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Die Große Halle von Cashel war gedrängt voll, als Fi-delma und Eadulf eintraten. Jedermann war festlich gekleidet. Selbst Eadulf hatte seine beste Kutte angelegt und trug den Pilgerstab bei sich, mit dem er nun seinen Status hervorhob. Diese Eigenheit gönnte er sich.
Eadulf lächelte Fidelma zu, als er sich abwandte und den Plätzen zustrebte, die den bloßen Beobachtern vorbehalten waren. Dem korrekten Verfahren wurde an irischen Gerichtshöfen große Bedeutung beigemessen, und Eadulf hatte inzwischen Einblick in vieles erlangt, was ihm früher ein Rätsel gewesen war.
Fidelma ging zur Mitte der Halle und nahm ihren Platz neben Solam ein, dem dalaigh der Ui Fidgente. Dieser saß neben Donennach, seinem Fürsten. Die streitenden Parteien saßen immer mit ihren Anwälten im airecht airnaide, dem Hof des Wartens.
Ihnen gerade gegenüber standen drei Stühle hinter einem langen, niedrigen Tisch, auf dem verschiedene Gesetzbücher lagen. Diese Stühle waren für die Bre-hons oder Richter reserviert. Sie bildeten den airecht, den Gerichtshof. Hinter den Stühlen der Richter hatte auf einem Podium an der Schmalseite der Halle Colgü in seinem reich verzierten Amtssessel Platz genommen. Rechts von ihm saß Segdae, nicht als Abt, sondern als Bischof und Comarb von Ailbe, dem ersten Apostel des Glaubens in Muman. Zu seiner Linken saß Colgüs ollamh Cerball, sein oberster Barde und Ratgeber. Diese drei, die Männer von höchstem Rang im Königreich, galten als der cül-airecht, der rückwärtige Gerichtshof, der darüber wachte, daß Recht gesprochen wurde.
Zur Rechten des Königsstuhls standen Bänke für den tdeb-airecht oder Seitenhof, der aus den Schreibern und den Historikern bestand, die alle Vorgänge festzuhalten hatten, sowie den Kleinkönigen und Adligen. An ihrer Spitze standen Donndubhain als Ta-nist, Finguine von Cnoc Äine und andere als Beobachter des Prozesses, die bezeugen sollten, daß in dem Königreich nach Recht und Gesetz verfahren wurde.
An der linken Seite war der Platz des airecht fo leithe, des besonderen Hofes, der alle voraussichtlichen Zeugen umfaßte. Hier saß unter anderen Bruder Mochta. Es hatte Eadulf überrascht, daß Bruder Mochta von Solam als sein Hauptzeuge gegen Muman benannt worden war. Noch überraschender war die Tatsache, daß das Reliquiar Ailbes in Verwahrung gegeben worden war. Auch Bruder Madagan saß dort, um als Zeuge aufgerufen zu werden, wie auch Bruder Bardan, Nion, der bo-aire von Imleach, Gionga und Capa.
Eadulf merkte, daß die Anwesenheit Bruder Moch-tas und des Reliquiars Fidelma nicht überraschte. Sie hatte ruhig ihren Platz eingenommen, die Hände im Schoß gefaltet und schaute vor sich hin, ohne sich auf einen Punkt zu konzentrieren. Eadulf ärgerte sich über sie. Seit sie ihm eröffnet hatte, sie glaube die Lösung des Rätsels zu kennen, hatte sie sich strikt geweigert, ihm noch irgend etwas zu erklären. Er war unglücklich. In den letzten Wochen hatte er den Eindruck, Fidelma werde reizbarer denn je und vertraue ihm immer weniger. Er hatte sich als ihren »Seelenfreund« betrachtet, als anam-chara, wie ihn sich jeder Mönch und jede Nonne in Eireann wählte, um ihre weltlichen und religiösen Probleme mit ihm zu besprechen. Er war enttäuscht, wenn sie ihn nicht ins Vertrauen zog.
Colgüs Haushofmeister trat vor und stieß seinen Amtsstab dreimal auf den Boden, um Ruhe im Gerichtssaal zu gebieten. Das riß Eadulf aus seinen traurigen Betrachtungen.
Der Brehon von Cashel, Dathal, war der erste der Richter, der den Saal betrat. Das entsprach dem Protokoll, denn das Gericht tagte ja in Cashel. Dathal war nicht umsonst als »der Flinke« bekannt. Sein Spitzname bezog sich auf sein rasches Urteil in juristischen Dingen. Er war nicht mehr jung, doch sein Haar war noch nicht grau geworden. Seine dunklen Augen blickten scharf, und ihnen entging nichts. Schaute er jemanden an, schien er durch ihn hindurchzusehen. Er war schlank, hager und fast bleich. Er war schnell gereizt und hatte nichts für Trottel übrig, besonders wenn es sich um vor ihm plädierende Anwälte handelte. Er ging schnell zur Richterbank und setzte sich auf den Platz zur Rechten.
Fachtna, der Brehon der Ui Fidgente, folgte ihm rasch und setzte sich auf den linken Platz. Er war etwas älter als Dathal, ebenfalls groß und fast mager. Die Haut zog sich straff über die Gesichtsknochen, so daß sein Kopf wie ein Totenschädel wirkte. Die Haut war wie Pergament, nur über den Backenknochen gerötet. Der Blick seiner grauen Augen wanderte ruhelos umher, und sein Mund war ein dünner roter Schlitz. Sein graues Haar war in der Mitte gescheitelt, glatt nach hinten gekämmt und mit einem Band zusammengefaßt. Er sah aus, als habe er eine gute Mahlzeit nötig.
Als letzter kam der Brehon Rumann von Fearna, der den Platz in der Mitte einnahm. Er war nicht nur der den Vorsitz führende Richter, sondern würde wahrscheinlich auch die Entscheidungen fällen, denn alle in der Großen Halle Versammelten gingen davon aus, daß die Urteile der Brehons von Cashel und der Ui Fidgente von den Wünschen ihrer jeweiligen Fürsten beeinflußt wären.
Als Brehon Rumann zu seinem Stuhl ging, wirkte er überhaupt nicht wie ein Richter. Er war klein und korpulent. Sein Silberhaar trug er so lang, daß die Locken bis auf den Nacken fielen. Die Haut seines gütigen Gesichts war so frisch und rosig wie die eines frischgewaschenen Babys. Die Lippen waren so voll und rot, als habe er sie mit Beerensaft verschönt. Seine nußbraunen Augen waren so hell, daß sie auf den ersten Blick blaß schienen. Er strahlte Freundlichkeit aus. Trotzdem beherrschte er die Szene. Von ihm ging eine ruhige Autorität aus, der sich alle beugten.
Als er sich gesetzt hatte und es in der Großen Halle still geworden war, stieß der Haushofmeister noch einmal seinen Amtsstab auf den Boden. Abt Segdae erhob sich. Er reckte die Hand mit ausgestrecktem erstem, drittem und viertem Finger hoch, die die heilige Dreieinigkeit versinnbildlichten. Eadulf hatte sich schon an diesen Unterschied zum römischen Brauch gewöhnt, bei dem der Daumen und der erste und zweite Finger dasselbe Symbol bildeten.
»Benedictio benedicatur per Jesum Christum Dominum nostrum. Surgite!«
Der Segen und die Aufforderung an das Gericht, zu beginnen, eröffneten die Verhandlung.
Brehon Rumann schlug prompt mit einem kleinen hölzernen Hammer auf den Tisch vor ihm. Seine Stimme war sanft, aber bestimmt.
»Die fünf Wege zum Urteil stehen uns offen. Für diesen Tag war die Verhandlung anberaumt, und der richtige Weg zum Urteil wurde gewählt. Der König von Muman und der Fürst der Ui Fidgente haben die erforderlichen Sicherheiten geleistet. Bevor wir zu den tacrae, den einleitenden Plädoyers der Anwälte kommen, muß ich beide Anwälte fragen, ob sie dazu bereit sind. Sie haben zu diesem Zeitpunkt das Recht, eine taurbaid, eine Vertagung der Verhandlung zu beantragen.«
Er sah erst Fidelma und dann Solam an.
»Ich brauche euch nicht daran zu erinnern, daß jede Vertagung zu diesem Zeitpunkt einen triftigen Grund haben müßte. Die Abhaltung eines religiösen Festes, eine Erkrankung, ein Todesfall oder ähnliches würden als eine solche Begründung gelten.«
Als er schwieg, lächelte Solam beflissen. »Wir sind bereit, unsere Klage vorzutragen«, erklärte er.
»Und wir sind bereit, darauf zu erwidern«, antwortete Fidelma.
»Ausgezeichnet. Wie euch sicher bekannt ist, spreche ich hier für alle drei Richter. Ihr habt euch mit euren Reden an mich zu wenden. Da ihr beide zum erstenmal zu einer Verhandlung vor mir erschienen seid, meine ich, es täte gut, wenn ich euch darauf hinweise, welches Verhalten ich von euch erwarte. Ich dulde keine schlechten Plädoyers in meinen Verhandlungen, und ich richte mich streng nach dem Buchstaben des Coic Conara Fugill.«
Eadulf wußte, daß damit die umfassende Anweisung für das Verfahren bei Gericht gemeint war, die man »die fünf Wege zum Urteil« nannte.
»Ich werde jedem Anwalt eine Geldstrafe auferlegen, der so leise spricht, daß ich ihn nicht richtig verstehen kann; ebenso jedem Anwalt, der das Gericht aufzureizen versucht, der aufbraust, zu laut streitet oder jemanden beschimpft; ferner jedem Anwalt, der eine erwiesene Tatsache leugnet oder sich selbst lobt. Die Strafe für alle diese Fälle ist im Gesetz festgelegt: ein sed.«
Ein sed war der Gegenwert einer Kuh. Das war eine harte Strafe. Eadulf stöhnte innerlich. Vor Brehon Rumann zu plädieren würde nicht einfach werden.
Es herrschte jetzt eine fast atemlose Stille im Saal.
»Die tacrae können beginnen.«
Mit unruhigen, vogelartigen Bewegungen erhob sich Solam. »Bevor ich mein Plädoyer beginne, muß ich einen Protest einlegen.«
Die eingetretene Stille schien die vor Ausbruch eines Sturms zu sein.
Brehon Rumanns Ton wurde eisig. »Einen Protest?«
»Es heißt in den Verfahrensregeln für eine Gerichtsverhandlung, daß die streitenden Parteien bei ihren Anwälten zu sitzen haben. Neben mir sitzt der Fürst der Ui Fidgente, der Kläger in diesem Fall.«
Das weiche, engelsgleiche Gesicht des Brehons verzog sich zu einer düsteren, zornigen Miene. »Was soll das bedeuten?«
»Hinter dir sitzt der Angeklagte in diesem Fall, der König von Muman.«
Eadulf sah, wie Colgü hinter den Richtern eine verlegene Bewegung machte. Als König durfte er während der Verhandlung nicht selbst sprechen, außer in dringenden Fällen.
Brehon Rumanns Augen hatten sich geweitet. Er wollte schon widersprechen, da beugte sich Fachtna, der Richter der Ui Fidgente, zu ihm und lächelte So-lam anerkennend an.
»Das Argument des Anwalts findet eine starke Stütze in den Verfahrensregeln. Kläger und Beklagter müssen bei ihren Anwälten sitzen. Der Text sieht keine Ausnahmen vor. Als Beklagter müßte der König neben seinem dalaigh sitzen.«
»Aber dieselben Regeln legen fest, wo der König zu sitzen hat«, widersprach Dathal auf der anderen Seite Rumanns. »Wir befinden uns hier im Königreich Muman, am Sitz des Königs in Cashel. Wie kann der König dann den Platz verlassen, den das Gesetz für ihn vorschreibt?«
»Doch das Gesetz sagt, daß sein Platz als Beklagter neben seinem Anwalt ist«, beharrte Fachtna mit seinem aufreizenden Lächeln. »Der König hat das Gesetz ebenso zu beachten wie der Geringste seiner Untertanen.«
Rumann hob die Hände, als wolle er seine Kollegen beruhigen. »Ich bin der Meinung, daß man dem König nicht das Gesetz auferlegen kann. Ich kann mich dabei auf die Sieben Bücher und die Drei Bücher der alten Gesetzessammlungen berufen, in denen es heißt, daß niemand Bürgschaft für einen König leisten kann, denn wenn ein König seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, kann der Bürge keine Entschädigung erlangen, weil die Ehre des Königs wichtiger ist als jeder Anspruch an ihn.«
»Willst du damit sagen, daß der Fürst der Ui Fid-gente unrecht handelt, wenn er eine Klage gegen den König von Muman anstrengt?« erregte sich Fachtna. »Soll das heißen, daß gegen einen König nicht gesetzlich vorgegangen werden kann? Wenn das so ist, dann vergeuden wir unsere Zeit mit dieser Verhandlung. Nein, dieser Argumentation kann ich nicht zustimmen.«
Fidelma stand auf und räusperte sich.
»Du möchtest etwas dazu sagen, Fidelma von Cas-hel?« fragte Brehon Rumann, der sie mit Interesse betrachtete.
»Weise Richter ...« - Fidelma verbeugte sich vor den Brehons - »Brehon Rumann hat natürlich darin recht, daß das Gesetz sagt, niemand sollte für einen König bürgen, doch andererseits verbietet es das auch nicht.«
Fachtna setzte ein breites Lächeln auf. »Dann ist also die Anwältin von Cashel meiner Meinung? Daß der König als Beklagter in diesem Fall gilt und vor den Richtern und nicht hinter ihnen zu sitzen hat?«
»Das sind gleich drei Fragen auf einmal, Fachtna«, erwiderte Fidelma ernst. »Wenn du Solams Protest meinst, dann lautet meine Antwort nein, ich bin nicht deiner Meinung. Infolgedessen ergibt sich deine letzte Frage auch nicht aus deiner ersten.«
Fachtna rätselte, worauf Fidelma wohl hinauswollte.
Mit einem seltsam zischenden Ausatmen zeigte Ru-mann seine Verärgerung darüber, daß er ihre Antwort nicht verstand. »Die Anwältin von Cashel sollte sich klar ausdrücken. Was will sie uns sagen?« murrte er.
»Darf ich die gelehrten Brehons«, fuhr Fidelma fort, »daran erinnern, daß der Gesetzestext tatsächlich beschreibt, wie man die Ehre des Königs gegen seine Verantwortlichkeit vor dem Gesetz abwägen kann?«
Rumanns Augen verengten sich in seinem rundlichen Gesicht. »Erinnere uns«, sagte er knapp. In seinem Ton schien eine versteckte Drohung zu liegen.
»Die Stelle findet sich in den vier Abschnitten über Zwangsvollstreckung. Zu gesetzlichen Zwecken kann sich der König durch einen Ersatzmann vertreten lassen, einen aithech fortha, und über diesen Ersatzmann kann ein gesetzlicher Anspruch gegen den König erhoben werden, ohne daß der König die Schmach erdulden muß, von seinem Amt zurückzutreten oder sich einer Zwangsvollstreckung zu unterwerfen.« Fi-delma lächelte die Richter fröhlich an. »Ich hätte gedacht, der gelehrte Solam würde, statt zu diesem Zeitpunkt einen Protest einzulegen, vor Beginn der Verhandlung im Auftrag des Klägers veranlassen, daß der König auf diese Weise vertreten wäre, daß also ein Ersatzmann benannt würde, der in diesem Stuhl hier« -sie wies auf den leeren Stuhl neben ihr - »sitzen und den König symbolisch repräsentieren würde.«
Fidelmas Worte lösten eine Welle der Belustigung im Saal aus.
Solam wurde rot vor Ärger. Er wollte sich erheben.
Brehon Rumann machte ihm ein Zeichen, er solle sitzen bleiben. Brehon Dathal war sichtlich vergnügt.
»Hat ein Mitglied des Gerichts etwas dagegen, daß ein Ersatzmann auf den Stuhl des Beklagten gesetzt wird?« fragte er. »Hat jemand etwas gegen einen Ersatzmann einzuwenden, der als körperlicher Vertreter des Königs vor uns sitzt?«
Brehon Rumann schnaubte verärgert. Es war klar, daß er sich an die Gesetzesstelle nicht erinnert hatte. Fidelma hatte zwar recht behalten, doch Eadulf merkte, daß sie sich damit beim Vorsitzenden Richter nicht beliebt gemacht hatte. Daß Brehon Fachtna wütend war, konnte ihm jeder ansehen.
»Ich sehe keinen Anlaß, einfach jemanden auf den Stuhl zu setzen. Wir fahren fort in der Annahme, daß der leere Stuhl symbolisch das Königreich Muman repräsentiert.« Rumanns Stimme klang gereizt. »Gibt es also noch weitere Proteste oder Einsprüche oder können wir nun zum Thema der Verhandlung kommen?«
Solam räusperte sich und stand eilig auf.
»Ich bin ganz deiner Meinung, edler Brehon«, begann er mit einem gezwungenen Lächeln und bemühte sich, die Wogen zu glätten, die er selbst aufgerührt hatte. »Ich glaube an die Förmlichkeit der Verfahrensweise, die du uns in deiner Eröffnungsrede nahegelegt hast. Korrektes Verfahren ist kein Anlaß zur Leichtfertigkeit.«
»Es freut uns sehr, daß du mit der Entscheidung des Gerichts einverstanden bist«, warf Brehon Dathal spöttisch ein.
Brehon Rumanns Gesicht zeigte eine steinerne Ruhe, und es war nicht klar, ob es Solam gelungen war, ihn zu besänftigen, oder nicht.
Es trat eine Pause ein, und als Rumann nichts weiter sagte, fuhr Solam fort.
»Weise Richter, es ist eine sehr ernste Angelegenheit, die ich euch unterbreite. Bei dem Fall handelt es sich um nichts Geringeres als einen Mordversuch am Fürsten der Ui Fidgente. Die Anklage richtet sich gegen den König von Muman und diejenigen, die in seinem Namen und in seinem Auftrag tätig wurden. Wir werfen Colgü von Cashel vor, daß er sich mit anderen verschwor, Fürst Donennach zu töten!«
Solam hielt inne und blickte sich um, als erwarte er eine Reaktion auf seine Eröffnung. Das Schweigen in der Halle war bedeutungsvoll. Es gab keine Reaktion. Jeder in Cashel wußte, worum es ging.
Brehon Rumann war noch bissig. »Du wirst uns zweifellos die Tatsachen hinter deiner Anschuldigung noch vorlegen?« fragte er barsch.
Solam faßte sich wieder. »Weise Richter ...«, setzte er an, räusperte sich und sprach weiter, »es geschah am Feiertag des heiligen Ailbe, des Schutzpatrons dieses Königreichs, daß mein Fürst Donennach mit einem kleinen Gefolge nach Cashel kam, um über Mittel und Wege zu sprechen, die Freundschaft zwischen seiner Dynastie der Dal gCais und den Eoghanacht von Cashel zu festigen. Colgü von Cashel hatte Do-nennach am Brunnen von Ara mit wenigen Gefolgsleuten begrüßt und geleitete ihn und die Seinen nach Cashel. Donennach kam in Frieden und Freundschaft und Arglosigkeit.«
Solams bewegliche Stimme gewann an Kraft. Dramatisch breitete er die Arme aus.
»Das Gefolge des Fürsten ritt auf den Marktplatz dieser Stadt unterhalb der Mauern dieser Burg. Ohne eine Ahnung, welches Schicksal man ihm bereiten wollte, ritt mein Fürst voran. Ohne Warnung traf ihn der Pfeil vom Bogen des Attentäters. Gott sei gelobt! Die Hand des Bogenschützen war unsicher. Vielleicht lenkte der Atem Gottes den Flug des Pfeils - vielleicht war das Auge des Allmächtigen ...«
Brehon Rumann hob ärgerlich die Hand. »Ich würde es begrüßen, wenn der Anwalt darauf verzichtet, Vermutungen über die Handlungen Gottes in diesem Fall anzustellen, und sich auf die Handlungen der Menschen konzentriert«, riet er.
Solam schluckte schwer, sein Adamsapfel zuckte nervös.
Fidelma senkte den Blick und preßte die Lippen zusammen. Der Anblick des blinzelnden, verwirrten So-lam war urkomisch.
»Ahem, ja eben. Ja, genau. Die Hand des Bogenschützen . Der Pfeil fand nicht das beabsichtigte Ziel. Er traf Donennach im Oberschenkel. Eine schlimme Wunde, gewiß, aber nicht lebensgefährlich, und wie ihr seht . « - er wies auf Donennach, der ungeduldig auf seinem Stuhl saß - »mein Fürst genas.«
»Ja, offensichtlich ist er nicht daran gestorben«, bemerkte Brehon Dathal laut. Ein Kichern durchlief den Saal.
Solam hielt inne und faßte sich. Dann sprach er mühsam weiter.
»Danach brach die Hölle los. Donennach war vom Pferd gestürzt, deshalb kam der Attentäter nicht zum zweiten Schuß. Gionga, der Hauptmann der Leibwache Donennachs, wachsam wie immer, hatte gesehen, aus welcher Richtung der Pfeil gekommen war. Er ritt über den Marktplatz und fand zwei Attentäter, die auf dem Dach eines Lagerhauses Stellung bezogen hatten. Sie wollten zu ihren Pferden entkommen. Gionga sah sich zwei unbarmherzigen Gegnern gegenüber und war gezwungen, beide mit seinem Schwert niederzuhauen.
Die beiden Leichen wurden vor meinen Fürsten und andere Zeugen gebracht. Die Identität der Attentäter war an ihren Körpern abzulesen. Einer von ihnen trug den Halsreif des Ordens der Goldenen Kette, und das ist, wie jedermann weiß, das Abzeichen der Leibwache des Königs von Cashel .«
Solam neigte offensichtlich zu dramatischen Pausen, aber er traf wieder auf absolutes Schweigen, denn was er bisher gesagt hatte, war niemandem in der Großen Halle neu.
»Der zweite Mann war der Bruder eines leitenden Geistlichen der Abtei Ailbes, dem Primatssitz dieses Königreichs. Er führte eine der heiligen Reliquien Ailbes mit sich, genau gesagt, das Kruzifix Ailbes. Wir behaupten, daß der Bewahrer der heiligen Reliquien ihm dieses Kruzifix überlassen hat als Symbol dafür, daß dieses Attentat mit dem Segen des Comarb von Ailbe unternommen wurde. Ich werde beweisen, daß der Attentäter dieses Kruzifix während seiner verruchten Tat als Talisman bei sich trug. Diese heilige Reliquie konnte nur mit Zustimmung des Comarb von Ailbe aus der Abtei Imleach entfernt werden. Daraus geht hervor, daß sowohl der König als auch sein geistliches Oberhaupt in den Mordversuch an dem Fürsten der Ui Fidgente verwickelt sind.«
Diesmal ging ein Murmeln durch den Saal, in dem sich Zorn und Überraschung vermischten. Abt Ségdae holte hörbar Atem und wollte sich erheben. Colgu legte dem bejahrten Abt die Hand auf den Arm und warnte ihn mit einem Kopfschütteln, er möge das Verfahren nicht unterbrechen.
Brehon Rumann schlug mit seinem Hammer auf den Tisch und gebot Ruhe. »Fahre fort«, wies er Solam an.
Solam tat es mit einer erregten Geste. »Diesen Ausführungen habe ich nur noch wenig hinzuzufügen. Ich kann nur feststellen, daß Muman niemals ernsthaft den Frieden mit den Ui Fidgente suchte, sondern vorhatte, ihren Fürsten zu beseitigen, und dann vielleicht ein Heer ins Land der Dal gCais schicken wollte, um die Verwirrung zu nutzen, die daraus entstehen mußte. Damit würden sie die Herrschaft über die Ui Fid-gente erlangen und den unberechtigten Anspruch durchsetzen, den Muman seit Jahrhunderten erhoben hat, daß sie nämlich von Rechts wegen die Könige auch unseres Volkes wären.«
Abrupt setzte er sich.
Brehon Rumann wandte sich an Fidelma. »Bist du bereit, mit deinem Gegenplädoyer darauf zu erwidern, Schwester Fidelma?«
Fidelma erhob sich. »Ja. Weise Richter, ich habe die Absicht, in diesem Verfahren nicht nur die Beschuldigungen der Ui Fidgente zu widerlegen, sondern auch nachzuweisen, wo die Schuld wirklich liegt.«
»Bestreitest du die Tatsachen, die Solam uns unterbreitet hat?« fragte Rumann in unfreundlichem Ton. »Ziehst du seine Wahrhaftigkeit in Zweifel?«
»An dieser Stelle will ich damit sagen«, erwiderte Fidelma, »daß Solam euch nur eine Seite der Wahrheit mitgeteilt hat, aber nicht die ganze Wahrheit. Er hat euch nicht die Tatsache berichtet, daß damals, als der König von Muman und sein Gast, der Fürst der Ui Fidgente, auf den Marktplatz von Cashel ritten, der erste Pfeil der Attentäter auf den König von Muman abgeschossen wurde. Er hätte ihn ins Herz getroffen, wenn er sich nicht plötzlich vorgebeugt hätte, um mich, seine Schwester, zu begrüßen. Durch diese glückliche Bewegung traf ihn der Pfeil am Arm und verwundete ihn schwer. Warum hat Solam das nicht erwähnt?«
Mit gerötetem Gesicht und höhnischem Lächeln sprang Solam auf. »Ich vertrete hier den Fürsten der Ui Fidgente«, fauchte er auf seine aufgeregte Art. »Fi-delma wird für ihren Bruder sprechen.«
»Hast du diese Tatsache gekannt und uns verschwiegen?« fragte Brehon Rumann mit sichtlichem Unwillen.
»Ich kannte die Tatsache und wußte auch, daß Fi-delma davon reden würde. Ich bin nicht verpflichtet, ihre Argumente vorzubringen.«
Solams Reizbarkeit geriet ihm zum Nachteil, denn Brehon Rumann runzelte die Stirn. »Manchmal ist sparsamer Umgang mit der Wahrheit nicht besser als eine Lüge, Solam. Sei gewarnt. Ich dulde keine Halbwahrheiten.«
Solam neigte reuig den Kopf.
Fidelma überraschte alle, indem sie sagte: »Ich mache Solam keinen Vorwurf, weise Richter, weil er seine Wahrheit dadurch zu finden hofft, daß er alles wegläßt, was er meint, nicht äußern zu müssen. Ich wünschte, wir fänden die Wahrheit ebenso leicht, wie wir die Unwahrheit aufdecken können.
Tatsache ist jedoch, daß der König ebenfalls verwundet und als erster getroffen wurde, und das daraus entstehende Durcheinander war vielleicht der wahre Grund, weshalb der Attentäter nicht in der Lage war, den Fürsten der Ui Fidgente tödlich zu treffen. Oder wollte er es vielleicht gar nicht?«
»Das ist eine Unterstellung!« rief Solam und sprang auf. »Es ist eine Beleidigung und eine Beschuldigung der Ui Fidgente!«
»Es ist ebenso eine Unterstellung wie Solams Interpretation«, antwortete Fidelma gelassen. »Ferner ist es richtig, daß Gionga, der Hauptmann der Leibwache Donennachs, den Attentätern nachsetzte. Das tat auch der Tanist von Muman, Donndubhain. Beide waren am Tod der Attentäter beteiligt.
Ich behaupte, daß es keine Verschwörung des Königs von Muman gab, den Fürsten der Ui Fidgente zu ermorden, und das werde ich beweisen.«
Solam war wieder auf den Beinen. »Dieser Beweis dürfte interessant werden. Ich möchte nun meiner ersten Darlegung des Falles gegen Muman noch etwas hinzufügen. Ich habe bewiesen, daß einer der Attentäter ein Mitglied der Leibgarde des Königs von Cashel war .«
»Du hast nichts dergleichen bewiesen!« unterbrach ihn Fidelma. »Die Tatsache, daß er das Abzeichen der Goldenen Kette trug, macht ihn noch nicht zum Mitglied des Ordens.«
»Das werden wir im Licht des Beweismaterials beurteilen«, versicherte ihr Brehon Rumann.
»Das Beweismaterial wird noch eine andere Verbindung aufdecken«, fuhr Solam triumphierend fort. »Ich sagte bereits, daß der andere Attentäter der Bruder des Bewahrers der heiligen Reliquien in Imleach war. Am Abend vor dem Attentatsversuch verschwand der Bewahrer der heiligen Reliquien mit den Reliquien Ailbes aus Imleach. Er richtete es so ein, daß es aussah, als sei er von Feinden verschleppt worden. Das sollte er tun, damit man den Ui Fidgente die Schuld daran zuschieben könnte. Weise Richter, ich habe mich der Person dieses mitverschworenen Mönchs Bruder Mochta versichert, dessen Zwillingsbruder Baoill der Attentäter war, von dem ich sprach. Er sitzt dort und wird als Zeuge aufgerufen werden, und ich freue mich, sagen zu können, daß Gionga von den Ui Fidgente das Reliquiar Ailbes gefunden hat, das hier in Cashel versteckt war, damit man seinen Diebstahl den Ui Fidgente zuschreiben könnte.«
Rot vor Zorn war Fidelma aufgesprungen. »Weise Richter, das ist eine Verdrehung der Wahrheit.«
Solam war ebenso aufgebracht. »Wahrheit? Die dalaigh von Cashel führt ständig die Wahrheit im Munde. Kann sie uns auch erklären, warum sie Bruder Mochta und die heiligen Reliquien versteckt hat?
Warum sie Mochta und jene Reliquien von Imleach nach Cashel geschmuggelt hat, ohne irgend jemandem etwas davon zu sagen, und versucht hat, sie im Hause einer stadtbekannten Prostituierten zu verbergen? Einer Prostituierten?«
Jetzt gab es einen Aufruhr in der Halle, weil nun doch jeder auf Solams Theatralik reagierte.
»Stimmt das, Fidelma?« wollte Brehon Rumann wissen, nachdem er Ruhe geboten hatte.
Eadulf stöhnte, weil er wußte, was Fidelma darauf antworten mußte.
»Die Tatsachen stimmen, aber .«
Der Rest ihrer Rede ging im Lärm unter.
»Außerdem, außerdem ...«, schrie Solam rasch und ließ ihr keine Zeit, den Satz zu beenden, als der Sturm sich legte. »Außerdem gab es noch ein weiteres Komplott mit dem Ziel, die Ui Fidgente in Verruf zu bringen. Man hat einen Trupp Söldner angeheuert, die Im-leach überfielen, den heiligen Eibenbaum dort fällten und einen Eber in den Stumpf schnitten, das Emblem meines Fürsten, um damit den Ui Fidgente die Schuld unterzuschieben.
Hinter allen diesen Intrigen, behaupte ich, steckt der König von Muman. Es geht darum, die Ui Fidgen-te in Mißkredit zu bringen, um einen Vorwand zu bekommen, sie zu vernichten. Ich behaupte, daß alle Eoghanacht daran beteiligt sind, vom König und seiner Schwester, die sich hier als seine unvoreingenommene Anwältin aufspielt, über die Fürsten von Mu-man bis zum Comarb von Ailbe selbst.«
Rasch setzte er sich wieder, und Wut und Zorn erfüllten die Große Halle.
Brehon Rumann wartete, bis wieder Ruhe eintrat, und schaute dann Fidelma scharf an.
»Das sind wahrhaftig schwere Vorwürfe, die ich da gehört habe, so schwere Vorwürfe, wie sie kein dalaigh erheben würde, wenn er nicht sehr gute Gründe dafür hätte. Bevor wir uns die Beweise anhören, die Solam dafür vorzulegen hat, ist es meine Pflicht, dich dein Gegenplädoyer fortsetzen zu lassen, Fidelma. Dabei muß ich bedenken, daß du selbst die Wahrheit bestimmter Vorwürfe zugegeben hast, die Solam gegen dich gerichtet hat. Willst du sprechen?«
Fidelma erhob sich. Es herrschte absolute Stille in der Großen Halle, und alle lauschten gespannt ihren Worten.
»Ja, weise Richter«, begann sie. »Erlaubt mir zu bemerken, daß ich die Tatsachen anerkannt habe, nicht aber den Sinn, den Solam ihnen unterlegt.«
Brehon Rumann runzelte die Stirn. »Die Tatsachen scheinen für sich zu sprechen«, meinte er. »Wir alle sind an die Tatsachen gebunden, und Tatsachen lassen sich nicht verändern.«
»Mit Verlaub, weiser Richter, eine Tatsache hat viele Seiten. Sie ist wie ein Getreidesack. Kann ein leerer Getreidesack stehen? Nein, man muß ihn erst mit Korn füllen. Dann kann er auch stehen. Eine Tatsache ist wie ein leerer Getreidesack. Auch sie steht nicht, wenn sie nicht gefüllt wird. Die Tatsache muß zusammen mit den Ursachen geprüft werden, die zu ihr geführt haben.«
Brehon Rumann wollte schon antworten, als ihm aufging, was Fidelma meinte. »Ich verstehe. Du hast sicherlich vor, unseren Getreidesack zu füllen?«
»Ja, weiser Richter.«
»Ich nehme an, du wirst Solam entgegenhalten, daß das Königreich von Cashel nicht der Verschwörung schuldig ist, mit dem Ziel, die Ui Fidgente in Verruf zu bringen? Daß es in Wirklichkeit die Ui Fidgente sind, die ein Komplott gegen das Königreich von Muman und die Eoghanacht schmieden?« Rumann lehnte sich zurück. »Habe ich recht mit dieser Vermutung?«
Es trat eine kurze Pause ein.
Dann sagte Fidelma: »Nein, weiser Richter. Du hast nicht recht.«
Es war totenstill. Brehon Rumann starrte sie an, als habe er nicht recht gehört. Seine Kollegen Dathal und Fachtna waren ebenso verblüfft.
»Ich habe dich wohl nicht richtig verstanden. Ich sage noch einmal, du wirst doch sicher Solam entgegnen, daß die Eoghanacht nicht einer Verschwörung schuldig sind, woraus folgt, daß dann die Ui Fidgente einer Verschwörung gegen Cashel schuldig sind.«
»Weise Richter«, sagte Fidelma laut und deutlich, »die Ui Fidgente sind nicht einer Verschwörung gegen Cashel schuldig.«
Das Schweigen war beinahe lastend.
»Außerdem«, fuhr sie fort, »kann ich die Eogha-nacht nicht von der Verantwortung für eine Verschwörung mit dem Ziel, Zwist in diesem Königreich zu entfachen, freisprechen.«
»Fidelma! Was tust du da?« Colgu war mit aschfahlem Gesicht aufgesprungen. Seine Stimme durchschnitt das entsetzte Schweigen in der Großen Halle wie ein Peitschenschlag. »Du hast mich verraten!«