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Siri kehrte ins Gästehaus Nr. 1 zurück. Santiago setzte ihn dort ab und überschüttete ihn wie üblich mit Worten, die Siri nicht verstand. Siri antwortete gleichermaßen unverständlich, und sie trennten sich mit einem freundschaftlichen Händedruck und schallendem Gelächter.
Bei Kilometer 8 hatte der Kubaner Dtui und dem Doktor zwingende Indizien dafür präsentiert, dass Isandro und Odon sich als Hobbymagier betätigt hatten. Die Beweislage war erdrückend. In zwei Fällen ließ sich beim besten Willen keine andere Erklärung finden. Der erste betraf eine Vietnamesin, die mit den vietnamesischen Ingenieuren nach Vieng Xai gekommen war. Sie kochte für sie und erledigte ihre Wäsche. Wie sich bald herausstellte, war sie eine unverbesserliche Rassistin. In ihren Augen standen Schwarze auf der Evolutionsleiter gerade einmal eine Sprosse höher als Primaten, und mit diesen Ansichten hielt sie nicht hinterm Berg. Immer, wenn sie den beiden Kubanern auf dem Krankenhausgelände begegnete, beschimpfte sie die Männer lauthals und mit stolzgeschwellter Brust als Affen. Da sie die beiden für zu dumm hielt, ihre Sprache zu verstehen, begleitete sie ihre Schmähungen mit eindeutigen Gesten.
Sie war eine wenig attraktive Frau von abscheulichem Charakter, doch einsame Männer in einem fremden Land haben die unselige Neigung, derlei Schwächen geflissentlich zu übersehen. Und so begab es sich, dass die Frau schwanger wurde. Sie verkündete, das Wunder der unbefleckten Empfängnis sei ihr widerfahren, und da sich keiner der Männer freiwillig zu seiner Vaterschaft bekannte, glaubten die Einheimischen ihr die Geschichte. Sie wussten, dass ihr das Gelegenheit gab, einen liebestollen Soldaten übers Ohr zu hauen und zur Heirat zu zwingen. Trotzdem schwor sie bis zuletzt, sie sei noch Jungfrau.
An dem Morgen, als sie ins Krankenhaus gebracht wurde, war Santiago nicht zugegen. Sie war im siebten Monat, und etwas Fürchterliches musste geschehen sein. Der junge laotische Chirurg, der in jener Nacht Dienst tat, glaubte die Blutung nur stillen zu können, indem er den Fötus entfernte. Die Entscheidung lag bei ihm, und niemand zweifelte an seinem Urteil. Aber die Frau starb auf dem OP-Tisch. Der laotische Arzt war untröstlich. Als Santiago vormittags zum Dienst erschien, war der junge Mann volltrunken und redete wirres Zeug. Der alte Arzt versuchte ihn zu beruhigen, ohne Erfolg. Ihm wurde klar, dass es hier um weitaus mehr ging als um die bloße Trauer eines Arztes, der einen Patienten verloren hatte. Da musste etwas anderes dahinterstecken. Santiago sprach mit der Oberschwester. Sie sagte, der Chirurg habe sie aus dem OP-Saal geschickt, bevor sie einen Blick auf den Fötus habe werfen können. Dann habe er ihn eigenhändig in die Totenhöhle gebracht, wo er noch am selben Abend eingeäschert werden sollte. Santiago war von der Geschichte so fasziniert, dass er zur Höhle hinaufstieg, wo er einen kleinen Leinensack fand, in dem er das Kind der Vietnamesin vermutete. Doch was er darin entdeckte, war nicht menschlich. Der Sack enthielt den unfertigen Fötus eines Affen.
Sowohl Siri als auch Dtui hielten dieses Schauermärchen für frei erfunden, doch der Erzähler schien glaubwürdig und noch dazu erstaunlich ruhig. Seine zweite Geschichte war nicht minder seltsam. Ein Parteikader aus Havanna war eigens angereist, um sich von der korrekten Verwendung kubanischer Hilfsgelder bei einem der wenigen humanitären Überseeprojekte seines Landes zu überzeugen. Er wollte eine Woche bleiben, die Bücher prüfen und danach die Heimreise antreten. Eigentlich nichts Besonderes, doch der Kubaner war ein aufmerksamer Mann und kannte sich mit den Palo-Bräuchen recht gut aus. Gleichwohl war er der Kommunistischen Partei Kubas verpflichtet und hatte keine Lust, seine Zeit mit Magie zu vertändeln. Die Partei hatte ihm beigebracht, der Schamanismus sei weiter nichts als Opium für das Volk, das besser daran täte, sich am Sozialismus zu berauschen.
In Vieng Xai hatte der Buchhalter etwas gesehen, das ihn mit großer Sorge erfüllte, weshalb er beschloss, Santiago darauf anzusprechen. Sie verabredeten sich für acht Uhr abends. Eine Stunde vor dieser Zeit erschien Isandro in Santiagos Büro und erklärte ihm, der Rechnungsprüfer sei urplötzlich schwer erkrankt, er halte sich den Hals und könne nicht sprechen. Der Direktor eilte ans Bett des Mannes und sah sofort, dass er Todesqualen litt. Sie schafften ihn sogleich in den OP-Saal, wo Santiago einen Luftröhrenschnitt durchführte. Da es keine Anzeichen für eine Krankheit oder eine Verletzung der Atemwege gab, musste die akute Atemnot des Mannes von starken Schmerzen herrühren. Nach einigen weiteren Explorationsschnitten hatte Santiago die Ursache gefunden. Die Epiglottis des Kubaners hatte sich in Holz verwandelt – genauer gesagt, in eine harte Substanz, die dem Kern eines kleinen Pfirsichs ähnelte. Dem Chirurgen blieb nichts anderes übrig, als sie zu entfernen. Sie versetzten den Buchhalter in ein Tiefkoma und schickten ihn zurück nach Havanna. Als sie seine Sachen zusammenpackten, um sie ihm nachzuschicken, fanden sie in seiner Tasche einen Zettel. Darauf standen die Namen der beiden Pfleger, neben die der Mann verschiedene Endoke-Symbole gekritzelt hatte.
Während die Geschichte vom Affenfötus aus zweiter Hand stammte und bis zu einem gewissen Grad aus Spekulationen und Mutmaßungen bestand, hatte Santiago diese bizarre Erscheinung mit eigenen Augen gesehen. Bald darauf hatte er den Altar entdeckt, Isandro und Odon zur Rede gestellt und sie nach Kuba zurückbeordert.
Siri wollte wissen, warum Santiago keine Angst vor Vergeltung gehabt habe, wo die beiden Männer doch angeblich über so ungeheure Fähigkeiten verfügten. Der Kubaner verzog den Mund zu einem breiten Grinsen und knöpfte sich langsam das Hemd auf. Siri und Dtui staunten nicht schlecht. Unzählige Talismane baumelten wie die Amtskette eines Bürgermeisters auf seiner Brust. Vor ihnen saß ein angesehener Wissenschaftler, der mit einem Kranz aus Talismanen, getrockneten Blüten, Metallklümpchen, diversen Zähnen und sorgsam platzierten Knoten behängt war. Es war ein Wunder, dass er bei dem Gewicht überhaupt aufrecht stehen konnte. Siris einsamer weißer Talisman konnte da nicht mithalten. Santiago bekannte sich offen und ehrlich zu seiner Angst vor den beiden Endoke-Priestern. Siri fand es irgendwie tröstlich, dass er nicht der einzige Gelehrte war, der auf Magie zurückgreifen musste, um am Leben zu bleiben.
Siri ging nach oben auf sein Zimmer und zog sich aus, um zu duschen. Seit seinem Erlebnis am Altar hatte er ein komisches Gefühl. Seltsame Gelüste regten sich in ihm. Normalerweise entledigte er sich nur ungern seiner Kleidung, aber heute verspürte er das sonderbare Verlangen, sich im Schrankspiegel zu betrachten, was er jahrelang tunlichst vermieden hatte. Er war kein Adonis. Und taugte auch nicht als Modell für eine Statue. Doch aus irgendeinem Grunde erfüllte der Anblick seines drahtigen Körpers ihn mit Stolz. Mit gefärbten Haaren hätte er glatt als fünfundsechzig, ach was: sechzig durchgehen können. Er wirkte kräftig und, ja, männlich. Heute hatte er aus irgendeinem Grunde das Gefühl, mit bloßen Fäusten Kokosnüsse, wenn nicht gar Steine spalten zu können.
Er ließ seine graue Unterhose aus PL-Beständen zu Boden sinken und stolzierte, aufrecht und splitterfasernackt, im Zimmer auf und ab. Er ließ seinen Penis hin und her baumeln, spannte seinen Bizeps, fletschte die Zähne im …
»Noch Tee?« Die Küchenfrau stand in der Tür. Er hatte sie nicht kommen hören. Sie hielt eine frische Thermoskanne in der Hand und musterte ihn mitleidig von Kopf bis Fuß, wie einen Demenzkranken, der seine Hose verlegt hat. »Alles in Ordnung, Onkel?«
Siri riss die Steppdecke vom Extrabett und schlang sie um seinen nackten Körper. »Mir fehlt nichts. Vielen Dank.«
Eine Stunde später war er – anständig gekleidet, aber nicht minder beschämt – zurück im Haus des Präsidenten. Wieder beugte er sich über die Mumie. Er hatte sich noch nie so oft mit ein und derselben Leiche befasst, doch je mehr er über sie in Erfahrung brachte, desto rästelhafter schien sie zu werden. Zweierlei machte Siri nach wie vor Sorgen. Wenn die beiden Kubaner tatsächlich nach Hause geflogen waren, was hatte Odon dann einen Monat später in der Präsidentenhöhle gesucht? Und wenn er tatsächlich brutal misshandelt und in Zement ertränkt worden war, warum hatte er sich dann so sehr an einen Schlüssel geklammert, statt sich mit beiden Händen zur Wehr zu setzen?
Siri fischte den Schlüssel aus der Hosentasche und trat hinaus auf den Balkon des neuen Hauses. Erst genoss er den grandiosen Blick über das Tal. Dann ging er in den Garten, reckte den Hals und sah zum Karstgipfel hinauf. Von dort oben war der Felsblock herabgestürzt, der zum Fund der Leiche geführt hatte. Komisch, dass er zehn Tage vor dem Konzert ausgerechnet dort gelandet war. Er näherte sich dem schmalen Weg, der zu der alten Höhle hinaufführte. Der Aufschlagpunkt befand sich genau auf halber Strecke zwischen Haus und Höhleneingang. Was hast du dort gemacht, Señor?
Nachdem die Häuser der früheren Höhlenbewohner fertig gestellt und ihre Akten und persönlichen Habseligkeiten dorthin verbracht worden waren, hatten die ranghohen Kader keinerlei Veranlassung mehr, in die Höhlen zurückzukehren. Ebenso gut hätte der Graf von Monte Christo dem Château d’If einen Besuch abstatten können, um sich der glücklichen Zeiten zu erinnern, die er dort hatte verbringen dürfen. Also waren die Höhlen versiegelt worden, um Tiere fernzuhalten und sie als historische Sehenswürdigkeiten zu bewahren. Gab es einen besseren Ort als diesen?, überlegte Siri. Gab es ein geeigneteres Versteck als die leer stehende Präsidentenhöhle?
Er folgte dem Betonweg, machte einen kleinen Bogen um die Bruchstelle und stand vor dem Höhleneingang. Eine richtige Tür in einem rechteckigen Rahmen war in die Felswand eingelassen. Da Siri von jeher zum Absurden neigte, stellte er sich vor, wie er die Klingel drückte, durch den Briefschlitz spähte und die Füße an einer Eselshaarmatte abstreifte. Doch die Tür war verrammelt und verschlossen, und um sie aufzubrechen, hätte es schon einer kleinen Brigade hartnäckiger Feuerwehrleute bedurft. Er ließ die Tür links liegen und kletterte ein Stück bergauf, aber der Pfad endete schon nach wenigen Metern in einer Sackgasse. Auf dem Weg nach unten kam er ein zweites Mal an der Tür vorbei, umrundete einen kleinen Felsausläufer und stand vor einer Art Hintertür.
Auf den ersten Blick schien auch sie verrammelt und verschlossen. Ein Nachtwächter hätte bei flüchtiger Überprüfung wohl nichts Verdächtiges festgestellt. Siri inspizierte die Bretter, die quer über das Türblatt genagelt waren. Eine dicke Eisenkette mit Vorhängeschloss schlang sich durch zwei Bügel, die den Rahmen mit der Tür verbanden. Sie wirkte stabil. Er trat einen Schritt zurück und starrte sie an. Als er des Rätsels Lösung gefunden hatte, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Das Ganze war eine geschickte optische Täuschung. Er umfasste den Griff und zog daran. Die geölten Scharniere öffneten sich, und die Tür schwang auf, samt Brettern, Rahmen und Eisenkette.
Bevor er hineinging, kramte Siri die Taschenlampe aus seiner Umhängetasche. Er hielt kurz inne, um die raffinierte Attrappe zu bewundern, und ließ sie dann lautlos hinter sich ins Schloss fallen. Die PL-Höhlen waren teils natürlich, teils von Menschenhand geschaffen. Wo es keine Felsnischen gab, dienten Sperrholzverschläge als Zimmer, sodass man sich vorkam wie in einem engen, kleinen Motel. In jeder Höhle gab es einen luftdichten Raum mit Schutztüren für den Fall eines Chemiewaffenangriffs. Aus irgendeinem Grunde – und sei es, weil die Amerikaner tatsächlich nicht gewusst hatten, wo sie steckten – waren die Pathet Lao in den Höhlen von Vieng Xai von solch gemeinen Attacken verschont geblieben.
Er folgte dem Lichtstrahl seiner Taschenlampe durch die Steinzeitwohnung. Er war nur ein einziges Mal hierherzitiert worden, um einen erkrankten Sohn des Präsidenten zu behandeln. Damals war die Höhle wohnlich eingerichtet gewesen, mit Bildern, Teppichen und Nippes. Mit ein wenig Generatorlicht und Fantasie hätte man meinen können, man befinde sich in einem Bungalow am Schwarzen Meer. Jetzt war es weiter nichts als eine Höhle. Siri öffnete die letzte Tür zu einem Nebenraum des alten Konferenzsaals, der vermutlich ebenso leer war wie die anderen Zimmer, als die Tür zu seinem Erstaunen gegen ein Hindernis stieß. Er leuchtete mit der Taschenlampe durch den Spalt und sah hinein. Der Raum war bis unter die Decke mit allerlei Gegenständen vollgestopft, wie der geheime Vorratsspeicher einer Elster.
Er ahnte, worauf er gestoßen war. Hier hatte Odon nach seiner Rückkehr aus Hanoi gewohnt. Siri stellte sich vor, wie er hier gehaust hatte, unter den wachsamen Augen der LVBA. Auf dem steinernen Feuerrost direkt unter dem Lüftungsschacht stand ein rußgeschwärzter Topf. Ein Lager aus Stroh hatte ihm als Bett gedient. Ein grüner Plastikeimer ohne Griff enthielt Trinkwasser, und an der Wand stand das einzige Möbelstück im Raum: ein hoher Kleiderschrank aus Holz. Noch bevor Siri sich ihm näherte und an der Tür zog, wusste er, dass sie verschlossen war und der Schlüssel in seiner Hand sie öffnen würde. Trotzdem zerrte er erst einmal am Türgriff, als er im Innern ein Geräusch zu hören glaubte. Der Schlüssel passte, und die Tür schwang auf. Obwohl der Schrank auf den ersten Blick leer zu sein schien, schoss etwas blitzschnell aus der Dunkelheit hervor und verfehlte sein Ohr nur um Haaresbreite. Er war zu langsam, um es mit dem Lichtstrahl der Taschenlampe zu verfolgen, aber er hatte das leise Flügelschlagen wenn schon nicht gehört, so doch deutlich gespürt. Vermutlich eine Fledermaus, aber das ließ sich nicht mit Gewissheit sagen, denn sie war schon aus dem Zimmer. Er sah noch einmal in den Schrank – ein einfaches Rechteck mit einem Ablagefach und einer Garderobenstange. Das war alles – keine Kleider, nichts. Nicht einmal ein Spiegel an der Türinnenseite. Er fragte sich, weshalb jemand einen leeren Schrank verschloss und den Schlüssel nicht einmal im Angesicht des Todes aus der Hand gab.
Siri tastete sämtliche Ritzen und Winkel des alten Schrankes ab, um das Loch oder den Spalt zu finden, durch den die Fledermaus eingedrungen war. Doch seine Suche blieb erfolglos, und so begann er noch einmal von vorn, etwas gründlicher diesmal. Er drückte von innen gegen die Wände, in der Hoffnung, dass sie nachgeben würden. Er klopfte das massive Teakholz systematisch ab, trat einen Schritt zurück und kratzte sich am Kopf. Nichts. Die Fledermaus konnte unmöglich von außen in den Schrank gelangt sein. Unter keinen Umständen. Aber das verstieß gegen sämtliche Regeln der Logik. Der Schlüssel stammte aus der Hand eines Mannes, der fünf Monate zuvor in Zement gegossen worden war. In dieser Zeit hätte die Fledermaus Berge von Futter benötigt. Doch selbst wenn der Schrank mit Futter vollgestopft gewesen wäre, hätte sie im Laufe von fünf Monaten Unmengen von Scheiße produzieren müssen, und davon war weder etwas zu sehen noch zu riechen. Siri stand vor einem Rätsel.
»Also gut«, sagte er laut, und seine Stimme hallte von den Höhlenwänden wider. »Dann muss jemand einen Zweitschlüssel besitzen. Und dieser Jemand – nennen wir ihn der Einfachheit halber Isandro – hat den Schrank ausgeräumt und die Fledermaus darin eingesperrt. Vielleicht war es aber auch ein Versehen, und er hat das Tier gar nicht bemerkt. Aber warum hätte er den leeren Schrank dann wieder verschließen sollen?« Siri war beileibe kein Experte für die Fressgewohnheiten von Fledermäusen. Er wusste nur, dass sie wie Ente schmeckten und sehr gesund waren. Trotzdem konnte er sich nicht vorstellen, dass eine Fledermaus länger als zwei Wochen ohne Nahrung oder Flüssigkeit auskommen konnte. Was wiederum bedeutete, dass Isandro noch Monate nach der Ermordung seines Freundes in der Höhle gewesen sein musste.
Er wusste, dass diese Theorie mehr Löcher hatte als ein Schweizer Käse, auch wenn er den nur vom Hörensagen kannte. Aber wenigstens hatte er jetzt eine leidlich plausible Hypothese. Die nächste halbe Stunde verbrachte er damit, das Zimmer gründlich zu durchsuchen. Alles war mit schimmernden Spinnweben bedeckt, die im Schein der Taschenlampe wie Raureif glitzerten. Er fand einen Rucksack, mehrere Haufen achtlos zurückgelassener Kleider, Wasch- und Rasierzeug, eine Handvoll spanischer Bücher, Kerzen, zwei nicht geladene Makarow-Pistolen aus sowjetischen Armeebeständen, ein kleines Paket mit Trockenrationen – Tee, Kaffee, Milchpulver -, ein Tablett mit den versteinerten Überresten verschiedener Gemüse, Streichhölzer sowie eine alte Taschenlampe, deren Batterien ausgelaufen waren und ringsum alles mit einer spröden weißen Kruste überzogen hatten.
Falls bei Kilometer 8 tatsächlich Opfergegenstände verschwunden waren, so befanden sie sich weder in diesem Zimmer noch anderswo in der Präsidentenhöhle. Und wenn Odon nach seiner Rückkehr auch weiterhin schwarze Magie praktiziert hatte, dann ganz gewiss nicht hier.
Zu seinem Erstaunen entdeckte Siri die Reisepässe der beiden Kubaner in einer alten Konservendose auf einem provisorischen Regal, zusammen mit mehreren, von Gummibändern zusammengehaltenen Bündeln laotischer Kip. Wunderschöne Scheine, von denen der König, mit kantigem Kiefer und Bürstenschnitt, den Betrachter trotzig anfunkelte. Nach zwei verheerenden Entwertungen und der Umstellung auf den schwachen liberation kip besaßen sie allerdings nur noch ästhetischen Wert.
Siri hatte genug gesehen, außerdem bekam er allmählich Platzangst. Er ging zur Seitentür zurück und trat hinaus in die gleißende Sonne. Als seine Augen sich an das grelle Licht gewöhnt hatten, blickte er an sich hinunter und bemerkte, dass sein dunkelblaues Safarihemd und seine schwarze Hose mit einer dicken weißen Staubschicht überzogen waren. Er wollte sich eben abklopfen, als er sah, dass sich der Staub bewegte. Er fuhr mit der Handkante über seinen Ärmel und schaute etwas genauer hin. Verblüfft stellte er fest, dass er vom Kragen bis zu den Manschetten mit winzigen weißen Spinnen übersät war. Als er die Spinnweben beiseitegewischt hatte, um das Zimmer zu durchsuchen, hatten die Tiere sich an seine Kleidung geheftet. Er betrachtete sich voller Bewunderung – Millionen mikroskopisch kleiner Spinnen reflektierten das Sonnenlicht wie ein schillernder Elvis-Presley-Anzug.
Als Siri ins Gästehaus Nr. 1 zurückkam, stand Lits Jeep vor der Tür. Er fragte sich, warum die Ermittlungsarbeit allein ihm überlassen blieb, während der Sicherheitschef weiter nichts tat, als hin und wieder einen Gastauftritt zu absolvieren und sich Unmengen von Notizen zu machen. Auf der Vortreppe fiel ihm die Antwort ein. Wie Santiago angedeutet hatte, war Lit in erster Linie Bürokrat. Ein treuer Parteisoldat, der seitwärts befördert wurde – diesen Monat Chef der Sicherheitsabteilung, nächsten Monat Leiter der Abfall- und Abwasserentsorgung. Dabei ging es weniger um Qualifikation als um Vertrauen. Er war weder Polizist noch ausgebildeter Ermittler und hatte keinen Schimmer, wie er diesen, seinen wichtigsten Fall handhaben sollte, der bis in höchste Kreise zu reichen schien. Zwar befanden sich unter seinen Leuten zweifelsohne kompetente Polizisten, doch durfte er sich keinesfalls dabei erwischen lassen, wie er in einer so bedeutenden Angelegenheit wie dieser die Zügel aus der Hand gab. Da kam ihm Siri wie gerufen.
»Dr. Siri, ich hätte nicht gedacht, dass wir uns noch einmal wiedersehen«, sagte der Chef und stand auf, um dem Doktor die Hand zu schütteln.
»Genosse Lit, Sie hätten jederzeit bei Kilometer 8 vorbeischauen können. Sie wussten doch, wo ich zu finden war.«
»Ich wollte Sie nicht stören. Ich weiß ja, wie hektisch es dort draußen manchmal zugeht. Aber wollen wir uns nicht in den Speisesaal setzen? Ich habe uns ein paar Flaschen vietnamesisches Bier mitgebracht. Ich bin gespannt, wie Sie mit den Ermittlungen vorangekommen sind.«
Das Bier erwies sich als keine gute Idee. Es war warm und schon ein wenig schal, und Siri wusste aus Erfahrung, dass es ihm einen mächtigen Brummschädel bescheren würde. Trotzdem verlief die Besprechung durchaus angenehm. Er schilderte Lit in allen Einzelheiten, was geschehen war – der Altar, die Opferungen, das Geheimversteck in der Präsidentenhöhle – und verschwieg ihm lediglich die Begegnung mit Odons Geist und der Fledermaus. Lit schien beeindruckt und machte sich eifrig Notizen. Viel mehr hatte er offenbar nicht beizutragen. Weder war es ihm gelungen, Oberst Ha Hungs Familie ausfindig zu machen, noch hatte er einen Zeugen für die Rückkehr der beiden Kubaner aus Hanoi auftreiben können. Siri bezweifelte, dass der Mann es überhaupt versucht hatte.
Eine Frage ließ Siri keine Ruhe: Warum hatten die zuständigen Behörden ein erkleckliches Sümmchen für den Bau eines Weges bereitgestellt, der vom Haus des Präsidenten zu dessen früherer Höhle führte, obwohl die Höhle verlassen war und seit dem Auszug niemand auch nur das geringste Interesse dafür bekundet hatte? Lit erklärte ihm, es handele sich um einen historischen Ort wie Lincolns Hütte oder Hitlers Bunker, und in nicht allzu ferner Zukunft würden Scharen von Touristen nach Vieng Xai pilgern, um die Gründungsstätte der stolzen, ruhmreichen Republik in Augenschein zu nehmen.
Diese Antwort genügte Siri, obwohl er sich Busreisen nach Vieng Xai nur schwer vorstellen konnte. Sie tranken ihr Bier aus Teetassen, bis Lit schließlich in den Nebel davonfuhr, der mit dem Einbruch der Dunkelheit gekommen war.
Jetzt saß Siri mit einer Tasse starkem Kaffee auf der Veranda. Ihm fehlte der Klang der klui, die ihre immer gleiche Melodie spielte. Der Wachposten im ersten Stock war verschwunden, ebenso die Sperrholzwand, und die Zimmer standen leer. Keiner der Angestellten schien zu wissen oder preisgeben zu wollen, wohin man die königliche Familie gebracht hatte, und Siri glaubte nicht, dass er sie jemals wiedersehen würde. Das Küchenpersonal war zu Bett gegangen und hatte Siri gebeten, die Tasse über Nacht mit auf sein Zimmer zu nehmen. Die Tassen waren, wie Teller und Besteck, nummeriert und wurden zu jedem Monatsletzten einer gründlichen Inventur unterzogen.
Nach den zwei arbeitsreichen Tagen im Krankenhaus genoss er die nächtliche Ruhe von Vieng Xai. Obwohl es sich um eine mittlere Großstadt handelte, waren die Einwohner Landmenschen, die früh schlafen gingen und mit der Sonne aufstanden. Er genoss die Kälte und die feuchten Wolken, die so tief hingen, dass er nur auf einen Stuhl zu klettern brauchte, um hineinzugreifen. Er genoss das ferne Krähen eines nicht ganz stimmsicheren Hahns und das Bellen der Lemuren hoch oben in den Karsten. Und dann, als wollte der Gott des Elends persönlich ihm die Laune verderben, plärrte auf einmal die verfluchte Diskothek los. Es war kein Plattenspieler und kein Radio. Der Bass ließ den Boden unter seinen Füßen erzittern. Er hörte junge Leute einen Refrain mitgrölen, dessen Text sie nicht verstanden.
Da er seit seiner Rückkehr noch nicht auf seinem Zimmer gewesen war, lag seine Tasche mit der Lampe neben ihm auf dem Stuhl. Irgendetwas drängte ihn, der Sache auf den Grund zu gehen und dem Beat zu folgen. Das Echo in einem Tal voller Felsnadeln kann bisweilen täuschen, doch der Lärm schien aus dem Höhlenkomplex der Armee zu kommen. Der lag knapp einen Kilometer entfernt, hinter dem Fußballplatz. Er trank seinen Kaffee aus und steckte die Tasse in seine Tasche. Ohne seine Taschenlampe hätte er sich mit Sicherheit verlaufen. Am Himmel standen weder Mond noch Sterne, und da das Personal des Gästehauses bereits im Bett lag, brannte auch kein Licht, das ihm den Weg hätte weisen können. Orientierung boten ihm allein das Pochen unter seinen Füßen und die immer lauter werdende Musik. Doch als er sich dem Krach auf leisen Sohlen näherte, geschah etwas Unerhörtes. Plötzlich packte ihn der Rhythmus.
In ihrer Zeit an der Pariser Universität hatten Siri und Boua gelegentlich in kleinen Studentencafés miteinander getanzt. Nach ihrer Rückkehr in die Heimat hatten sie sich den rauschhaften lumwong-Kreistänzen hingegeben, einer Art Zeitlupen-Mückenklatschen zu Musikbegleitung. Doch weder das eine noch das andere erforderte besonderes Rhythmusgefühl, was Siri sehr entgegenkam, denn er verfügte über nichts dergleichen. Kopfnicken und Fingerschnippen waren ihm fremd, trotzdem bewegte er sich zu seinem Erstaunen im Takt der Musik. Er schwang sogar die Hüften. Der Mittelfinger seiner rechten Hand schnipste immer wieder gegen den Daumenballen und erzeugte dabei ein Geräusch wie ein Streichholz auf einer nassen Reibfläche. Es war eine bizarre, aber keineswegs unangenehme Empfindung. Er fühlte sich eins mit der Musik, eine unerklärliche Symbiose, die er noch bis vor Kurzem für unmöglich gehalten hätte.
Er überquerte das holprige Fußballfeld und nahm den unbefestigten Weg, der am Haus des Generals vorbei zu den Armeehöhlen führte. Er war bereits ein paar Mal dort gewesen. Oben lagen die in den Berg gehauenen Wohnungen der Militärführung. Darunter erstreckte sich eine riesige natürliche Höhle, die man zum Konzertsaal ausgebaut hatte. Am einen Ende befand sich eine betonierte Bühne mit einem tiefen Orchestergraben. Die Sitzreihen stiegen zum schmalen Höhleneingang hin sanft an, durch den tagsüber ein wenig Licht und nachts kühle Luft hereinströmte. Der Saal verfügte über eine Quelle, an der die Konzertbesucher ihren Durst löschen konnten, und eine Akustik, um die ihn selbst die Mailänder Scala beneidet hätte.
Hier sollte in der nächsten Woche das Konzert für Freundschaft und Zusammenarbeit stattfinden, ein starträchtiges Spektakel zur Feier der Unterzeichnung des laotisch-vietnamesischen Fünfundzwanzig-Jahres-Vertrages über Freundschaft und Zusammenarbeit der beiden Staaten. Die früheren Höhlenbewohner würden zu einem nostalgischen Wochenende anreisen, die ausländischen Gäste in ihre eleganten neuen Häuser einladen und sie am Sonntagabend in dieses unterirdische Wunderwerk entführen, um sich eine Vorstellung der besten vietnamesischen Tänzer und Musiker anzusehen. Danach würden sie sich beim lumwong ins Reiswhisky-Nirwana schunkeln, bis sie in ihr Quartier zurückgetragen werden mussten. Siri hatte Lit gefragt, warum das Unterhaltungsprogramm ausschließlich von Vietnamesen bestritten werde. Zwar rage die Provinz Houaphan geografisch gesehen in das Nachbarland hinein wie der Hintern einer dicken Frau aus einem schmalen Badezimmerfenster, gehöre seines Wissens aber immer noch zu Laos. Lit betete die entsprechenden Parolen herunter – »unseren vietnamesischen Gästen Respekt zollen«, »von erfahreneren Künstlern lernen« -, hatte jedoch keine Erklärung dafür, warum Laos nicht eine einzige Attraktion zu bieten hatte, mit der man die Gäste hätte beeindrucken können.
Diese Gedanken schossen Siri durch den heftig wippenden Kopf, als er sich der Quelle des Lärms näherte. Er redete sich ein, es müsse sich um eine Probe handeln. Vermutlich stellten sie die Lautsprecheranlage auf die Saalakustik ein und hatten nur Discomusik auf Band. Es war eine logische Erklärung, und er konnte sich eventuell dazu durchringen, ihnen zu verzeihen. Er hatte die letzten drei Jahrzehnte in Gesellschaft von Soldaten zugebracht, für die Gehorsam und Befehlserfüllung sämtliche sozialen und moralischen Bedenken außer Kraft setzten.
Da die dichten Stachelbeerbüsche, die einst zur Tarnung des Höhleneingangs gedient hatten, beseitigt worden waren, gelangte Siri ungehindert bis vor die Öffnung in der Felswand. Nun musste er nur noch zwei, drei hohe Steinstufen erklimmen, dann schließlich stand er an der Treppe, die in den Saal hinunterführte. Von hier oben konnte er bis zur Bühne sehen. Ihm blieb die Luft weg. Er plumpste schwerfällig auf eine Stufe. Eine Sekunde später, und er wäre aus den Pantinen gekippt. Der Konzertsaal war voll – berstend voll -, ein brodelnder Hexenkessel, ein wildes Getümmel und Gewimmel. Er hatte keine Ahnung, wo die Musik herkam. Nirgends waren ein Discjockey oder gar Lautsprecher zu sehen, trotzdem ging ihm der stampfende Beat durch Mark und Bein. Er schlug mit dem Fuß den Takt und ließ den Blick über die wogende Menge schweifen. Das waren keine schicken jungen Leute in Schlaghosen und breitkragigen Hemden. Sondern Menschen wie du und ich. Bauern, Mütter, die ihre Babys auf dem Rücken trugen, alte Männer. Die einzigen Teenager, die er ausmachen konnte, steckten in fleckigen Uniformen und machten ein verwirrtes Gesicht, als hätten sie sich versehentlich hierher verirrt. Selten hatte sich in Houaphan ein so gemischtes Publikum an einem Ort versammelt und mit solcher Begeisterung gefeiert.
Abgesehen von seiner Liebe zum Jazz interessierte Siri sich nicht für amerikanische Musik und hätte nicht einmal die einfachsten Fragen zu Genres und Geschichte beantworten können. Doch entweder von Dtui oder einer der anderen Schwestern in der Mahosot-Klinik hatte er irgendwann einmal das Wort Disco gehört und sich verwundert gefragt, wie es durch die Maschen des staatlich verordneten Antiamerikanismus hatte schlüpfen können. Seit er wusste, wie man die Musik nannte, hörte er sie immer häufiger im thailändischen Radio. Sie war auf dem Schwarzmarkt für beschlagnahmte US-Waren erhältlich. Laotische Tanzkapellen schmuggelten die eine oder andere Nummer in ihr Repertoire und verkauften sie den Regierungsspitzeln als traditionelle Stammesmusik. Und jetzt hörte er sie hier, in der Konzerthöhle von Houaphan.
Das Blut war in Siris Beine zurückgekehrt, und seine Knie zuckten wie Scheibenwischer im Rhythmus der Musik. Seine anfängliche Panik hatte sich in Euphorie verwandelt. Er hatte sofort erkannt, was diese begeisterten Partygänger einte. Ihnen allen war ein Leben ohne Angst verwehrt geblieben. Sie waren die unschuldigen Opfer eines endlosen Krieges. Sie alle wollten weiter nichts als leben. Leider hatten sie das Pech, in einer Provinz geboren worden zu sein, die sich zu einem Spielball der Politik entwickelt hatte. Aus Gründen, die sie nicht recht begriffen, waren sie der Feind, denn wozu sind Kriege gut, wenn niemand leidet? Die Tänzer in der Disco-Höhle hatten allesamt gelitten, die einen mehr, die anderen weniger, bis ihr Tod dem Leid ein Ende setzte. Einen spirituellen Schwof dieser Größenordnung hatte Siri noch nie erlebt. Er war ein Neuling auf diesem Gebiet. Zwar hatte er schon des Öfteren Stimmen gehört, aber ein solcher Anblick hatte sich ihm noch nie geboten. Sein persönlicher Rekord stand bei drei Geistern.
Noch vor einer Woche hätte er an dieser Stelle lächelnd den Heimweg angetreten. Wozu hätte er auch bleiben sollen? Heute jedoch ertappte er sich dabei, wie er die Treppe hinunterstieg, um sich unter die Tanzenden zu mischen. Er wusste, dass ein rhythmusverliebter Geist in seinem Körper wohnte, und wie konnte er dem armen Mann seinen letzten Tanz abschlagen? Niemand nahm Anstoß an dem alten Arzt. Niemand schenkte ihm Beachtung. Fast so, als wäre er als Einziger nicht da. Er bahnte sich höflich und jeden Körperkontakt vermeidend einen Weg durch die Menge und sprang und hüpfte so fröhlich und ausgelassen wie noch nie.
Nach einer halben Stunde tanzte er noch immer. Er war erschöpft, konnte aber einfach nicht aufhören. Er kannte die menschliche Anatomie genau und wusste, weshalb ihm welcher Muskel wehtat, aber heute Abend war er nichts weiter als ein Gefäß. Seine schwächelnde Lunge rasselte wie eine bulgarische Klimaanlage. Die Musik wurde immer lauter und dröhnte ihm in den Ohren. Die Menge scharte sich um ihn. Plötzlich war er wie geblendet. Wie aus dem Nichts richtete sich ein Scheinwerfer auf ihn – Licht aus – Spot an – der Diskothekenkönig – die Menge weicht zurück – er legt ein kesses Solo aufs Parkett – das Mikrofon: »He!«
»He«, sagte er.
»He, Genosse.«
»He, Genosse«, sagte er.
»Was machen Sie denn da?«
Er sagte: »Wa-…« Siri starrte angestrengt in das grelle Scheinwerferlicht. Jetzt war es nur noch eine Lampe. Sie lag in der Hand eines Mannes mit einer viel zu großen Uniformjacke und einer Strickmütze auf dem Kopf. Er leuchtete Siri mit seiner Taschenlampe direkt ins Gesicht. Der Doktor blickte um sich. Die kalte Kalksteinhöhle war verlassen.
»Sie haben hier nichts verloren. Was treiben Sie denn hier, so ganz allein im Dunkeln?«, fragte der alte Wachmann. »Sie sind doch nicht etwa betrunken?«
Siri stützte die Hände auf die Knie und rang nach Atem. Sein Körper hatte soeben eine Bergetappe der Tour de France hinter sich gebracht. Er wusste, dass er morgen früh nicht aus dem Bett kommen würde. Doch kaum bekam er wieder etwas Luft, fing er schallend an zu lachen. Der Wachmann hielt Siri für verrückt und trat einen Schritt zurück.
»Verzeihung, Genosse«, sagte Siri schließlich. »Aber ich habe für das Konzert nächste Woche geprobt.«
»Was Sie nicht sagen. Dass die einen alten Mann wie Sie noch auf die Bühne zerren. Die sollten sich was schämen.«
»Ich bin sehr viel jünger, als ich aussehe, Bruder.«
»Sie müssen wissen, was Sie tun. Aber bleiben Sie nicht die ganze Nacht hier.«
»Keine Sorge. Danke.«
Der alte Wachmann ließ von ihm ab und folgte dem Lichtstrahl seiner Taschenlampe in einen ominösen Tunnel am anderen Ende des Auditoriums. Siri rührte sich nicht von der Stelle. Er stand inmitten der riesigen, menschenleeren Diskothek, und obwohl er sich reichlich albern vorkam, fühlte er sich erfrischt und voller Energie.