständen«, pflichtete ihm Fidelma bei. »Doch wir untersuchen einen ungewöhnlichen Umstand. Ein Mord, und als das haben wir es festgestellt, ist ein höchst unnatürliches Verbrechen. Welchen Weg wir auch verfolgen, wir müssen davon ausgehen, daß jemand aus dieser Gemeinschaft die Tat begangen hat. Jemand aus dieser Gemeinschaft«, wiederholte sie mit Nachdruck.
Bruder Rumann sah sie mit ernstem Gesicht an.
»Ich kann nicht mehr sagen, als ich bereits gesagt habe. Alles, womit ich beauftragt war, und alles, was ich getan habe, war, die Umstände seines Todes zu untersuchen. Was sollte ich sonst noch tun? Ich besitze nicht die Fähigkeiten eines dalaigh.«
Fidelma breitete mit einer versöhnlichen Geste die Hände aus.
»Ich wollte keine Kritik damit andeuten, Bruder Rumann. Du hast dein Amt, und ich habe meins. Wir alle befinden uns in einer heiklen Lage, weil wir nicht nur dieses Verbrechen aufklären, sondern uns auch bemühen müssen, einen Krieg zu verhindern.«
Bruder Rumann holte tief Luft.
»Wenn du mich fragst, ich würde es Laigin zutrauen, die ganze Angelegenheit eingefädelt zu haben. Sie haben immer wieder an die Ratsversammlung des Großkönigs in Tara appelliert, ihnen Osraige zurückzugeben. Jedes Mal wurde entschieden, daß Osraige rechtmäßig zu Muman gehört. Und jetzt das.« Er reckte die Hand in die Luft.
Fidelma betrachtete den Verwalter interessiert.
»Wann genau bist du zu dieser Meinung gelangt, Bruder Rumann?« fragte sie vorsichtig.
»Ich stamme von den Corco Loigde, bin ein Mann aus Muman. Als ich hörte, welchen Sühnepreis der junge Fianamail von Laigin für den Mord an Dacan fordert, vermutete ich ein Komplott. Du hattest völlig recht.«
Fidelma blickte Rumann erstaunt an.
»Ich hatte recht? In welcher Hinsicht?«
»Daß ich einen Verdacht gegen den Kaufmann As-sid hätte fassen müssen. Wahrscheinlich war er der Mörder, und ich ließ ihn laufen!«
Sie schaute ihn einen Augenblick an und sagte: »Noch eins, Bruder. Woher weißt du, welche Forderung Laigin stellt?«
Rumann blinzelte. »Woher? Na, der Abt redet doch seit Tagen von nichts anderem.«
Nachdem Bruder Rumann gegangen war, saß Fidelma eine Weile schweigend da. Dann merkte sie, daß Cass auf eine Äußerung von ihr wartete. Sie wandte sich um und lächelte ihm müde zu.
»Rufe Schwester Necht, Cass.«
Gleich nach dem Ertönen der Handglocke trat die eifrige junge Schwester ein. Sie hatte offensichtlich den Fußboden des Gästehauses geschrubbt und war froh über die Unterbrechung.
»Ich habe gehört, du hast dich vor dem Ehrwürdigen Dacan gefürchtet«, begann Fidelma ohne Vorrede.
Für einen Augenblick schien das Blut aus Nechts Gesicht zu weichen. Sie erschauerte.
»Ja«, gestand sie ein.
»Warum?«
»Zu meinen Pflichten als Novizin in der Abtei gehört es, im Gästehaus zu dienen und die Wünsche der Gäste zu erfüllen. Der Ehrwürdige Dacan behandelte mich wie eine Leibeigene. Ich habe sogar Bruder Ru-mann gebeten, mich für die Zeit, in der sich Dacan hier aufhielt, aus dem Gästehaus zu versetzen.«
»Dann mußt du eine heftige Abneigung gegen ihn empfunden haben.«
Schwester Necht ließ den Kopf hängen.
»Es ist gegen den Glauben, aber es stimmt, ich mochte ihn nicht. Ich konnte ihn nicht leiden.«
»Du wurdest nicht abgelöst?«
Necht schüttelte den Kopf.
»Bruder Rumann meinte, ich müßte es als den Willen Gottes akzeptieren, und durch diese Prüfung würde ich für die Arbeit im Dienste des Herrn gestärkt werden.« »Du sagst das so, als ob du nicht recht daran glaubst«, bemerkte Fidelma sanft.
»Ich wurde nicht gestärkt. Meine Abneigung nahm nur noch zu. Es war eine schreckliche Zeit. Der Ehrwürdige Dacan war nie zufrieden damit, wie ich sein Zimmer in Ordnung brachte. Schließlich tat ich es überhaupt nicht mehr. Außerdem ließ er sich zu allen Tages- und Nachtzeiten etwas von mir bringen, ganz wie es ihm einfiel. Ich war eine Sklavin.«
»Als er starb, hast du also keine Träne vergossen?«
»Ich doch nicht!« erklärte die Schwester mit Nachdruck. Dann merkte sie, was sie gesagt hatte, und wurde rot. »Ich meine ...«
»Ich glaube, ich weiß, was du meinst«, erwiderte Fidelma. »Sag mir, hattest du auch Dienst im Gästehaus in der Nacht, als Dacan umgebracht wurde?«
»Ich hatte jede Nacht Dienst. Bruder Rumann wird dir das gesagt haben. Es war meine besondere Aufgabe.«
»Hast du Dacan in jener Nacht gesehen?«
»Natürlich. Er und der Kaufmann Assid waren die einzigen Gäste.«
»Ich habe gehört, daß sie sich kannten?« Fidelma ließ die Feststellung wie eine Frage klingen.
Schwester Necht nickte.
»Ich glaube aber nicht, daß sie Freunde waren. Ich habe mitbekommen, wie sich Assid nach der Abendmahlzeit mit Dacan stritt.«
»Sie stritten sich?«
»Ja. Dacan hatte sich auf sein Zimmer zurückgezogen. Er nahm sich gewöhnlich ein paar Bücher mit, um bis zur Completa, dem letzten Gottesdienst des Tages, darin zu lesen. Ich ging an seiner Zimmertür vorbei, als ich streitende Stimmen hörte.«
»Bist du sicher, daß es Assid war?«
»Wer sollte es sonst gewesen sein?« entgegnete das Mädchen. »Es wohnte doch weiter niemand hier.«
»Sie stritten sich also. Worüber?«
»Das weiß ich nicht. Ihre Stimmen waren nicht laut, aber erregt. Sie klangen zornig.«
»Und was las Dacan in jener Nacht?« fragte Fidelma. »Ich habe gehört, daß nichts aus seinem Zimmer entfernt wurde. Doch fanden sich weder Bücher noch Aufzeichnungen darin.«
Schwester Necht zuckte die Achseln und schwieg.
»Wann hast du Dacan zuletzt gesehen?«
»Ich war gerade vom Gottesdienst der Completa zurückgekehrt, als Dacan mich rief und sich einen Krug kaltes Wasser von mir bringen ließ.«
»Hast du sein Zimmer danach noch einmal aufgesucht?«
»Nein. Ich ging ihm möglichst aus dem Wege. Vergib mir diese Sünde, Schwester, aber ich haßte ihn und kann das nicht leugnen.«
Schwester Fidelma lehnte sich zurück und sah die Novizin prüfend an.
»Du hast noch andere Pflichten, Schwester Necht, und von denen will ich dich nicht länger abhalten. Ich rufe dich, wenn ich dich wieder brauche.«
Die Novizin erhob sich, sie sah beschämt aus.
»Du erzählst Bruder Rumann doch nichts von meinem sündhaften Haß auf Dacan?« fragte sie eindringlich.
»Nein. Du hast dich vor Dacan gefürchtet. Haß ist nur die Folge dieser Furcht; wir müssen etwas fürchten, bevor wir es hassen können. Haß ist der schützende Mantel, in den sich die Eingeschüchterten hüllen. Aber denke daran, Schwester, daß Haßgefühle oft dazu führen, daß die Gerechtigkeit auf der Strecke bleibt. Bemühe dich, Dacan im Tode seine Selbstherrlichkeit zu vergeben, und versuche deine eigene Furcht zu verstehen. Du kannst jetzt gehen.«
»Bist du sicher, daß es für mich nichts weiter zu tun gibt?« fragte Necht und blieb zögernd in der Tür stehen.
Fidelma schüttelte den Kopf.
»Ich rufe dich, wenn ich dich brauche«, versicherte sie ihr.
Als Necht fort war, erhob sich Cass und setzte sich auf den Stuhl, den Necht frei gemacht hatte. Er sah Fidelma mitfühlend an.
»Es läuft nicht gut, nicht wahr? Ich sehe nur noch ein Durcheinander.«
Fidelma schnitt dem jungen Krieger ein Gesicht.
»Machen wir einen Spaziergang an der Küste, Cass. Ich brauche die Brise, um den Kopf klarzubekommen.«
Sie durchschritten das Abteigelände und fanden eine Tür in der Mauer, die auf einen schmalen Pfad hinausging, der in Windungen zum Sandstrand hinunterführte. Der Tag war noch schön, mit böigen Winden, die die vor Anker liegenden Schiffe ins Schaukeln brachten. Fidelma atmete die salzige Seeluft tief ein und mit einem lauten, zufriedenen Seufzer wieder aus.
Cass beobachtete sie mit stiller Belustigung.
»So ist es besser«, sagte sie und warf ihm einen raschen Blick zu. »Das macht den Kopf klar. Ich muß zugeben, das ist die schwierigste Untersuchung, die ich bisher durchgeführt habe. Bei den anderen waren zumindest die Zeugen alle vor Ort, ich hatte also alle Verdächtigen beisammen. Und ich war schon Stunden oder manchmal Minuten nach dem Verbrechen am Tatort, so daß sich das Beweismaterial nicht in Luft auflösen konnte.«
Cass paßte sich ihren kleineren Schritten an, während sie langsam die Küste entlanggingen.
»Allmählich begreife ich einige der Schwierigkeiten, vor denen eine dalaigh steht, Schwester. Ehrlich gesagt, ich hatte früher keine Vorstellung davon. Ich dachte, sie brauchte weiter nichts zu kennen als die Gesetze.«
Fidelma machte sich nicht die Mühe zu antworten.
Sie kamen an Fischern vorbei, die die morgendlichen Fänge aus ihren kleinen, kanugleichen Booten luden. Die Boote nannte man hier naomhog, was Boote aus Flechtwerkrahmen bedeutete, und sie waren mit codal, einer mit Eichenrinde gegerbten Haut, bespannt, die mit Ledersehnen zusammengenäht wurde. Sie ließen sich gut tragen, drei Männer genügten selbst für das größte von ihnen. Sie lagen hoch im Wasser und tanzten leicht, selbst auf den wildesten Wogen.
Fidelma blieb stehen und sah zu, wie zwei dieser Boote auf das Ufer zuhielten und ein großes totes Meerestier hinter sich herschleppten.
Sie hatte einmal erlebt, wie ein Riesenhai an Land gebracht wurde, und nahm an, dies sei auch einer.
Cass hatte so etwas noch nie gesehen und lief rasch hin, um genauer in Augenschein zu nehmen, was die Fischer da gefangen hatten.
»Ich habe mal eine Geschichte gehört, in der der heilige Brendan an dem Rücken eines solchen Ungeheuers mit einem Boot anlegte, weil er dachte, es wäre eine Insel. Aber so groß dieses Tier auch ist, wie eine Insel sieht es nicht aus«, rief er.
»Der Fisch, an dem Brendan angelegt haben soll, muß viel größer gewesen sein«, erwiderte Fidelma. »Als Brendan und seine Gefährten sich auf der vermeintlichen Insel niederließen und ein Feuer zum Kochen anmachten, spürte der Fisch die Hitze und tauchte weg, und sie konnten sich gerade noch in ihr Boot retten.«
Ein alter Fischer, der ihnen zugehört hatte, nickte weise.
»Das ist eine wahre Geschichte, Schwester. Aber hast du schon mal was von dem großen Fisch Rosault gehört, der zur Zeit von Colmcille gelebt hat?«
Fidelma schüttelte lächelnd den Kopf.
»Als ich jung war, fischte ich meistens oben bei Connacht«, erzählte der alte Fischer, ohne sich lange bitten zu lassen. »Die Leute von Connacht wußten zu berichten, daß es landeinwärts einen heiligen Berg gebe, der Croagh Patrick genannt wird, nach dem großen Heiligen. Am Fuße des Berges liegt eine Ebene, die Muir-iasc heißt, was >Seefisch< bedeutet. Wißt ihr, woher sie diesen Namen hat?«
»Sag es uns«, drängte ihn Cass.
»Sie wird so genannt, weil sie entstand, als der Riesenleib Rosaults bei einem großen Sturm an Land geworfen wurde. Als das Tier tot auf der Ebene lag und verweste, verursachten die üblen Dünste, die von dem Kadaver aufstiegen und sich im Lande verbreiteten, eine schlimme Pest, an der Menschen und Tiere starben. Es gibt viele Dinge auf See, Schwester, viele gefährliche Dinge.«
Fidelma warf einen raschen Blick auf das Kriegsschiff aus Laigin.
»Und nicht alle davon kommen aus der Tiefe des Meeres«, bemerkte sie leise.
Der alte Fischer folgte ihrem Blick und grinste.
»Ich glaube, da hast du recht, Schwester. Ich denke, eines Tages werden die Fischer der Corco Loigde ihre Harpunen auf seltsamere Wesen schleudern müssen als auf einen armen Riesenhai.«
Er wandte sich ab und stieß sein Abziehmesser mit Genuß in den mächtigen Kadaver.
Fidelma ging weiter den Strand entlang.
Cass eilte ihr nach. Eine Weile schritten sie schweigend nebeneinander her, dann meinte Cass: »Die ersten Anzeichen für einen Kriegsausbruch sind nicht zu übersehen.«
»Das ist mir nicht entgangen«, erwiderte Fidelma.
»Ich kann aber keine Wunder vollbringen, auch wenn mein Bruder das von mir erwartet.«
»Vielleicht müssen wir uns damit abfinden, vielleicht ist es unser Schicksal, daß es zum Krieg kommt.«
»Schicksal!« entgegnete Fidelma zornig. »Ich glaube nicht an die Vorherbestimmung, selbst wenn manche Männer der Kirche das tun. Das Schicksal ist nur eine Entschuldigung des Tyrannen für seine Verbrechen und eine Entschuldigung des Toren dafür, daß er sich dem Tyrannen nicht entgegenstellt.«
»Wie willst du aber das Unausweichliche ändern?« fragte Cass.
»Indem ich erst einmal sage, daß es nicht unausweichlich ist, und dann darangehe, etwas dagegen zu unternehmen!« erwiderte sie energisch.
Wenn sie zu diesem Zeitpunkt etwas nicht gebrauchen konnte, dann war es jemand, der ihr einreden wollte, die Dinge seien unvermeidlich. Sophokles hatte geschrieben, daß man das, was die Götter über einen verhängten, mit Standhaftigkeit ertragen müsse. Doch damit zu erklären, daß die eigenen Fehlleistungen einfach Schicksal seien, das war eine Philosophie, die Fidelma fern lag. Der Schicksalsglaube diente nur dazu, sich eine Wahl zu ersparen.
Cass hob die Hand, öffnete sie und machte eine resignierende Geste.
»Deine Philosophie ist lobenswert, Fidelma. Aber manchmal ...«
»Genug davon!«
Ihr Ton ließ Cass verstummen. Colgü von Cashel hatte seiner Schwester eine große Verantwortung auf die Schultern geladen - eine zu große vielleicht? Wie Cass es sah, war der Mord an Dacan ein Rätsel, das nie gelöst werden würde. Da war es wohl besser, sich einfach auf einen Krieg mit Laigin vorzubereiten, als die Zeit damit zu vergeuden, die verwickelten Fäden dieses Geheimnisses entwirren zu wollen.
Fidelma setzte sich auf einen Felsen und schaute aufs Meer hinaus. Cass stand neben ihr. Während sie nachdachte, versuchte sie sich an das zu erinnern, was ihr alter Lehrer, der Brehon Morann von Tara, ihr einmal gesagt hatte.
»Lieber zweimal fragen als dich einmal verlaufen, mein Kind«, hatte er ihr geraten, als sie einmal eine Aufgabe nicht lösen konnte, weil sie die Ausgangssituation nicht mitbekommen hatte, die er vorgegeben hatte.
Welche Frage hatte sie nicht gestellt; welche Ausgangssituation hatte sie nicht ganz begriffen?
Plötzlich sprang Fidelma auf. »Ich muß doch blöd sein!« verkündete sie.
»Wieso denn?« fragte Cass.
»Ich habe im stillen schon über die Unlösbarkeit meiner Aufgabe gestöhnt, noch ehe ich sie richtig in Angriff genommen habe.«
»Und ich habe geglaubt, du hättest einen sehr guten Anfang gemacht.«
»Ich bin bisher bloß an der Oberfläche geblieben«, antwortete sie. »Ich habe ein paar Fragen gestellt, aber nicht wirklich nach der Wahrheit gesucht. Komm, es gibt viel zu tun!«
Sie liefen rasch zurück zur Abtei, durch die Tür in der Mauer und über den gepflasterten Hof. Hier und da wandten sich kleine Gruppen von Schülern und einige der unterrichtenden Mönche und Nonnen nach ihnen um und musterten sie verstohlen, denn der Zweck ihres Kommens hatte sich schnell in der Abtei herumgesprochen. Fidelma und Cass ignorierten die Blicke und schritten dem Haupttor zu, wo sie fanden, wen sie suchten, die Schwester Necht nämlich.
Fidelma wollte sie gerade anrufen, als Necht aufsah und sie erblickte. Sie rannte ihr mit unziemlicher Eile entgegen.
»Schwester Fidelma!« keuchte sie. »Ich wollte dich gerade suchen gehen. Bruder Tola hat mir dies Päckchen für dich gegeben. Es ist von Bruder Martan.«
Sie reichte Fidelma etwas, das in Sackleinen eingewickelt war. Fidelma nahm es und schlug das Leinen auseinander. Darin lagen mehrere lange Stoffstreifen, die anscheinend von einem größeren Stück abgerissen worden waren. Sie hatten tiefbraune Flecken, Blutflecken. Der Stoff selbst war blau und rot. Die Streifen waren ausgefranst und wirkten brüchig. Fidelma nahm einen, packte die Enden mit je einer Hand und zog kräftig. Der Stoff zerriß sofort.
»Nicht sehr wirksam als Fessel«, stellte Cass fest.
Fidelma sah ihn anerkennend an.
»Nein«, sagte sie nachdenklich, wickelte die Leinenstreifen wieder ein und steckte sie in ihre große Tasche. »Jetzt, Schwester Necht, führe uns bitte zu Schwester Grella in die Bibliothek.«
Zu ihrer Überraschung schüttelte das Mädchen den Kopf.
»Das kann ich nicht tun, Schwester.«
»Wieso nicht?« fragte Fidelma gereizt.
»Der Abt hat mich losgeschickt, damit ich dich suche und zu ihm bringe. Er sagt, er muß dich sofort sprechen.«
»Na schön«, sagte Fidelma widerwillig. »Wenn Abt Brocc mich sprechen will, dann muß ich zu ihm gehen. Doch weshalb ist das so dringend?«
»Vor zehn Minuten ist Salbach, der Fürst der Cor-co Loigde, hier eingetroffen, auf eine Nachricht hin, die ihm Brocc gesandt hat. Der Fürst scheint äußerst erbost zu sein.«