177555.fb2 Totentanz f?r Dr. Siri - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 10

Totentanz f?r Dr. Siri - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 10

9VON SCHWEINEN UND WARZEN

Langsam schlug Herr Geung die Augen auf. Alles war verschwommen. Die Farben schienen ineinanderzulaufen. Ein Hahnenschrei verriet ihm, dass es Morgen war: Die Sonne warf Lichtfäden aus wie eine Spinne, die das Netz eines neuen Tages baut. Zwar war er zeit seines Lebens bei Sonnenaufgang erwacht, aber noch nie so wie hier und jetzt. Er befand sich, nein, nicht in einem Haus, denn es hatte keine Wände, aber unter einem Dach. Alle anderen schliefen noch. Er wollte sich aufrichten, doch eine Körperhälfte war völlig steif. Er verspürte einen dumpfen Schmerz, als habe die ganze Nacht ein schweres Gewicht auf seiner Brust gelastet. Er sah an sich hinunter und stellte fest, dass er Hose und Stiefel anhatte. Sein Oberkörper hingegen war nackt, bis auf einen langen, schmutzigen rosa Verband, der sich fest um Brust, Hals und Oberarm wand. Vorsichtig betastete er die Bandage, die gestern noch nicht dagewesen war, und fragte sich, wozu sie dienen mochte. Als seine Finger eine Stelle an der rechten Schulter berührten, zuckte er vor Schmerz zusammen. Es musste sich wohl doch um etwas Ernstes handeln. Er konnte sich weder an den Schuss noch an das Blut erinnern; er wusste nur, dass er schnellstmöglich nach Vientiane und ins Leichenschauhaus gelangen musste. Er setzte sich auf.

»He, Kum«, hörte er jemanden sagen. »Er ist wach.«

Einer der Männer, die unter dem Dach der Hütte ohne Wände geschlafen hatten, rührte sich und robbte neben Geung. Er war braungebrannt, etwa so groß wie Geung und trug eine Igelfrisur. Ein Patronengurt schlang sich um seine Schulter. Darauf schlief es sich vermutlich furchtbar unbequem, dachte Geung. Die Stimme des Mannes klang lädiert.

»Wie fühlst du dich?«

»G… ganz gut«, sagte Geung.

Der Mann kehrte ihm den Rücken zu und rief seinem Kollegen zu: »Es geht ihm gut. Er kann sogar sprechen.«

»Ja. So was soll’s geben.«

Der Igel sprach langsam, als sei Geung nicht von dieser Welt. »Ich habe auf dich geschossen. Verstehst du?«

Geung betrachtete den rosafarbenen Verband und nickte. Langsam kehrte seine Erinnerung zurück.

»Es tut mir leid«, fuhr der Mann fort. »War ein Versehen. Ich dachte, du bist … Nein, Quatsch. Ich hatte keine Ahnung, was du bist. Ich habe einfach abgedrückt. Wenn ich gewusst hätte, dass du … so bist, wie du bist, hätte ich nie im Leben …«

»Er muss dir vergeben«, sagte sein Kollege. Nach und nach erwachten auch die anderen Schlafenden.

»Du musst mir vergeben«, sagte der Igel. »Ich kann es mir nicht leisten, noch mehr Kredit zu verspielen. Verstehst du? Du könntest mein Karma ruinieren. Buddha ist so schon sauer, weil ich mich aufs Stehlen verlegt habe. Er hatte sich langsam, aber sicher damit abgefunden. Dann kamst du daher. Und jetzt stecke ich wieder in der Scheiße. Wenn du mir vergibst, habe ich vielleicht noch eine Chance, wieder ins Plus zu kommen.«

Geung verstand kein Wort. »We… e… er sind Sie?«, fragte er.

Der Igel setzte sich stöhnend auf. Vergebung hatte ihren Preis. »Früher war ich Soldat«, flüsterte er. »Aber ich kämpfte auf der falschen Seite. Jetzt bin ich … jetzt sind wir – wie soll ich sagen? – Opportunisten. Schnorrer. Verstehst du? Wir warten auf Transporter und Konvois, die nicht allzu schwer bewacht sind, und fragen die guten Leute, ob sie uns nicht mit ein paar Kip aushelfen können. Wir lagen im Tal auf der Lauer, als du angeschlichen kamst und mich erschreckt hast. Verstehst du? Ich dachte, du wärst hinter uns her. Ich wusste ja nicht, dass du … so bist, wie du bist. Ehrenwort.«

»K… kann ich jetzt gehen?«

»Gehen? Wohin?«

»Vientiane.«

»Das ist aber verdammt weit.«

»Ich hab’s versprochen.«

»Also, ich weiß nicht, ob du das durchstehst, Bruder. Auch wenn die Wunde nicht entzündet ist. Du hast Schwein gehabt: Die Kugel war nicht besonders groß und hat deine Schulter glatt durchschlagen. Du hast geschrien wie am Spieß, als wir sie mit Benzin ausgewaschen haben, aber ich glaube, sie ist einigermaßen sauber. Es wird allerdings noch eine Weile wehtun.«

»K… kann ich jetzt g… gehen?«

Der Igel warf einen Blick über die Schulter und rief: »Er will gehen.«

»Dann lass ihn gehen.«

»Und wenn er unterwegs verreckt?«

»Nicht dein Problem. Sobald er weg ist, bist du aus dem Schneider.«

»Warum schlägst du dir diesen Karma-Schwachsinn nicht endlich aus dem Kopf?«, sagte ein anderer. »Du bist ein Bandit. Da kannst du das Nirwana so oder so abschreiben.«

»Nein. Sag so was nicht.« Der Igel sah Geung flehentlich an und fragte noch einmal: »Vergibst du mir?«

»Ja.«

»Wirklich? Danke. Das werde ich dir nie vergessen.«

Um seine Dankbarkeit unter Beweis zu stellen, packte der Igel Geung etwas Proviant ein und begleitete ihn ein paar Kilometer. Die Wirkung des Opiums, mit dem sie Geung betäubt hatten, ließ allmählich nach, und er verzog bei jedem Schritt das Gesicht. Bald bahnten sie sich einen Weg durch dichte Vegetation, wo es von Tieren und Insekten nur so wimmelte. Eidechsen flitzten vor ihnen davon, und Eichhörnchen entschwanden in sichere Höhen.

»Wo ist die St… St… Straße?«, fragte Geung.

»Straße? Du brauchst keine Straße. Ich dachte, ihr seid wie die Hunde und folgt einfach eurer Nase.«

Geung sah ihn entrüstet an. »Ich … ich bin kein Hund.«

»Jaja. Schon gut.«

»Ich bin kein Hund.« Geung lief vor Wut und Empörung rot an.

»War nicht so gemeint. Meine Güte. Tut mir leid. Pass auf. Wenn du der Straße folgst, ist das ein Umweg von mindestens hundert Kilometern. Verstehst du? Das Ding schlängelt sich kreuz und quer durch die Landschaft. Sieh einfach zu, dass dir die Sonne vormittags auf die linke und nachmittags auf die rechte Schulter scheint. Sonst marschierst du am Ende noch im Kreis.«

»Ich bin kein Hund.«

»Ich hab’s kapiert. Hast du mir überhaupt zugehört?«

»Ich, äh … nein.«

Sie gingen weiter, doch es dauerte noch einmal zwanzig Minuten, bis Geung dem Igel seinen Ausrutscher verzieh. Dass er versehentlich auf ihn geschossen hatte, geschenkt. Aber ihn einen Hund zu nennen, das ging eindeutig zu weit. Inzwischen hatte sein Begleiter sich überlegt, wie er ihm die Anweisungen am besten verständlich machen konnte. Geungs Proviant steckte in einer Umhängetasche aus Stoff mit langem Schulterriemen. Da sich die Schusswunde an seiner rechten Schulter befand, schlang er Geung den Riemen über die linke Schulter, sodass die Tasche an seiner rechten Hüfte ruhte. Er erklärte ihm, die Sonne müsse ihm morgens den Rücken hinauf- und nachmittags den Bauch wieder hinunterwandern. Er hatte sich dazu ein kleines Liedchen ausgedacht, das sich sogar reimte: »Geht die Sonne morgens auf/Rutscht sie mir den Buckel rauf/ Und abends sinkt vom Scheitel/sie mir in den Beutel.«

Sie hatten es wohl an die tausend Mal gesungen, als sie am Fuß des Kuang-Si-Wasserfalls eintrafen. Der Igel wusste immer noch nicht recht, ob Geung verstanden hatte, was er ihm begreiflich machen wollte, auch wenn er das Lied inzwischen auswendig kannte. Er füllte eine Feldflasche mit Wasser aus dem klaren Bach und steckte sie in die Tasche zu dem gestohlenen Proviant und dem kleinen Opiumvorrat, der Geungs Schmerzen lindern sollte, falls sich die Schulter meldete. Er nahm Geung das Versprechen ab, nicht alles Opium auf einmal zu schlucken, worauf Geung empört erwiderte, er sei nicht dumm.

»Nein, woher denn«, sagte der Igel, machte kehrt und überließ Geung sich selbst. »Folge einfach dem Fußweg«, sagte er. Zwar glaubte er kaum, dass Geung es nach Vientiane schaffen würde, aber das spielte keine Rolle. Die Verdienste, die sich der Bandit erworben hatte, machten dieses kleine Minus spielend wett. Nicht einmal ein Esel war so blöd, zweihundertfünfzig Kilometer zu Fuß zurückzulegen, noch dazu an einem Tag, der so trocken war wie das Skrotum eines Toten.

Panoy hatte die Nacht gut überstanden. Ihr Atem ging flach, aber ihr Allgemeinzustand gab Anlass zur Hoffnung. Dtui wagte es sogar, die Kleine für eine Stunde allein zu lassen und mit den Ärzten in den Höhlenkomplex hinüberzugehen, in dem die Kubaner untergebracht gewesen waren. Auf dem Höhepunkt des Bombardements hatten an die zweihundert Dorfbewohner in dem Höhlensystem Unterschlupf gefunden, das die knapp einen Kilometer entfernt gelegenen Kalksteinfelsen durchzog. Inzwischen diente der vordere Bereich als Lagerraum und besonders in der Regenzeit zur trockenen Aufbewahrung von Futtermitteln. Der Rest war verlassen.

Auf dem Weg zu den Höhlen erzählte Santiago der jungen Krankenschwester von dem Durchhaltevermögen der Einheimischen, die massiven Militärschlägen widerstanden und selbst während der Luftangriffe stets ein Lächeln auf den Lippen gehabt hatten. Schmunzelnd erzählte er ihr, der amerikanische Außenminister habe Vietnam zu Beginn des Konflikts als Schwein bezeichnet und hinzugesetzt, Laos sei nichts weiter als eine Warze am Hinterteil besagten Borstentiers. »Und wie viel Ärger hat diese kleine Warze den großen Americanos doch bereitet.«

Vor dem Höhleneingang machte Santiago sie mit dem Sheraton bekannt. Es stand sogar in Kreide auf einem kleinen Felsvorsprung: SHERATON DE LAOS. In der Empfangshalle, einer großen, hohen Höhle, in der die meisten Einheimischen Zuflucht gefunden hatten, setzten sie ihre Stirnlampen auf. Santiago führte sie in einen kleineren Raum, der das kubanische Kontingent beherbergt hatte. Er stand leer, und abgesehen von dem einen oder anderen in die Wand geritzten Kalender erinnerten weder Plakate noch andere Überbleibsel an damals.

Auch Santiago hatte während seiner Zeit im Lazarett hier gehaust. Obgleich es sich um ein Gemeinschaftsprojekt von Vietnamesen und Kubanern handelte, bewohnten die Vietnamesen eine eigene Höhle und mieden den Umgang mit den Kubanern. Dort war Santiago dem Genossen Lit das erste Mal begegnet und prompt mit ihm aneinandergeraten. Vor seiner Ernennung zum Leiter der Bezirksstaatssicherheit hatte Lit die vietnamesischen Ingenieure betreut und überwacht. Obwohl die Kubaner über handwerkliches Geschick und umfassende Kenntnisse verfügten, behandelte Lit sie wie Provinztölpel, die bestenfalls für Zuarbeiten taugten. Als seine Vorgesetzten Lit mitteilten, dass er seine Befehle ab sofort von Dr. Santiago entgegennehmen werde, der noch dazu zum Leiter des Projekts berufen worden sei, verlor Lit das Gesicht. Santiago war überzeugt, dass Lit ihm das bis heute nicht verziehen hatte.

Da Dtui ihm nur schwer folgen konnte, erklärte Santiago sich bereit, sowohl seine Ausdrucksweise als auch seine Erklärungen möglichst schlicht zu halten. Er erzählte ihnen, dass er die stets gut gelaunten negritos anfangs für freundlich und umgänglich gehalten habe. Sie schufteten schwer und leisteten hervorragende Arbeit. Doch dann wurden unter seinen Leuten plötzlich Gerüchte laut, üble Gerüchte. Wie in Haiti praktizierte man auch in seiner Heimat schwarze Magie, eine Tradition, die bis nach Afrika zurückreichte. In Haiti nannte man sie Voudoun, in Kuba Palo Mayombe. Die Kubaner glaubten fest daran, dass sich mit Hilfe der Palo-Wundermittel jede Krankheit heilen ließ. So konnten sie nicht nur eine Geliebte becircen, sondern auch Hässliches in Schönes verwandeln. Leider habe letztere Methode bei ihm keinerlei Wirkung gezeitigt, scherzte Dr. Santiago.

Die Palo-Praktiken waren im Allgemeinen harmlos. Viele Kubaner machten davon Gebrauch, ebenso wie der Durchschnittslaote gelegentlich ein Horoskop las. Manche suchten Schamanen auf, um sich Rat zu holen oder auch einfach nur um ein wenig zu plaudern. Einige berühmte Palo-Mayombe-Schamanen konnten angeblich Wunder vollbringen. Die meisten leisteten lediglich Nachbarschaftshilfe. Doch es gab einen kleinen Kult, einen Ableger von Palo, der ungleich finsterere Ziele verfolgte. Er nannte sich Endoke, nach dem Bösesten aller Wesen, und versuchte die Geister durch Opferungen und Blutvergießen zu beschwören. Santiago kannte nicht wenige Patienten, denen Endoke eher geschadet als geholfen hatte.

Sie standen inmitten einer unheimlichen Höhle, und allein die Lichtstrahlen ihrer Stirnlampen durchdrangen das Dunkel. Das Geräusch tropfenden Wassers hallte von den Wänden wider, und allmählich beschlich Dtui bei Santiagos Worten ein mulmiges Gefühl.

»Kurz und gut«, fasste Siri zusammen, »die beiden Männer, Odon und Isandro, waren den Gerüchten zufolge Anhänger dieses Endoke-Kults.«

Dr. Santiago nickte. Zunächst hatte er nichts dagegen unternommen: Er wusste, dass sich die Kubaner, genau wie die Laoten oder Vietnamesen, gern Geschichten ausdachten, um ihre Freunde am Lagerfeuer zu unterhalten oder ihre Kinder am Davonlaufen zu hindern. Doch eines Tages kam eine Krankenschwester zu Dr. Santiago und führte ihn tief in den Berg, in dem sie sich jetzt befanden. Er bat Siri und Dtui, ihm zu folgen, und marschierte furchtlos in die Dunkelheit hinein.

Die Höhlen, die den Karst durchzogen, wurden mit jedem Schritt schmaler. Dtui blickte hilfesuchend zu Siri. Vor wenigen Monaten erst hatten die Ermittlungen in einem entsetzlichen Mordfall die beiden in Tunnels wie diese geführt. Wer einen halbwegs klaren Verstand sein Eigen nannte, hätte solch finstere Gänge wohl kaum betreten, bevor dieses Trauma überwunden war. Siri blieb stehen und sah Dtui an. »Fühlen Sie sich dem gewachsen?«

»Sie kennen mich doch, Doc. Für einen guten Lacher bin ich immer zu haben«, lautete ihre wenig überzeugende Antwort. Sie eilten Dr. Santiago hinterdrein; Siri bildete das Schlusslicht. Zum Glück brauchten sie nicht allzu tief ins Berginnere vorzudringen. Santiago schien sich in den Höhlen auszukennen, und bald hatten sie ihr Ziel erreicht.

Der Kubaner blieb stehen, trat einen Schritt zurück und ließ den Lichtstrahl für sich sprechen. Der Gang endete an einem natürlichen Altar mit einem schmalen Sims. Unleserliche Symbole waren mit Kreide an die Wand geschrieben und mit einem Zierrahmen aus Lehm versehen worden. Siri trat näher und richtete seine Lampe auf das Sims. Er beugte sich vor und schnupperte an dem dunklen Fleck, der die Platte bedeckte und sich in zwei parallel verlaufenden Rinnsalen bis über die Kante zog.

Santiago bestätigte seinen Verdacht: Es handele sich um Blut, und dies sei ein Opferaltar. Als er ihn das erste Mal gesehen habe, hätten sich weitere Gegenstände hier befunden, unter anderem ein Kessel, doch inzwischen habe sie wohl jemand fortgeschafft.

Dtui zog die Nase kraus. »Zum Glück ist das Sims zu schmal, um einen Menschen darauf zu opfern.«

Der gemeine Endoke-Zauber, erklärte Santiago, erfordere lediglich Hühner- und Schweineblut.

»Also haben Isandro und Odon zwar Tiere gequält und den Lebensmittelvorrat geplündert«, meinte Dtui, »waren ansonsten aber ungefährlich.«

Als sie dem Kubaner ihre Bemerkung übersetzte, geriet der in Rage. Er nahm Dtuis Hand und erklärte ihr, warum die beiden durchaus gefährlich waren. Das Blut der Opfertiere sollte die bösen Geister beschwören, den Rachedurst der Kubaner zu stillen. Endoke war eine Magie der Vergeltung. Wer einem Mann die Frau ausspannte, den belegte er mit einem Fluch. Wer den Bruder eines Mannes umbrachte, dem wünschte er Qualen an den Hals, die schlimmer waren als der Tod. Deshalb durfte man unter keinen Umständen den Zorn eines Endoke-Priesters erregen.

Dtui hatte Santiago eben gefragt, ob er tatsächlich glaube, dass die beiden Männer über derartige Fähigkeiten verfügten, als sie aus den Augenwinkeln bemerkte, wie Siri das Amulett unter seinem Hemd umfasste und mit besorgter Miene in den düsteren Tunnel starrte. Währenddessen ließ Santiago den Blick ein weiteres Mal über den Altar schweifen und erklärte ihr, dass die Male, die sie an ihrer Mumie entdeckt hatte, als »die Kratzer« bezeichnet wurden und denen, die diese Magie praktizierten, als Erkennungszeichen dienten. Nach der Entdeckung des Altars habe er die beiden in sein Büro zitiert und sie aufgefordert, ihr Hemd auszuziehen, worauf ihre rituellen Narben zum Vorschein gekommen seien. Da habe er …

»Wie viele?«, fragte Siri. Er hatte seine Stirnlampe abgesetzt und spähte mit zusammengekniffenen Augen in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Dtui machte sich gar nicht erst die Mühe, die Frage zu übersetzen. »Drei auf jeder Seite, Doc. Werden Sie langsam vergesslich? Ich habe Ihnen doch …« Plötzlich wurde ihr klar, dass die Frage nicht an sie gerichtet war. Siri hatte ihnen überhaupt nicht zugehört. Sie richtete ihre Lampe in den leeren Tunnel. Das Licht schien Siri aus einer Trance zu reißen.

»Einer von ihnen ist auf dem Weg hierher«, sagte er zu Dtui.

»Wen meinen Sie mit ›ihnen‹«?

»Die Geister der negritos

Sie hätte auf die Übersetzung gern verzichtet, aber das war sie Santiago schuldig. Die Nachricht schien den alten Arzt noch stärker zu beunruhigen als sie. Er presste sich rücklings gegen den Altar, und seine olivschwarzen Augen schnellten nervös hin und her.

»Und was sollen wir jetzt tun?«, flüsterte Dtui.

»Nichts«, antwortete Siri, der noch immer in den leeren Tunnel starrte. »Sie sagt, wir brauchen uns keine Sorgen zu machen.«

Dtui wollte lieber gar nicht wissen, wer »sie« war. Sie klammerte sich an Siris Arm und hielt den Atem an. Hinter ihr murmelte der Kubaner halblaut vor sich hin. Sie drehte den Kopf hin und her, ohne Erfolg. Außer Siri konnte den ungebetenen Besucher niemand sehen.

Er war nackt und schwarz wie die Nacht. Seine Gesichtszüge schienen nicht recht zusammenzupassen. Ungestüm stürzte er auf Siri zu und baute sich vor ihm auf. Obwohl es sich vermutlich um den kleineren der beiden Kubaner handelte, musste Siri den Kopf in den Nacken legen, um in die leeren, ausdruckslosen Augen des Mannes sehen zu können. Und so standen sie da und wussten nicht, wie es weitergehen sollte. Der Schwarze verlor allmählich die Geduld und wurde wütend. Er blickte Siri über die Schulter und starrte mit unverhohlenem Zorn auf Dtui. Er bleckte die Zähne und hob die Faust, als wolle er sie schlagen.

»Dtui, treten Sie zurück. Stellen Sie sich neben Santiago«, rief Siri.

Sie gehorchte, obwohl sie beim besten Willen keinen Geist sehen konnte. Siri reckte den Hals und breitete die Arme aus. Er ballte die Fäuste und fing kaum merklich an zu zittern. Das Zittern wurde immer stärker und erinnerte Dtui an das lautlose Vibrieren eines Lastwagenmotors. Als sie und Santiago sahen, wie heftig Siri zitterte, wussten sie, dass eine fremde Kraft im Spiel war. Da sie um seine Sicherheit fürchtete, schlang Dtui von hinten die Arme um den Doktor. Aber sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte ihn nicht zur Ruhe bringen.

Da plötzlich erschlaffte er in ihren Armen, und sie ließ ihn zu Boden sinken. Einige Sekunden lang war alles still und stumm. Dtui hielt Siri die Hand vor den Mund, spürte aber keinen Atem. Da schlug er, ebenso plötzlich wie er zusammengebrochen war, die Augen auf und lächelte sie freundlich an.

»Schwester Dtui, ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie dem Drang, sich mir an den Hals zu werfen, künftig widerstehen könnten.«

»Ich habe nun mal eine Schwäche für bibbernde Männer«, sagte sie. Santiago war kreidebleich; er trat zu ihnen, um seinen alten Freund zu untersuchen. Er fühlte erst Siri und dann sich den Puls. Siri sah aus, als ob er sich geprügelt hätte. Sein Gesicht war mit rätselhaften blauen Flecken übersät, die sich scharf gegen seine leichenblasse Haut abhoben. Dann kehrte seine Kraft nach und nach zurück, und die blauen Flecken verschwanden vor ihren Augen.

»Das nenne ich eine wundersame Genesung. Offenbar ist doch noch nicht aller Tage Abend, Dr. Siri«, sagte sie.

»Das alles tut mir aufrichtig leid.«

»Sie haben etwas gesehen, nicht?«

»Ja, in der Tat.«

»Was hat es gesagt?«

»Nichts.«

»Aber es hat etwas mit Ihnen angestellt.«

»Dtui, ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich habe das dumpfe Gefühl, dass einer unserer kubanischen Freunde sich in mir häuslich eingerichtet hat.«

Das übersetzte sie wohlweislich nicht.

Drei Dinge hatte der Igel unerwähnt gelassen, als er Herrn Geung auf direktem Wege nach Vientiane geschickt hatte. Erstens, dass die Straße diesen gewaltigen Schlenker nur machte, um die Ausläufer der Kuang-Si-Berge zu umgehen, von denen einige selbst für Ziegen zu steil waren. Kaum hatte Geung einen von ihnen schnaufend und ächzend bezwungen, ragte auch schon der nächste vor ihm auf.

Ferner hatte der Igel ihm nicht gesagt, was er tun sollte, wenn der Himmel bedeckt war, da Geung sich am Lauf der Sonne orientierte. Anfangs machte er einfach Rast, ließ sich nieder und wartete, bis die Wolke sich verzogen hatte. Doch je höher er kletterte, desto dichter wurden die Wolken, und die Sonne ließ sich immer seltener blicken. Folglich wurden auch die Wartezeiten immer länger, bis er gegen drei Uhr nachmittags schließlich festsaß. Er befand sich in einer Zwickmühle. Er wusste, dass er weitergehen musste, aber nicht, in welche Richtung. Die Hügel sahen alle gleich aus. Und er hatte keinen Schimmer, welchen von ihnen er soeben überquert hatte. Es gab nichts, woran er sich hätte orientieren können. Die Bäume sahen alle gleich aus.

Aber all das war ein Klacks gegen Punkt drei. Denn trotz der eifrigen Bemühungen von allerlei hungrigen Dorfbewohnern, Drogenschmugglern und Pelz- oder Organhändlern wimmelte es in diesen Hügeln nach wie vor von wilden Tieren. Wären sie ihm über den Weg gelaufen, hätten die meisten vor Herrn Geung vermutlich größere Angst gehabt als er vor ihnen. Doch ein Tigerweibchen, das ihm seit dem Wasserfall nachstellte, hatte keine Angst. Sie musste ihre Jungen durchfüttern, und ihre Suche nach Beute war erfolglos geblieben. Der Mensch, den sie verfolgte, hatte reichlich saftiges Fleisch auf den Rippen und steuerte geradewegs auf ihr Versteck zu. Ganz so als ob sie ihn sich aufs Zimmer bestellt hätte und er nun an ihre Türe klopfen würde.