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Fidelma ging durch die Seitentür in den Kräutergarten. Offensichtlich war Bruder Bardan nicht auf diesem Wege zurückgekehrt, denn der Riegel war auch jetzt nicht vorgeschoben. Sie begab sich sofort zu Abt Segdaes Zimmer und klopfte vorsichtig an. Der Abt saß in seinem hochlehnigen, geschnitzten Holzsessel vor dem Feuer, das Kinn in die Hände gestützt, und starrte gedankenverloren in die Flammen. Als sie eintrat, blickte er auf. »Was gibt’s Neues, Fidelma?« fragte er voller Hoffnung.
Fidelma mochte Segdae, den sie ihr Leben lang kannte und der ihr mehr ein Onkel war als nur ein geistlicher Beistand, nicht belügen.
»Nicht viel«, antwortete sie vorsichtig.
Sein Gesicht zog sich in die Länge.
»Immerhin«, fuhr sie fort, »glaube ich, daß ich die Antworten bereit habe, wenn die Brehons in ein paar Tagen in Cashel zusammentreten.«
Segdaes Miene hellte sich auf. »Du meinst, du weißt, wo die heiligen Reliquien Ailbes geblieben sind?«
»Dafür kann ich mich verbürgen«, erwiderte sie. »Aber noch darf es niemand erfahren. Sag keinem etwas davon, nicht einmal Bruder Madagan.«
Der Abt zögerte, ihr dieses Versprechen zu geben.
»Es geht um die Moral der ganzen Abtei, Fidelma. Kann ich der Gemeinschaft nicht wenigstens ein wenig Hoffnung machen?«
Fidelma schüttelte den Kopf. »Es sind so viele dunkle Mächte am Werk, die dieses Königreich zerstören wollen. Ich brauche dein feierliches Wort, daß du schweigst, Segdae.«
»Dann sollst du es natürlich haben.«
»Bruder Eadulf und ich kehren unverzüglich nach Cashel zurück, denn hier gibt es für uns nichts mehr zu tun. Ich würde es jedoch begrüßen, wenn du deine Reise nach Cashel erst morgen antrittst.«
Der Abt blickte sie überrascht an. »Warum muß ich dorthin?«
»Hast du das Protokoll vergessen, Segdae? Du bist der Comarb von Ailbe, der höchste Abt-Bischof von Muman. Wenn das Gericht in Cashel über eine so ernste Angelegenheit verhandelt, mußt du als der erste Bischof des Königs an seiner Seite sitzen.«
Segdae seufzte leise. »Ich hatte die Verhandlung ganz vergessen. Der Verlust der Reliquien und der Angriff auf Imleach hatten sie aus meinen Gedanken verdrängt. Dann ist da noch die Sache mit Bruder Bardan.«
»Was ist mit Bruder Bardan?« fragte sie harmlos.
»Er ist den ganzen Vormittag nicht gesehen worden. Erinnerst du dich, du hast mich gefragt, wo er sich aufhält? Er scheint verschwunden zu sein - genau wie Bruder Mochta.«
Fidelma preßte die Lippen zusammen. »Ich glaube nicht, daß beide unter den gleichen Umständen verschwunden sind. Auch das wird sich in Cashel sicher aufklären.«
»Sollte ich deinen Vetter Finguine verständigen? Seine Leute sind noch in der Stadt und helfen, die Schäden des Überfalls zu beseitigen.«
»Du kannst es Finguine sagen. Wenn ich ihn nicht sehe, bevor ich abreise, dann treffe ich ihn in Cashel bei der Verhandlung. Es ist traurig, daß hier soviel zerstört wurde.«
»Nun, es gibt auch kleine Lichtblicke. Bruder Ma-dagan hat eine große Menge von Silbermünzen gespendet, die helfen sollen, den Schaden wiedergutzumachen.« Er wies auf einen kleinen Beutel auf dem Tisch.
»Darf ich?« Fidelma nahm den Beutel und schüttete sich ein paar Münzen auf die Handfläche. Verwundert schaute sie sie an. »Wie kommt Madagan zu solchem Reichtum?« fragte sie.
»Ich glaube, er sagte etwas von einem Verwandten aus dem Norden.« Segdae nahm das offenbar nicht so wichtig. »Bist du wirklich sicher, daß du eine Lösung für alle die Rätsel hast?« drang er in sie.
Fidelma tat die Münzen wieder in den Beutel und legte ihn auf den Tisch.
»Du kennst mich doch, Segdae, und weißt, daß ich mir immer erst im nachhinein sicher bin. Denke an den ersten Korintherbrief, Kapitel zehn, Vers zwölf.«
Fidelma wußte, daß Segdae absolut bibelfest war.
»Darum, wer sich läßt dünken, er stehe, mag wohl zusehen, daß er nicht falle«, zitierte er aus dem Gedächtnis.
»Deshalb will ich mich nicht festlegen, aber ich kann sagen, daß aller Wahrscheinlichkeit nach sich die Probleme lösen werden.«
»Du hast dir deinen Ruf nicht umsonst erworben«, meinte Segdae. »Wann wollt ihr, du und unser angelsächsischer Bruder, aufbrechen?«
»Ich mache mich sofort auf den Weg. Sei ohne Sorge, Segdae, alles wird gut werden - am Ende.«
»Ich werde also zum Tag der Verhandlung nach Cashel kommen.«
»Bring Bruder Madagan mit. Seine Aussage werde ich vielleicht brauchen.«
»Brauchst du auch Bruder Bardan, falls er zu finden ist?«
»Falls er zu finden ist«, wiederholte Fidelma.
Segdae erhob sich und reichte ihr die Hand. »Wo ist unser angelsächsischer Bruder?«
»Ich treffe ihn unterwegs«, erwiderte Fidelma hastig. »Leb wohl, Segdae. Wir sehen uns in Cashel wieder.«
Sie ging in das Gästehaus und verstaute ihre wenigen Habseligkeiten in ihren Satteltaschen. Eadulf war nach dem Aufbruch der Pilger in ein Zimmer neben ihr umgezogen. Rasch hatte sie auch seine Satteltaschen gepackt. Auch seinen Pilgerstab nahm sie mit, der ihm so lieb geworden war. Sie war froh, daß Schwester Scothnat nicht in der Nähe war, denn sie wollte ihr nicht erklären müssen, was sie vorhatte.
Sie ergriff die Taschen und machte sich auf den Weg zu den Ställen.
Bruder Tomar war wie immer bei der Arbeit, er fütterte die Pferde.
»Verlaßt ihr uns?« fragte er sofort mit einem Blick auf die Satteltaschen.
»Für eine Weile«, erklärte Fidelma leichthin. »Würdest du mir wohl helfen, unsere Pferde zu satteln, meins und das unseres angelsächsischen Bruders.«
Bruder Tomar ließ den Futtersack stehen und sah sie mit schiefgelegtem Kopf an.
»Das Pferd des Angelsachsen auch?« erkundigte er sich.
»Ja. Wenn du Bruder Eadulfs Pferd dort satteln würdest, mache ich inzwischen meins fertig.«
»Ihr reist also beide ab?«
»Ja«, antwortete sie geduldig.
»Ist das Rätsel des Verschwindens von Bruder Mochta denn gelöst?«
»Wir werden mehr wissen, wenn in ein paar Tagen die Brehons in Cashel zusammentreten«, erwiderte sie und warf ihrem Pferd die Zügel über den Kopf. Sie zog die Riemen fest und legte dem geduldigen Tier den Sattel auf.
Widerwillig begann Tomar auch Eadulfs Pferd aufzuzäumen.
»Wie ich hörte, ist der Anwalt der Ui Fidgente schon auf dem Wege nach Cashel.«
Deshalb also hatte sie Solam am Vormittag nicht mehr gesehen. Fidelma verbarg ihre Überraschung.
»Tatsächlich? Ich dachte, er wollte hier in Imleach noch einiges herausfinden, ehe er nach Cashel weiterreiste.«
Bruder Tomar kicherte höhnisch.
»Das wäre ihm wohl schwergefallen bei all dem Groll hier gegen die Ui Fidgente. Nein, er mußte sich Schutz vom Fürsten von Cnoc Äine erbitten, damit er überhaupt weiter konnte. Ich sah ihn erst vor einer Stunde in Begleitung Finguines von hier wegreiten.«
»Heißt das, Finguine persönlich gibt Solam das Geleit auf dem Wege nach Cashel?«
Bruder Tomar kicherte wieder. »Allein würde er wohl kaum bis zum Brunnen von Ara kommen. Ich glaube, Finguine fürchtet, Solam könnte in einen Hinterhalt geraten.«
»Wie kommst du darauf?« fragte Fidelma den Pferdewärter, nun ganz Ohr.
»Finguine und Solam sagten beim Aufbruch, sie wollten nach Cashel, schlugen aber dann den Weg nach Norden ein. Der Weg nach Cashel geht gerade nach Osten. Ich glaube, Finguine macht mit Solam einen Umweg, um die direkte Straße zum Brunnen von Ara und nach Cashel zu meiden.«
Fidelma überlegte einen Moment, dann fuhr sie fort, ihr Pferd zu satteln.
»Bist du sicher, daß sie nach Cashel wollten?« fragte sie.
Bruder Tomar lächelte nachsichtig. »Solam hat mir selber gesagt, sein Reiseziel sei Cashel.«
Fidelma äußerte sich nicht dazu. Was Solam Bruder Tomar erzählt hatte, mußte nicht stimmen. Unverständlich war für sie, daß Finguine Solam persönlich begleitete und diese Aufgabe nicht einigen seiner Krieger überließ.
Schweigend prüfte Fidelma, ob die Satteltaschen festgeschnallt waren und Eadulfs Stab an seinem Sattel befestigt war. Bruder Tomar führte Eadulfs Pferd aus dem Stall heraus.
»Wo ist denn der Angelsachse?« fragte er und sah sich suchend um.
»Ich treffe mich mit ihm in der Stadt«, log Fidelma rasch und rechtfertigte sich im stillen mit dem Sprichwort minima de malis - wähle das geringere von zwei Übeln. Sie wollte Bruder Tomar auf keinen Fall wissen lassen, was sie vorhatte.
Sie führte ihre Stute aus dem Stall, saß auf und nahm die Zügel von Eadulfs Pferd. Sie verabschiedete sich von Bruder Tomar, der ihr von der Stalltür aus neugierig zusah, und ritt im Schritt über den Hof und durch das Tor. Sie war froh, daß außer Bruder Tomar niemand ihre Abreise beobachtete. Draußen ließ sie die Pferde in Trab fallen und überquerte die Rasenfläche vor der Stadt. Einwohner und einige von Fingui-nes Kriegern waren noch dabei, Trümmer zu beseitigen.
Im Ort ließ sie die Pferde wieder im Schritt gehen. An der Schmiede bog sie in eine Nebengasse ein, um sich Späherblicken zu entziehen. Nion, der bo-aire und Schmied, war mit seinem Gehilfen Suibne beim Aufräumen. Er hob den Kopf und schaute ihr nach, aber sie tat so, als sähe sie ihn nicht. Ihr gefiel die Art nicht, wie er sie anstarrte. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, daß er etwas zu seinem Gehilfen sagte und davoneilte. Rasch ritt sie die Hauptstraße entlang auf die ausgebrannten Reste von Creds Herberge zu und dann durch eine Nebenstraße auf das offene Feld hinaus. Sie wählte ihren Weg sorgfältig.
Erst ritt sie in eine Richtung, die vom Ort und von dem Hill of the Cairn, wo sie sich mit Eadulf und Mochta treffen wollte, wegführte. Wer sie von der Abtei oder dem Ort aus beobachtete, würde wahrscheinlich annehmen, sie behielte diese Richtung bei. Es lag offenes Wiesengelände zwischen dem Ort und dem umgebenden Wald, und erst im Schutze der Bäume wollte sie im Halbkreis zu dem vereinbarten Treffpunkt gelangen.
Sobald sie in den Schutz des Waldes eingetaucht war, ließ sie auf einem schmalen Pfad ihre Stute wieder in Trab fallen, und Eadulfs Pferd lief fügsam hinterdrein. Sie war sich nicht sicher, ob sie gesehen worden war. Erst nach zehn Minuten ging sie wieder in Schritt über und erlaubte sich einen Blick zurück. Zwischen Bäumen und Büschen hindurch konnte sie den Ortsrand noch erkennen. Stadt und Abtei lagen beinahe verlassen da. Nichts regte sich dort. Fidelma entfuhr ein Seufzer der Erleichterung. Der Weg schien frei zu sein.
Sie ritt weiter auf dem Pfad und setzte zu dem Halbkreis an, der sie zum Hill of the Cairn bringen sollte. Im Wald war es kalt und feucht. Sie fragte sich, ob hier wohl die Wölfe ihre Lager hätten, und erschauerte leicht. An die Gefahren jener Nacht wollte sie nicht erinnert werden.
Sie spürte die ständige Bewegung im Wald, das Hin und Her seiner Bewohner, vom verstohlenen Trippeln der kleineren Tiere bis zum Knacken der Zweige, das das Rotwild verriet. Aus den höheren Zweigen vernahm sie das vielstimmige Konzert der Vögel.
Sie ritt so schnell, wie es der Weg erlaubte, kreuzte hin und wieder einen flachen Bachlauf und kam schließlich an einen schmalen Streifen Wiese. Sie wollte schon aus dem Wald hinaus auf die Wiese reiten, als sie einen anderen Ton hörte, der sich von den Waldgeräuschen abhob. Es war der Klang von Hufen, beschlagenen Hufen. Sie kamen rasch näher. Schnell trieb sie die Pferde zurück in den Wald und sah sich nach einer Deckung abseits vom Wege um.
Sie fand ein geeignetes Dickicht ganz in der Nähe, glitt aus dem Sattel und band die Zügel beider Pferde an Ästen fest. Dann schlich sie sich geduckt an den Weg zurück.
Ein halbes Dutzend Reiter erschien am Rande des Waldes und hielt an der Mündung des Weges, auf dem sie gekommen war.
Beim Anblick der beiden vordersten Reiter wollte sie ihren Augen kaum trauen.
Der eine war Solam, der dalaigh der Ui Fidgente, der andere ihr Vetter Finguine, der Fürst von Cnoc Äine. Die vier anderen Männer waren offensichtlich Krieger Finguines.
»Na?« hörte sie Solams hohe, quengelnde Stimme. »Haben wir nun ihre Spur verloren oder nicht?«
Die Stimme ihres Vetters klang ebenfalls angespannt und gereizt. »Mach dir keine Sorgen. Ich kenne mich hier aus. Es gibt nur wenige Stellen, an denen sie sich verstecken können. Wir werden sie schon finden.«
Ein eisiger Schauer durchlief Fidelma.
Wen mochten sie wohl meinen? Wieso hielt Fin-guine mit Solam zusammen, wo er doch behauptete, ihm zu mißtrauen, und die Ui Fidgente für den Überfall auf Imleach verantwortlich machte? Wäre ihr Fin-guine allein mit seinen Kriegern begegnet, hätte sie ihn zweifellos angesprochen und ihm alles über Bruder Mochta berichtet. Doch warum hatte er Solam bei sich?
»Nun, je eher wir diesen Mönch finden - wie heißt er doch gleich? - Mochta? -, desto schneller sind wir hier fertig«, fauchte Solam. »Den Schlüssel bilden die heiligen Reliquien, daran habe ich keinen Zweifel.«
Fidelmas Augen weiteten sich.
»Wir durchsuchen zuerst die Höhlen im Süden. Dann gibt es noch eine Höhle im Hill of the Cairn im Norden«, antwortete ihr Vetter.
Er hob die Hand, und der Reitertrupp setzte sich wieder in Bewegung.
Fidelma verharrte einige Augenblicke und versuchte zu verstehen, was sie da eben gehört hatte.
Dann erhob sie sich und eilte zu den Pferden zurück. Aus irgendeinem ihr unbekannten Grunde schien ihr Vetter, der Fürst von Cnoc Äine, nach Bruder Mochta zu suchen. Sie fragte sich, ob Eadulf Mochta schon den Berg hinunter in den Schutz des Waldes am Fluß Ara gebracht hatte. Finguine und So-lam durften die Höhle im Hill of the Cairn nicht vor ihr erreichen. Zum Glück hatte Finguine vorgeschlagen, zuerst die Höhlen im Süden abzusuchen, wo die auch sein mochten. Das gab ihr Zeit, früher als sie zu Mochta und Eadulf zu gelangen.
Fidelma drückte ihrem Pferd die Hacken in die Flanken und ritt im Trab über die Wiese und um den Wald herum auf den Berg zu. Sie dachte über Fingui-ne und über Bruder Mochta nach und darüber, wie er von seinem Bruder verraten worden war. Was hatte er doch gesagt? Blut verbindet nicht zu gemeinsamen Zielen. Sie ritt am Fuße des Berges entlang zu seiner Ostseite, an der sich ein weiterer Waldstreifen durch das Tal bis zum Brunnen von Ara hinzog.
In einiger Entfernung sah sie Eadulf und Mochta den Berg herabkommen. Eadulf trug das Reliquiar unter dem einen Arm, und mit dem anderen stützte er Bruder Mochta, der ihm den Arm um die Schulter gelegt hatte und nur mühsam vorankam.
Mit einem lauten Ruf machte Fidelma sie auf sich aufmerksam. Die beiden blieben stehen, erkannten sie und setzten ihren Weg fort.
Fidelma trieb die Pferde den steilen Abhang so weit empor, wie es möglich war, und wartete dann auf die beiden. Sie war abgestiegen und hielt die Pferde fest. Es dauerte eine Weile, bis Eadulf und Mochta sie erreichten.
»Puh!« keuchte Eadulf, als sie herankamen. »Ich könnte eine Pause gebrauchen.«
Bruder Mochta wollte sich schon vorsichtig setzen, doch Fidelma schüttelte den Kopf.
»Nicht hier. Wir müssen so schnell wie möglich in den Schutz des Waldes da unten gelangen.«
»Warum?« fragte Eadulf, verwundert über ihren scharfen Ton.
»Weil Reiter unterwegs sind und nach Bruder Mochta und den heiligen Reliquien suchen.«
Bruder Mochta blinzelte. »Ui Fidgente?« keuchte er.
»Einer davon«, gab Fidelma zu. »Solam.«
Eadulf verstand ihre Einschränkung. »Und die anderen?«
»Mein Vetter begleitet Solam.«
Eadulf wollte noch eine Bemerkung machen, aber Fidelma schwang sich schon in den Sattel.
»Gib mir das Reliquiar«, befahl sie. »Das nehme ich. Bruder Mochta muß vor dir aufsitzen, Eadulf. So kannst du ihn stützen. Wir können weiterreden, wenn wir diese offene Gegend verlassen haben.«
Eadulf schwieg, reichte Fidelma das Reliquiar und half Bruder Mochta in den Sattel seines Pferdes. Dann kletterte er selbst hinauf. Eadulf war kein gewandter Reiter und stieg nicht eben elegant auf. Ziemlich ungeschickt lenkte er sein geduldiges junges Pferd hinter Fidelma her den Berghang hinunter in den Schutz des Waldes, den der Fluß durchzog, aber es ging.
Fidelma hielt nicht sofort an, als sie unter das Dach der Bäume kamen, sondern ritt noch ein Stück weiter. Nach ungefähr einer Meile erreichten sie eine Lichtung am Fluß, und hier stieg Fidelma ab und führte ihr Stute ans Ufer. Dann half sie Eadulf, Bruder Mochta vom Pferd zu heben. Dankbar sank der Mönch ins Gras.
»Willst du damit behaupten, der Fürst gehöre auch zu den Verschwörern?« keuchte er sofort und massierte sein Bein.
»Ich behaupte nichts dergleichen«, erwiderte Fi-delma ruhig. »Ich sage lediglich, daß er und Solam mit einigen seiner Krieger offenbar nach dir und den heiligen Reliquien fahnden. Sie wollen die Höhlen absuchen.«
Eadulf machte eine zornige Geste. »Aber das bedeutet doch, daß er mit den Ui Fidgente verbündet ist, mit Armagh und mit den Ui Neill! Dein eigener Vetter hat seinen König verraten.«
»Es bedeutet, daß er und Solam nach Bruder Moch-ta suchen«, erwiderte Fidelma spitz. »Fälle keine Urteile, bevor du nicht alle Zusammenhänge kennst. Erinnerst du dich nicht an meine Grundsätze?«
Eadulf hob trotzig den Kopf. »Du möchtest nicht zugeben, daß dein Vetter eines solchen Verrats schuldig ist. Aber welche anderen Schlüsse soll man aus dem ziehen, was du sagst?«
»Man kann verschiedene Schlüsse daraus ziehen, aber es ist zwecklos, darüber zu spekulieren. Spekulieren, ohne über alle Vorgänge voll im Bilde zu sein, ist das Schlimmste, was man tun kann, das habe ich schon oft gesagt. Wenn man das macht, verdreht man die Tatsachen so, daß sie in die vorgefaßte Theorie passen.«
Eadulf verfiel in ein grollendes Schweigen.
Bruder Mochta streckte seine schmerzenden Glieder und schaute unsicher zu Fidelma auf. »Also, Schwester, was hast du als nächstes vor?«
Fidelma betrachtete Bruder Mochta einen Moment und faßte dann einen Entschluß.
»Ich glaube nicht, daß du in diesem Zustand heute noch viel weiter reiten kannst. Wir sehen zu, daß wir es bis zum Brunnen von Ara schaffen, und ruhen uns dort aus. Dem Gastwirt dort kann ich vertrauen. Dann geht es in kurzen Etappen weiter nach Cashel.«
Sie erreichten Aonas Gasthaus bei Einbruch der Nacht. Fidelma bestand darauf, daß sie sich ihm nicht auf direktem Wege näherten, sondern von der Rückseite her. Die Hunde waren noch festgemacht, aber man konnte sie schon bellen und an ihren Leinen zerren hören. Als sie an der Hintertür des Gasthauses standen, öffnete sich diese. Eine Stimme rief sie an und wollte wissen, wer sich da so heimlich heranschlich.
Es war Aona, wie Fidelma zu ihrer Beruhigung sofort bemerkte.
»Ich bin’s, Fidelma, Aona.«
»Lady?« fragte er verblüfft, weil sie so leise geantwortet hatte.
Der Gastwirt kam heraus und hielt ihr Pferd am Zügel, während sie abstieg. Dann befahl er den Hunden, still zu sein. Sie verfielen in unwilliges Jaulen.
»Aona, hält sich heute abend noch jemand im Gasthaus auf?« fragte Fidelma.
»Ja, ein Kaufmann und seine Kutscher. Sie sind beim Abendessen.« Er spähte ins Dunkel, wo Eadulf und Mochta noch auf ihrem Pferd saßen. »Ist das der angelsächsische Bruder?«
»Hör zu, Aona, wir brauchen Zimmer für die Nacht. Es darf aber niemand erfahren, daß wir hier sind. Verstehst du mich?«
»Ja, Lady. Es wird so gemacht, wie du es wünschst.«
»Haben deine Gäste gehört, daß jemand gekommen ist?«
»Das glaube ich nicht. Sie machen großen Lärm beim Essen. Sie haben dem Ale tüchtig zugesprochen.«
»Gut. Können wir in ein Zimmer gelangen, ohne daß der Kaufmann oder ein anderer uns sieht?«
Aona überlegte einen Moment und nickte dann. »Kommt mit mir direkt zum Stall. Darüber gibt es einen Raum, der nur in Notfällen benutzt wird, wenn das Haus überfüllt ist - was eigentlich nie vorkommt. Der Raum ist sehr spartanisch eingerichtet, aber dort stört euch niemand.«
»Ausgezeichnet«, erklärte Fidelma zufrieden.
Aona merkte, daß Bruder Mochta verletzt war, als Eadulf sich bemühte, ihn vom Pferd zu heben. Er ging hin und half ihm. Fidelma legte ihm warnend die Hand auf den Arm.
»Keine Fragen, Aona. Es geht um die Sicherheit des Königs von Muman. Mehr sage ich dir nicht. Laß niemanden wissen, daß wir hier sind, besonders die Gäste nicht.«
»Du kannst dich auf mich verlassen, Lady. Führt eure Pferde in den Stall. Hier entlang.«
Er half Eadulf, Bruder Mochta zum Stall zu bringen, während Fidelma die Pferde führte. Zwei schwere Frachtwagen standen im Hof vor den Ställen. Aona zündete eine Lampe an, und Fidelma stellte die Pferde in verschiedenen Boxen ein.
»Ich kümmere mich gleich um die Tiere«, sagte Aona. »Aber erst zeige ich euch euren Schlafraum.«
Er half Bruder Mochta die schmale Treppe hoch, die auf den Dachboden führte. Sie kamen in einen einfachen Raum mit vier Bettgestellen, auf denen Strohsäcke lagen. Es gab noch ein paar Stühle, einen Tisch und weiter nichts. Alles war mit Staub bedeckt.
»Wie gesagt«, bemerkte Aona entschuldigend und zog ein Stück Leinwand vor das Fenster, »der Raum wird kaum benutzt.«
»Für diesmal genügt er uns«, versicherte ihm Fidelma.
»Ist dein Gefährte schwer verletzt?« erkundigte sich Aona und wies auf Bruder Mochta. »Soll ich einen verschwiegenen Arzt holen?«
»Nicht nötig«, erwiderte Fidelma. »Mein Begleiter ist medizinisch ausgebildet.«
Aona hob plötzlich die Lampe und leuchtete Bruder Mochta ins Gesicht. Seine Augen weiteten sich.
»Ich kenne dich«, meinte er. »Ja, du bist derselbe Mann, nach dem Schwester Fidelma gefragt hat. Aber ...« - verwirrt hielt er inne - »als du vorige Woche hier warst, hattest du doch eine andere Tonsur. Das kann ich beschwören.«
Bruder Mochta unterdrückte ein Stöhnen. »Weil ich vorige Woche gar nicht hier war, Wirt.«
»Aber ich kann beschwören .«
Fidelma unterbrach ihn mit einem beruhigenden Lächeln. »Das ist eine lange Geschichte, Aona.«
Der Wirt entschuldigte sich. »Keine Fragen, Lady, ich weiß.«
Er öffnete einen Schrank und nahm ein paar Dek-ken heraus.
»Wie gesagt, dieser Raum wird nur benutzt, wenn das Gasthaus voll ist, was kaum jemals vorkommt. Er ist sehr einfach.«
»Besser hier als auf der Heide schlafen«, meinte Ea-dulf.
Fidelma nahm den Wirt beiseite und gab ihm Anweisungen.
»Sobald du unsere Pferde versorgt hast, möchten wir etwas zu essen und zu trinken. Kannst du das einrichten, ohne daß jemand etwas davon merkt?«
»Das mache ich. Ich muß aber meinen Enkel Adag einweihen. Er ist ein guter Junge und verrät euch nicht. Er ist meine rechte Hand hier im Gasthaus. Ich habe keine Frau mehr. Sie starb an der Gelben Pest im selben Jahr wie meine Schwiegertochter. Mein Sohn fiel im Krieg gegen die Ui Fidgente. So sind nur wir beide noch übrig und führen das Gasthaus.«
»Ich erinnere mich an Adag«, versicherte ihm Fi-delma. »Ihm kannst du auf jeden Fall von unserer Ankunft erzählen. Was sagtest du, wer sich noch im Gasthaus aufhält? Kaufleute?«
»Ein Kaufmann und zwei Kutscher. Ihnen gehören die Wagen da draußen. Übrigens ...« Er überlegte. »Den Kaufmann kennst du vielleicht, er ist aus Cas-hel.«
»Ist es etwa Samradan?« erkundigte sich Eadulf.
Aona sah ihn überrascht an. »Ja, genau der.«
»Dann erwähne auf keinen Fall, daß wir hier sind«, wies ihn Fidelma an.
»Sollte ich etwas über ihn wissen?« fragte Aona neugierig.
»Es ist einfach besser, wenn er nicht erfährt, daß wir hier übernachten«, erwiderte Fidelma.
»Hat das etwas mit dem Überfall auf die Abtei neulich nacht zu tun? Davon habe ich schon gehört.«
»Ich sagte, keine Fragen, Aona, und du warst einverstanden«, tadelte ihn Fidelma milde.
Der alte Krieger machte ein zerknirschtes Gesicht. »Vergib mir, Lady. Aber Samradan erzählte gerade von dem Überfall.«
»Ach? Was hat er denn gesagt?« Sie tat so, als sei sie mit dem Vorhang beschäftigt.
»Er beschrieb den Angriff und meinte, es seien die Ui Fidgente gewesen. Wie können sie nur so verräterisch handeln? Und das, während ihr Fürst sich als Gast deines Bruders in Cashel aufhält?«
»Wir wissen noch nicht mit Sicherheit, ob es die Ui Fidgente waren«, entgegnete Fidelma. »Wann ist Sam-radan denn angekommen?«
»Ein oder zwei Stunden vor euch, Lady.«
Fidelma schaute Eadulf an. »Das bedeutet, daß er nicht nach Norden gefahren sein kann. Interessant.«
Eadulf verstand nicht, was daran interessant sein sollte.
Aona öffnete den Mund zu einer Frage, überlegte es sich dann aber anders.
»Nun los, Aona«, befahl sie. »Wir brauchen eine Mahlzeit, sobald du kannst.«
Der Wirt stieg die Treppe hinunter.
»Und denke daran«, rief ihm Fidelma nach, »kein Wort, außer zu deinem Enkel.«
»Das schwöre ich auf das heilige Kreuz, Lady.«
Als er fort war, sah sich Eadulf Mochtas Schulter und Bein genauer an. Er war zwar kein ausgebildeter Arzt, doch seit seinem Medizinstudium führte er immer verschiedene Heilmittel bei sich.
»Na, die Wunden verheilen«, verkündete er. »Die Reise hat sie nicht verschlimmert. Bruder Bardan hat gute Arbeit geleistet. Sie werden noch eine Weile weh tun, aber sie heilen gut. Ich brauche die Verbände nicht zu wechseln.«
Bruder Mochta zwang sich zu einem Lächeln. »Die Reise hat aber meine Laune verschlimmert, mein angelsächsischer Freund. Ich habe das Gefühl, man hätte mich über Steine geschleift.«
Fidelma hatte einen Kerzenstummel entdeckt, den sie an der Lampe, die Aona ihnen dagelassen hatte, entzündete.
»Was hast du vor?« fragte Eadulf, als sie mit der Kerze in der Hand zur Treppe ging.
»Ich bin einfach neugierig, womit Samradan handelt«, antwortete sie. »Ich schau mir mal die Wagen an.«
Eadulf mißfiel das. »Ist das klug?« fragte er.
»Die Neugier ist manchmal mächtiger als die Klugheit. Kümmere dich um Bruder Mochta, bis ich zurück bin.«
Eadulf schüttelte mißbilligend den Kopf, als sie nach unten verschwand.
Aona war nicht im Stall, und die Pferde waren noch nicht abgesattelt. Wahrscheinlich gab er gerade Adag seine Anweisungen.
Fidelma trat hinaus auf den Hof, der nun in Dunkelheit lag bis auf die Laterne, die nach dem Gesetz den Standort des Gasthauses bezeichnete. Die Wolken hatten den Einbruch der Nacht beschleunigt. Dort standen die beiden schweren Wagen, mit Planen abgedeckt, um die Ladung vor Regen zu schützen. Sie ging um die Wagen herum. Die Planen waren mit Lederriemen verschnürt. Sie stellte die Kerze auf ein Rad, in der Hoffnung, der Wind würde sie nicht ausblasen, und löste einen der Riemen. Dann schob sie die Abdeckung beiseite.
Im Kerzenlicht erkannte sie eine Reihe von Schürf-werkzeugen, Spaten, Spitzhacken und ähnliches. Dann stieß sie auf Ledersäcke, die anscheinend mit Gesteinsbrocken gefüllt waren. Sie holte ein paar Stücke heraus und untersuchte sie. Das Kerzenlicht gab nichts preis. Sie legte sie wieder zurück und schaute in einen anderen Sack. Er enthielt Metallbrocken. Als sie einen herausnahm, glitzerte er in der Hand.
Also waren Samradan und seine Männer nicht nur Kaufleute? Sie hatte den Verdacht, sie sei etwas Unrechtem auf der Spur. Das war Silbererz. Mißbilligend schob sie es in den Sack zurück.
»Was machst du da?«
Die Stimme riß Fidelma aus ihren Gedanken, und mit heftig klopfendem Herzen fuhr sie herum.
Ein kleiner Junge stand da mit einer Laterne in der Hand.
Fidelma wurde sichtlich wohler, als sie ihn erkannte.
»Hallo Adag«, begrüßte sie Aonas Enkel. »Erinnerst du dich noch an mich?«
Der Junge nickte langsam.
Fidelma brachte die Lederplane in Ordnung und verschnürte sie wieder. Dann trat sie von dem Wagen fort.
»Du hast noch nicht gesagt, was du da machst«, be-harrte der Junge.
»Nein«, gab Fidelma zu, »das habe ich noch nicht.«
»Du hast was gesucht«, bemerkte der Junge mißbilligend. »Es gehört sich nicht, daß man in den Sachen anderer Leute stöbert.«
»Es gehört sich auch nicht, die Sachen anderer Leute zu stehlen. Ich habe nachgeschaut, was auf diesen Wagen ist, um festzustellen, ob auch alles den Leuten gehört, die sie fahren. Dein Großvater hat mir gesagt, daß du ein Geheimnis für dich behalten kannst. Stimmt das?«
Der Junge sah sie verächtlich an. »Natürlich stimmt das.«
Fidelma blickte den Kleinen mit großem Ernst an. »Dein Großvater hat dir auch gesagt, daß du mit keinem Wort irgend jemandem verraten darfst, daß ich und meine Gefährten hier sind. Besonders nicht den Männern im Gasthaus?«
Der Junge nickte feierlich. »Du hast mir aber immer noch nicht gesagt, was du auf den Wagen gesucht hast, Schwester.«
Fidelma schlug einen verschwörerischen Ton an. »Die Männer im Gasthaus deines Großvaters sind Räuber. Deshalb habe ich in ihre Wagen geschaut. Ich suche Beweise. Dein Großvater wird dir bestätigen, daß ich nicht nur eine Schwester, sondern auch eine dalaigh bin.«
Der Junge machte große Augen. Wie Fidelma es sich gedacht hatte, wurde er eher zu einem Verbündeten, wenn man ihn in das Geheimnis der Erwachsenen einweihte, als wenn man ihm einfach sagte, er solle sich um seine eigenen Sachen kümmern.
»Soll ich sie beobachten, Schwester?«
Fidelma blieb ernst. »Ich glaube, du bist der beste Mann dafür. Aber verrate ihnen nicht, daß wir sie im Verdacht haben.«
»Natürlich nicht«, versicherte ihr der Junge.
»Beobachte sie nur und komm und sag mir Bescheid, wann sie das Gasthaus verlassen und welche Richtung sie einschlagen. Tu es heimlich, ohne daß sie es merken.«
»Sobald sie aufbrechen?«
»Ja, ganz gleich zu welcher Zeit.«
Der Junge lächelte glücklich. »Du kannst dich auf mich verlassen, Schwester. Jetzt muß ich aber eure Pferde absatteln. Großvater macht inzwischen das Essen für dich und deine Freunde.«
Als Fidelma Eadulf und Bruder Mochta davon berichtete, fragte Eadulf: »Ist es klug, den Jungen da hineinzuziehen?«
Bruder Mochta fügte ängstlich hinzu: »Bist du sicher, daß er sich nicht verrät?«
»Ja, bin ich. Er ist ein schlauer Bursche. Ich muß wissen, wann Samradan morgen mit seinen Wagen von hier wegfährt.«
»Warum hast du dem Jungen gesagt, sie wären Räuber?« fragte Eadulf.
»Weil es stimmt«, versicherte ihm Fidelma. »Weißt du, was ich auf den Wagen gefunden habe? Schürfwerk-zeuge und Säcke mit Erz. Was sagt dir das, Eadulf?«
Der Angelsachse schüttelte verständnislos den Kopf.
»Steine ... Erz ... Bergwerksgerät!« half ihm Fidel-ma auf die Sprünge. Endlich begriff Eadulf.
»Du meinst, die bauen das Silber in den Höhlen ab?«
»Genau. Ich hatte davon gehört, daß es weiter südlich von hier Bergwerke gibt, aber ich wußte nicht, daß man in diesen Bergen hier Silber findet, bis wir es entdeckten. Wem die Silberader auch immer gehört, Samradan jedenfalls nicht. Er beutet sie unrechtmäßig aus, so lauten die Urteile im Senchus Mor.«
Bruder Mochta stieß einen leisen Pfiff aus. »Hat Samradan auch etwas mit dem übrigen Teil des Rätsels zu tun?« fragte er.
»Das weiß ich noch nicht«, gestand Fidelma. »Als erstes müssen wir jetzt etwas essen, und danach sehen wir, was sich noch machen läßt. Ich hoffe, Aona bringt uns bald unsere Mahlzeit.«
Es war noch stockdunkel, da wurde Fidelma aus dem Schlaf gerüttelt. Mühsam kam sie zu sich und schaute blinzelnd in das aufgeweckte Gesicht Adags.
»Was ist?« murmelte sie verschlafen.
»Die Räuber«, zischte der Junge. »Sie sind weg.«
»Die Räuber?«
»Die Männer mit den Wagen«, erklärte er ungeduldig.
Jetzt war Fidelma hellwach. »Ach so. Wann sind sie aufgebrochen?«
»Vor ungefähr zehn Minuten. Ich bin nur wach geworden, weil ich ihre Wagenräder übers Steinpflaster der Straße da draußen hab rumpeln hören.«
Fidelma blickte auf ihre friedlich schlummernden Gefährten.
»Wenigstens du hast aufgepaßt, Adag«, lächelte sie. »Wir haben nichts mitbekommen. In welche Richtung sind sie gefahren?«
»Sie nahmen die Straße nach Cashel.«
»Schön. Das hast du gut gemacht, Adag, und . « Sie hielt inne.
Draußen auf dem Hof war Hufschlag zu hören. »Kommen sie etwa zurück?« fragte sie Adag rasch.
Eadulf wälzte sich im Schlaf herum, wachte aber nicht auf. In dem Moment wurde Fidelma klar, daß der Hufschlag nicht von Tragtieren oder Zugpferden kam, sondern von den beschlagenen Hufen von Streitrossen.
Schnell erhob sie sich von ihrem Strohsack und trat zum Fenster, hielt sich aber verborgen und lüftete nur eine Ecke des Vorhangs.
Im Hof bewegten sich die Schatten von sieben Reitern. Im schwachen, unruhigen Licht der Gasthauslaterne, die die ganze Nacht brennen mußte, erkannte sie mit stockendem Atem das spitze, vogelartige Gesicht Solams und ihren Vetter Finguine. Sie wurden von vier Kriegern begleitet. Das Gesicht des siebenten Mannes blieb undeutlich. Als sie Finguine zuletzt sah, hatte sein Trupp nur aus sechs Mann bestanden.
»Adag«, flüsterte sie dem Jungen zu, »geh mal runter und frag, was sie wollen. Antworte ihnen ehrlich, aber sage ihnen auf keinen Fall, daß wir hier sind. Schwörst du das auf Leben und Tod?«
Der Junge nickte und ging gehorsam los.
Sie kehrte zum Fenster zurück und spähte durch den Spalt des Vorhangs hinunter. Sie hörte, wie ihr Vetter Finguine sagte: »Es ist klar, daß sie nicht hier sind, So-lam. Es lohnt sich nicht, den Gastwirt zu wecken.«
»Besser, man vergewissert sich, als daß man von einer Vermutung ausgeht, die falsch sein kann«, erwiderte der Anwalt der Ui Fidgente.
»Na gut.« Er wandte sich an einen seiner Männer. »Hol den Gastwirt und . nein, warte, da kommt jemand.«
Adag kam aus dem Stall heraus, und Fidelma sah, wie er sich den Reitern näherte.
»Kann ich euch helfen, Lords?« fragte er mit vor Stolz hoher Stimme.
»Wer bist du denn, mein Junge?« wollte Solam wissen.
»Ich bin Adag, der Sohn des Gastwirts hier.«
Eadulf richtete sich auf seiner Matratze auf.
»Was ist ...?« fragte er.
Fidelma legte rasch den Finger an die Lippen. Als sie wieder aus dem Fenster schaute, sah sie, wie der Junge auf die Straße nach Cashel zeigte.
»Du hast uns sehr geholfen, Junge«, sagte Finguine. »Hier, das ist für dich!«
Eine Münze blinkte in der Luft.
Adag fing sie geschickt auf.
Finguine stieß seinem Pferd die Sporen in die Weichen, und der ganze Trupp trabte vom Hof und in Richtung Cashel davon. Erst da erfaßte Fidelmas Blick im Lampenlicht für einen Moment das Gesicht des siebenten Reiters. Es war Nion, der bo-aire von Imleach.
Fidelma zog den Vorhang zu und seufzte tief auf.
»Was geht denn vor?« wollte Eadulf wissen.
Sie schaute auf den schlafenden Bruder Mochta und dann zur Treppe, die Adag mit strahlendem Gesicht heraufgestürmt kam.
»Sie sind nach Cashel losgeritten, Schwester«, verkündete er atemlos.
»Was wollten sie denn?«
»Sie wollten wissen, ob sich diese Nacht jemand im Gasthaus aufhalte. Ich hab ihnen gesagt, es wären ein paar Männer mit Wagen dagewesen, die nach Cashel weitergefahren sind. Von dir und deinen Freunden hab ich nichts gesagt. Die Reiter bedankten sich und ritten in Richtung Cashel weiter. Sie interessierten sich anscheinend sehr für die Wagen.«
Eadulf schaute verwundert zwischen ihr und dem Jungen hin und her.
»Die Reiter waren Finguine und Solam«, erläuterte Fidelma langsam. »Und Nion war bei ihnen.«