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Sobald Fidelma und Eadulf im Gästehaus allein waren, wandte sich Fidelma mit einem warmen Lächeln zu dem angelsächsischen Mönch und faßte seine beiden Hände.
»Du warst brillant!« erklärte sie begeistert.
Eadulf errötete heftig.
»Ich hatte eine gute Lehrerin«, murmelte er verlegen.
»Aber du hast die richtigen Gesetze für deine Beweisführung gefunden! Und wie du Artgal in die Falle gelockt hast! Ich habe noch nie erlebt, daß ein Anwalt einen Zeugen so gut manipuliert hat. Es war großartig, wie du das Gesetz für deinen Antrag benutzt hast. Du solltest dir den Grad eines dalaigh verleihen lassen.«
»Ich hatte ein bißchen Hilfe von Rudgal«, gab Ea-dulf zu. »Ohne seine Informationen hätte ich Artgal nicht als unbrauchbaren Zeugen überführen können.«
Fidelma wurde ernst.
»Willst du damit sagen, daß Rudgal dich auf die Belohnung, die Artgal bekommen sollte, hingewiesen hat?«
»So war es. Er erwähnte, daß Artgal die Kühe erhalten hatte. Den Rest konnte ich mir zusammenreimen.«
Fidelma holte einen Krug Met und zwei Becher, denn sie brauchte eine Stärkung nach dem, was sie durchgemacht hatte.
»Dann sollten wir uns bei Rudgal bedanken. Du hast seinen Hinweis gut verwendet. Die Art, wie du Artgal gezwungen hast, einzugestehen, daß er bestochen wurde, ohne daß du den Beweis dafür erbringen mußtest, die bewundere ich.«
Eadulf lachte zweifelnd.
»Wenn ich meine Behauptung hätte beweisen müssen, das wäre schiefgegangen, fürchte ich. Gott sei Dank glaubte Artgal, ich wüßte mehr, als es der Fall war.«
Fidelma setzte den Becher ab.
»Du hattest doch Beweise für die Bestechung, nicht wahr?« fragte sie zögernd. »Ich meine, Beweise für deine Behauptung?«
Mit gezwungenem Lächeln gestand Eadulf die Wahrheit.
»Es war ein Bluff.«
Fidelma starrte ihn entgeistert an. Langsam sank sie auf einen Stuhl.
»Ein Bluff? Das mußt du mir erklären.«
»Das ist leicht. Rudgal hatte gehört, wie Artgal mit seinem neuen Besitz von zwei Milchkühen prahlte. Artgal gab an, verplapperte sich aber nicht. Er erwähnte jedoch, daß er in neun Tagen eine dritte Milchkuh erhalten werde. Der Zusammenhang ging mir sofort auf. Rudgal hatte mir das erzählt, aber die Bedeutung nicht erkannt.«
Fidelma wurde ganz schlecht bei dem Gedanken, was alles hätte passieren können.
»Und das war alles, was du wußtest, als du ihn vor dem Gericht herausgefordert hast?« fragte sie zaghaft.
Eadulf breitete die Arme aus.
»Es schien mir hinreichend Grund zu geben für die Annahme, daß Artgals neuer Reichtum etwas mit seiner Aussage gegen dich zu tun hatte. Ich bin einfach ein Risiko eingegangen.«
Fidelma starrte ihn entsetzt an.
»Aber kein Brehon hätte es gewagt, zu riskieren, etwas vor Gericht zu behaupten, ohne sichere Kenntnis davon oder einen Beweis zu haben. Hast du noch nie den Satz gehört: sapiens nihil affirmat quod non probat? Ein weiser Mann gibt nie etwas für wahr aus, was er nicht beweisen kann? Wenn Artgal nun nicht gestanden hätte? Wenn du aufgefordert worden wärst, deine Beschuldigung zu beweisen?«
Eadulf machte ein reuiges Gesicht.
»Dann, wie gesagt, wäre es für uns schiefgelaufen. Artgal hätte mich einfach einen Lügner nennen und damit durchkommen können. Aber sein schlechtes Gewissen ließ ihn gestehen, und darauf hatte ich gerechnet.«
Verblüfft schüttelte Fidelma den Kopf.
»So etwas habe ich in all meinen Jahren als Anwältin noch nicht erlebt«, meinte sie schließlich.
»Dann erwidere ich auf deinen lateinischen Spruch mit einem anderen. Si finis bonum est, totum bonum erit«, sagte Eadulf mit selbstzufriedenem Lächeln.
Fidelma lächelte ebenfalls, als sie wiederholte: »Wenn das Ende gut ist, wird alles gut. Ich kann nicht behaupten, daß Ende gut auch alles gut bedeutet, aber erzähle diese Geschichte niemand anderem, vor allem nicht Murgal oder Laisre. Ein durch Täuschung erlangtes Geständnis ist in den Gesetzen der fünf Königreiche nicht vorgesehen.«
»Ich schwöre, es bleibt ein Geheimnis zwischen uns beiden! Aber das ändert nichts an der Tatsache: Artgal wurde bestochen.«
Fidelma schaute in ihren leeren Becher, als suche sie dort nach der Wahrheit.
»Das ist es, was ich nicht verstehe. Man mußte ihn doch nicht bestechen. Ich denke, er hat ehrlich geglaubt, was er zu sehen meinte. Er hätte seine Aussage sowieso nicht geändert. Warum hat Ibor von Muirthemne es riskiert, ihm eine so hohe Summe anzubieten?«
»Wir müssen Ibor von Muirthemne finden«, meinte Eadulf. »Er kann uns sicher weiterhelfen.«
Fidelma sah ihn resigniert an.
»Hast du nicht gehört, was Laisre gesagt hat? Mir sind weitere Nachforschungen verboten.«
»Wann hat dich das je daran gehindert, Nachforschungen anzustellen?« konterte Eadulf belustigt.
»Nun, morgen schließen wir unsere Verhandlungen hier ab, und dann können wir uns mit der Angelegenheit befassen. Die Lösung des Rätsels liegt sicher teilweise oder ganz in Ulaidh, im Norden. Erinnerst du dich, daß wir bei den Leichen im Tal den Halsreif eines Kriegers fanden, der im Norden hergestellt war?«
»Das habe ich nicht vergessen«, antwortete Eadulf.
»Aber wir müssen nicht bis morgen warten. Es ist erst später Nachmittag, und da sind noch die beiden Milchkühe auf Artgals Hof. Selbst stumme Tiere können etwas aussagen.«
Fidelma verstand ihn nicht gleich.
»Tiere fallen nicht vom Himmel«, erläuterte Eadulf. »Sie kommen von irgendwoher. Vielleicht haben sie Brandzeichen. Daraus können wir ersehen, woher sie stammen. Wir könnten dann Ibor selbst nachspüren und feststellen, wen er vertritt und zu welchem Zweck er hier ist.«
Fidelma betrachtete ihn mit zufriedener Anerkennung.
»Manchmal ist man so damit beschäftigt, den Baum zu untersuchen, daß man den Blick auf den Wald verliert. Eine glänzende Idee, Eadulf. Du beweist immer mehr, daß du fast ein dalaigh bist. Aber wir müssen vorsichtig vorgehen. Laisre wird unsere Nachforschungen nicht billigen.«
»Laisre wird nichts davon erfahren. Er und seine Freunde werden bald beginnen zu feiern«, erklärte Eadulf. »Rudgal erzählte mir heute morgen, daß diese abendlichen Feste regelmäßig stattfinden. Ich glaube«, fügte er mit grimmigem Humor hinzu, »es dauert eine Weile, bis ich noch einmal freiwillig zu so einem Fest gehe.«
Fidelma wurde bewußt, daß die Zeit fürs Abendessen nahte und sie die einzigen im Gästehaus waren.
»Wo ist denn Cruinn? Sie müßte doch hier sein und unser Abendessen vorbereiten?« fragte sie.
»Ich fürchte, Cruinn wird das nicht tun. Sie hat anscheinend eine persönliche Abneigung gegen uns gefaßt und verweigert uns den Dienst. Wir müssen selber für uns sorgen. Bruder Dianach ist auch nicht zu sehen. Ich vermute, er akzeptiert die Entscheidung des Gerichts ebenfalls nicht.«
Fidelma war erstaunt.
»Ich kann verstehen, daß Bruder Dianach gegen uns ist. Aber bei Cruinn ist mir diese Feindseligkeit unverständlich. Selbst wenn ich schuldig wäre, was geht sie Bruder Solin an?«
»Sie nimmt dir wahrscheinlich übel, daß du Orla beschuldigt hast. Orla ist hier in Gleann Geis sehr beliebt.«
»Na ja, vielleicht ist es ganz günstig, daß sie nicht da ist. Das gibt uns freie Hand. So können wir uns ohne die Zurückhaltung bewegen, die sie uns auferlegen würde .«
Sie hatte den Satz noch nicht vollendet, als die Tür sich öffnete und Rudgal eintrat. Er wirkte leicht verlegen.
»Ich muß euch leider mitteilen, daß Cruinn sich weigert, für euch zu kochen. Sie ist ziemlich altmodisch .«
»Darüber haben wir gerade gesprochen«, erklärte ihm Fidelma.
»Aber Fidelma wurde doch von Murgal freigesprochen«, meldete sich Eadulf empört zu Wort. »Wie kann Cruinn es da wagen, ihren Pflichten nicht nachzukommen?«
Rudgal zuckte die Achseln.
»Sie ist der Ansicht, wo Rauch ist, da sei auch Feuer. Sie weigert sich, das Gästehaus zu betreten, ehe ihr nicht abgereist seid. Selbst die Ermahnungen Murgals, die zugegeben nicht sehr nachhaltig waren, konnten sie nicht umstimmen. Deshalb bin ich hier, um euch meine Dienste anzubieten, wenn ich auch kein guter Koch bin.«
»Ich danke dir, Rudgal«, sagte Fidelma lächelnd. »Wir können uns gut selbst behelfen, wenn wir nur etwas zu essen und zu trinken bekommen. Wir sind schließlich nur noch einen Tag hier. Und ich bin sicher, Bruder Dianach kann sich auch selbst versorgen. Wo ist er übrigens?«
»Ich habe ihn nicht gesehen.«
Fidelma bedauerte das sehr. Sie erinnerte sich an das geflüsterte Gespräch zwischen Solin und Dianach, bevor Solin zum Stall und in den Tod ging. »Wenn alles gut geht«, hatte Solin zu Dianach gesagt, »fällt Cashel uns zu, bevor der Sommer herum ist.« Uns? Wer war das? Es war klar, daß Dianach an dem feindlichen Komplott beteiligt war, das da geschmiedet wurde. Sie wollte so bald wie möglich mit dem linkischen jungen Schreiber darüber reden, zumal er sich jetzt nicht mehr hinter Bruder Solin verschanzen konnte. Doch wenn er nicht da war, dann gab es genügend anderes zu tun; Eadulf hatte einen guten Vorschlag gemacht.
»Wir haben noch eine Bitte an dich, Rudgal«, sagte Fidelma, die nun wußte, wie sie vorgehen wollte. »Wir möchten zu Artgals Hof und uns die beiden Milchkühe ansehen, mit denen er bestochen wurde.«
Rudgal schaute sie unsicher an.
»Ist das klug, Schwester? Laisre hat weitere Nachforschungen verboten.«
»Klug oder nicht, wir möchten, daß du uns zu Art-gals Hof führst, damit wir die Kühe in Augenschein nehmen können. Selbst ein König kann einem dalaigh nicht verbieten, ein Verbrechen zu untersuchen. Ein König ist ein Diener des Gesetzes, nicht sein Herr.«
»Ich bezweifle nicht, daß es klug ist, der Sache weiter nachzugehen, aber du solltest wissen, daß trotz Laisres Anordnung, Artgal dürfe den rath nicht verlassen, er es doch getan hat. Er ist nirgends zu finden. Artgal könnte die Absicht hegen, dir zu schaden, wegen des Unglücks, das du über ihn gebracht hast.«
Fidelma stand entschlossen auf.
»Meinst du, er ist zu seinem Hof gegangen, um dort die Beweise für sein Fehlverhalten zu vernichten? In dem Fall müssen wir unbedingt nach ihm suchen, denn er ist unsere einzige Verbindung zu Ibor von Muirthemne, und die beiden Kühe sind die Bestätigung seiner Tat.«
»Aber er könnte auch woanders hingegangen sein«, warf Eadulf ein. »Irgendwohin, um Laisres Gerechtigkeit zu entgehen.«
»Das glaube ich nicht«, widersprach Rudgal. »Seine Hütte steht ein kleines Stück oberhalb des Weilers, in dem sich Ronans Hof befindet. Ronan wurde nach Hause geschickt, um Ibor von Muirthemne zu verfolgen. Ibor ist offenbar aus dem Tal geflohen. Als Ronan vorhin zurückkam, hat er mir erzählt, er hätte Artgal gesehen, wie er den Berg hinauf zu seiner Hütte ging. Er hielt es nicht für seine Pflicht, ihn daran zu hindern, denn er hatte nur den Auftrag, Ibor zum rath zurückzubringen. Außerdem ist Artgal Ronans Freund und Vetter. Ronan wird Laisre nichts davon sagen, wenn er nicht direkt danach gefragt wird.«
»Also, Ibor ist aus dem Tal geflohen?« wiederholte Fidelma ruhig. »Nun, das war zu erwarten.«
»Ibor von Muirthemne und seine Pferde müssen den rath verlassen haben, bevor Murgal die Anhörung beendet hatte«, meinte Rudgal. »Doch was Artgal anbetrifft, so glaube ich nicht, daß er sich freiwillig von den Rindern trennt, wo er sie nun einmal hat. Sollte er aus dem Tal verschwinden, um Laisres Zorn zu entgehen, dann wird er sie mitnehmen.«
»Stellen wir also erst mal fest, ob er sich noch auf seinem Hof aufhält«, beharrte Fidelma und schritt zur Tür.
Sie verließen ungehindert den rath. Wie Eadulf vermutet hatte, waren, obwohl es an diesem warmen Sommerabend noch lange hell bleiben würde, anscheinend schon alle in der Festhalle. Lachen und Festlärm schallten herüber. Niemand war draußen oder am Tor des rath. Rudgal schlug vor, lieber zu Fuß zu gehen, denn als Reiter wären sie früher zu sehen, falls Artgal ihnen nicht begegnen wollte.
Es war auch kaum eine Meile bis zu seiner Hütte. Rudgal ging mit ruhigem Schritt voran, und Fidelma und Eadulf folgten ihm.
Außerhalb der schützenden Mauern des rath war es noch warm, denn es war ein heißer Tag gewesen. Bis zum Dunkelwerden blieben noch mindestens zwei Stunden, doch ein paar düstere Gewitterwolken hingen über den Bergen und drohten mit Regen. Sie hörten das entfernte Grollen des Donners jenseits des Gipfels.
Rudgal fing Eadulfs besorgten Blick auf und lachte leise.
»Mit Gottes Hilfe wird das Unwetter auf der anderen Seite der Berge vorbeiziehen.«
Sie umgingen Ronans Hof und Nemons Häuschen und stiegen dann den Berg hinauf zu der kleinen Hütte weiter oben. Der Weg war steil, zur Erleichterung des Aufstiegs hatte man darauf große Steine zu einer Art Treppe ausgelegt. Die drei sprachen kaum, außer wenn Rudgal auf gefährliche Stellen des Weges hinwies, sumpfigen Rasen oder von Ginster verdeckte Löcher.
Sie kamen zu einem leicht abfallenden Stück Land mit kleinen, von Steinmauern eingefaßten Feldern und einer grauen Steinhütte in der Mitte. Sie war einfach, wie ein Bienenkorb geformt, hatte ein Strohdach und einen Zaun ringsherum. Angebaut war eine Schmiede, doch das Feuer darin war erloschen. Es sah aus, als hätte es schon lange nicht mehr gebrannt. Einige Werkzeuge waren verrostet.
Fidelma konnte keine Rinder in der Nähe erblikken.
Sie blieben am Eingang der Hütte stehen, um Atem zu schöpfen. Dann rief Fidelma laut: »Artgal!«
Es kam keine Antwort. Eine seltsame Stille lastete auf dem Ort.
»Artgal!« wiederholte Rudgal noch lauter. Entschuldigend sagte er nun: »Ich war mir sicher, daß er hierher gehen würde. Vielleicht war er schon hier, hat die Kühe geholt und ist geflohen. Aber mit den Kühen kann er nicht weit gekommen sein. Wir hätten ihn bestimmt gesehen.«
Als auch Rudgals zweiter Ruf unbeantwortet blieb, stieß er die Tür der Hütte auf und ging hinein. Die anderen folgten ihm. Es war niemand da, doch die wenigen Habseligkeiten befanden sich ordentlich an ihrem Platz. Nichts deutete darauf hin, daß Artgal die Hütte fluchtartig verlassen hatte. Nur ein Stück Tuch lag auf dem Boden. Fidelma hob es auf. Es war eine Schürze. Sie hängte sie an einen Haken und wunderte sich, daß ein Mann wie Artgal so etwas besaß. Aber es schien zu der Ordnung und Sauberkeit der Hütte zu passen. Wenn Artgal so peinlich sauber war, trug er vielleicht auch so eine große Schürze.
»Ich habe mich wohl geirrt«, murmelte Rudgal. »Er muß woanders hingegangen sein, doch ich wüßte nicht, wohin.«
»Aber die Kühe sind weg«, bemerkte Eadulf.
»Wenn er sie weggetrieben hat, dann hätten wir ihn sicherlich gesehen«, meinte Rudgal noch einmal. »Ein einzelner Hirt und zwei Kühe sind in dieser Gegend leicht auszumachen.«
Das stimmte, denn im Tal standen nur wenige Bäume.
»Aber eine andere Erklärung gibt es anscheinend nicht«, fügte er hinzu. »Artgal muß fort sein und die Kühe mitgenommen haben. Ich sehe mal nach, ob ich Spuren entdecke, die wir verfolgen könnten.«
Rudgal verließ die Hütte. Fidelma verharrte in der Mitte des einzigen Raumes, ihr scharfer Blick wander-te umher und spähte aufmerksam in jeden Winkel. Auf dem Tisch standen zwei Steingutbecher. Anscheinend hatte Artgal vor kurzem Besuch bekommen und keine Zeit mehr gehabt wegzuräumen.
Sie besah sich die Becher und roch vorsichtig daran, um festzustellen, was sie enthalten hatten. Diesen würzigen Duft hatte sie schon einmal gerochen.
»Artgal ist ein sehr sauberer Mann für einen Grobschmied und Krieger«, sagte sie leise.
Eadulf schmunzelte.
»Sind denn Grobschmiede und Krieger unweigerlich unsauber?«
»Du hast Artgal gesehen. Ich hätte nicht erwartet, daß er so pingelig ist. Welchen Wert eine Person auf ihre Kleidung legt, sagt viel über sie aus. Die Hütte ist jedoch makellos sauber.«
»Ich kenne Leute, die schlampig gekleidet sind, aber ihre Wohnungen peinlich sauberhalten, und umgekehrt«, meinte Eadulf.
Plötzlich ertönte draußen ein Aufschrei.
»Schwester! Bruder!« Rudgals Stimme überschlug sich fast vor Entsetzen.
Eadulf und Fidelma wechselten einen Blick und eilten hinaus. Rudgal stand an der Rückseite der Hütte und starrte auf etwas am Boden. Es war der Leichnam Bruder Dianachs.
»Ich ging um die Hütte herum, um nach Spuren zu suchen, und da stieß ich auf die Leiche«, erläuterte Rudgal überflüssigerweise.
Eadulf bekreuzigte sich, während sich Fidelma neben der Leiche auf ein Knie niederließ.
Der junge Mönch lag auf der Seite, die Füße und die untere Körperhälfte in dem kleinen Schuppen, der Oberkörper draußen, das Gesicht nach unten, ein Arm ausgestreckt. Blut bedeckte den Boden. Vorsichtig drehte Fidelma den Leichnam auf den Rücken. Überall war Blut. Jemand hatte Bruder Dianach die Kehle durchgeschnitten, ein langer, tiefer Schnitt hatte den Hals fast bis zur Rückseite durchtrennt.
Fidelma fielen die Lippen und das Zahnfleisch des toten Mönchs auf. Sie zeigten eine leichte bläuliche Verfärbung, die sie sich nicht erklären konnte. Offensichtlich hatte der Messerschnitt den Tod verursacht; die Wunde blutete noch. Angewidert befühlte sie die Haut. Sie war noch warm. Bruder Dianach war erst vor kurzem gestorben, wahrscheinlich zu der Zeit, als sie die Hütte betraten.
Sie sprang auf und suchte mit Blicken die Umgebung ab.
»Hast du jemanden gesehen, Rudgal?«
Der sah sie verwirrt an.
Fidelma wurde ungeduldig.
»Dianach ist gerade erst getötet worden, vielleicht in dem Moment, als wir in der Hütte waren. Sieh mal, der Schuppen ist klein, man muß sich bücken, um hineinzuschauen. Kann sein, daß sich Dianach darin versteckte, als wir uns der Hütte näherten. Sein Mörder muß ihn so überrascht und ihm die Kehle durchgeschnitten haben. Das war erst vor wenigen Augenblicken.«
Rudgal stieß einen leisen Pfiff aus.
»Ich ging um die Hütte herum, aber da war niemand. Erst als ich nach Spuren der Rinder zu suchen begann, sah ich plötzlich die Leiche.«
Eadulf war auf eine Steinmauer geklettert. Aufmerksam schaute er in die Runde.
»Kannst du etwas sehen?« fragte Fidelma.
Eadulf schüttelte enttäuscht den Kopf.
»Nein«, erwiderte er. »Es gibt hier herum so viele Rinnen und Mauern, daß sich jeder, der die Gegend kennt, leicht vor uns verbergen kann.«
»Und was ist mit den Rindern?«
»Ich kann sie nicht entdecken. Ein Mensch kann sich hinter einer Steinmauer verstecken, aber Rinder nicht, würde ich sagen.«
Ratlos wandte sich Fidelma wieder der Leiche zu.
»Warum wurde er umgebracht, frage ich mich?« sagte Rudgal. »Und was machte er überhaupt hier oben?«
»Als Artgal bei der Anhörung sagte, die Bestechungssumme sei ihm von jemand mit nördlichem Akzent angeboten worden, fuhr Dianach hoch«, überlegte sie laut. »Er sprang auf und bestritt, daß er es gewesen war.«
»Und Artgal bestätigte Dianachs Worte mit der Behauptung, er habe eine tiefere Stimme gehört, worauf Ibor von Muirthemne aus dem rath verschwand, ohne die logische Folgerung zu leugnen, daß er es war, der Artgal bestochen hatte«, rief Eadulf von der Mauer her. »Und jetzt ist Ibor aus dem Tal geflohen.«
»Wenn Ibor von Muirthemne nicht derjenige war, der versuchte, Artgal zu bestechen, warum hat er sich dann davongemacht?« fragte Rudgal.
Dieser Logik war nicht zu widersprechen. Eadulf sprang von der Mauer herab und trat zu ihnen.
»Außerdem, warum sollte Artgal überhaupt flüchten?« fragte er. »Laisres Zorn ist sicherlich nicht so furchtbar. Artgal hätte nach eurem Gesetz eine Strafe zahlen müssen, um seine Ehre wiederzuerlangen, aber das wäre doch besser, als vom Clan ausgestoßen zu werden und ein Leben lang heimatlos umherzuirren?«
Fidelma rieb sich nachdenklich das Kinn.
»Die Überlegung hat viel für sich, Eadulf. Ich fürchte, wir haben etwas übersehen. Haben die Rinder tatsächlich jemals existiert?«
»Die Frage verstehe ich nicht«, murmelte Rudgal. »Artgal hätte eine solche Geschichte doch nicht erfunden.«
»Denk mal drüber nach«, schlug ihm Fidelma vor. »Es hieß, Artgal habe zwei Milchkühe erhalten von ... Sagen wir einfach, von einem Mann mit nördlichem Akzent. Hat dieser Mann sie von einem Bauern in diesem Tal gekauft? Es ist klein, und die Nachricht von einem solchen Kauf müßte sich schnell herumgesprochen haben, denn Klatsch braucht keine Flügel, um weite Strecken zurückzulegen.«
»Vielleicht wurden sie von draußen ins Tal gebracht«, vermutete Eadulf.
»Dann gilt das gleiche. Ein Mann, der zwei oder drei Milchkühe ins Tal treibt, wäre kaum zu übersehen gewesen.«
Eadulf fing an, den Boden hinter der Hütte sorgfältig zu untersuchen.
Fidelma blickte Rudgal an. Der Krieger wartete geduldig auf Anweisungen.
»Ich meine, du solltest zum rath zurückgehen und Murgal berichten, was wir hier gefunden haben.«
»Wird Laisre nicht mit dir zürnen, weil du sein Verbot weiterer Nachforschungen in dieser Sache nicht beachtet hast?« fragte er.
»Das ist mein Problem«, versicherte ihm Fidelma. »Wichtiger ist, daß Dianach außerhalb von Laisres rath getötet wurde und der Mord somit ein Fall ist, für den ich zuständig bin. Mach dich rasch auf den Weg.«
Rudgal entfernte sich eilig den Berg hinunter in Richtung auf den rath.
Fidelma wandte sich Eadulf zu, der jetzt grübelnd auf der Steinmauer saß. Den Blick hatte er immer noch auf den Boden hinter der Hütte gerichtet.
»Was gibt es da Interessantes?« erkundigte sich Fidelma.
Eadulf schaute zögernd in ihre Richtung und zeigte dann auf den Boden.
»Mich beschäftigt das, was du gesagt hast. Wenn Artgal die Kühe nicht bekommen hat, warum sollte er dann die Geschichte erfinden? Wir müssen darüber nachdenken. Wenn jemand Artgal zwei Kühe gegeben hat, hat er sie jedenfalls nicht hier gehalten.«
»Woher weißt du das?«
»Hast du schon mal ein Stück Erde gesehen, auf dem Kühe gestanden haben?«
»Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst.«
»Sieh dir diesen Boden an, Fidelma. Wo sind hier Spuren von Rinderhufen - und wo sind die Kuhfladen, die sich nirgends verbergen lassen? Nein, selbst wenn Artgal die Kühe erst heute morgen vorfand und sie hier den Tag über gestanden hätten, würde man etwas davon sehen. Falls Artgal die Rinder wirklich besaß, hat er sie woanders untergebracht.«