177555.fb2 Totentanz f?r Dr. Siri - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 12

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11EIN HOCHANSTÄNDIGES ANGEBOT

Herr Geung saß seit achtzehn Stunden auf dem Baum. Er hätte gern auf seine Armbanduhr geschaut, doch die lag gut versteckt unter einer losen Fliese unter seinem Bett in der Klinik. Die achtzehn Stunden waren also eine bloße Schätzung. Es hätten ebenso gut drei Stunden sein können oder eine Woche. Er hatte ausreichend zu essen und zu trinken, aber er war schrecklich müde und wusste noch immer nicht, wie er hier oben schlafen sollte, ohne herunterzufallen. Obwohl er den Verband streng nach Anweisung gewechselt hatte und die Wunde nicht entzündet schien, schmerzte seine Schulter. Zwar war er inzwischen so etwas wie ein Experte für Wunden jeder Art, doch erst jetzt wurde ihm klar, wie weh die Dinger taten. Die Kletterei hatte ein Übriges getan. Es erfüllte ihn mit Stolz, dass er es mit einem Arm bis hier herauf geschafft hatte. Er war noch nie ein großer Kletterer gewesen, andererseits hatte er sich auch noch nie vor einer Raubkatze in Sicherheit bringen müssen.

Der Tiger hatte ihn nicht auf den Baum gejagt, jedenfalls nicht im üblichen Sinne. Er hatte nicht etwa Anlauf genommen und zum Sprung angesetzt, sodass seine Beute gezwungen war, sich in heller Panik auf einen hohen Ast zu flüchten. So war es nicht gewesen. Geung hatte wie schon so oft dagesessen und auf die Sonne gewartet, als er den Tiger am Rande der Lichtung bemerkte. So ein Tier hatte er erst ein einziges Mal gesehen, bei der letzten Neujahrsgala. Der Reaktion des Publikums nach zu urteilen waren Großkatzen mit Reißzähnen furchterregende Geschöpfe. Am Ende der Vorstellung war er genauso nervös gewesen wie die übrigen Zuschauer. Angst ist ansteckend, und das ist auch gut so, denn sonst hätte er womöglich versucht, sich dem Tiger zu nähern und Freundschaft mit ihm zu schließen. Der Tiger hätte ohne Weiteres angreifen und Herrn Geung bei einem seiner elf Versuche, den Baum zu erklimmen, mit Haut und Haar verschlingen können. Aber es war helllichter Tag, und seine Beute war noch nicht schwach genug. Er hatte sie in die Enge getrieben, und früher oder später würden ihre Kräfte schwinden.

Dtui und Geung saßen im Baum, erzählten sich Witze und lachten über ihre missliche Lage. Sie hielten sich gegenseitig wach. Einmal, als der Tiger ihnen nachzuklettern versuchte, ermutigte Dtui ihren tapferen Gefährten, mit einem Zweig nach dem sabbernden Maul der Katze zu schlagen. Zusammen mit seiner Freundin ließ es sich hier oben prima aushalten. Wären seine Müdigkeit und der unbequeme Hochsitz nicht gewesen, hätte es ein höchst vergnügliches Abenteuer sein können.

Dtui war im Schlafsaal. Wieder stand ihr Geungs Bild deutlich vor Augen. Hätte es in der Pathologie doch nur ein Telefon gegeben, dann hätte sie anrufen und sich nach dem Stand der Dinge erkundigen können. Die kleine Panoy lag in demselben Bett, in dem auch Frau Wunderlich gelegen hatte. Sie war noch nicht wieder bei Bewusstsein, doch ihr Puls raste wie der eines Pferdes. Sie war eine echte Kämpfernatur. Dtui nahm sich fest vor, das Mädchen wieder in ihr Dorf zurückzubringen.

Sie strich Panoy das Haar aus der Stirn und wandte sich zum Gehen. Zu ihrem Erstaunen stand Genosse Lit in der Tür. Er hatte die Sonne im Rücken und sah aus wie ein junger Gott. Die neuen Epauletten auf den Schultern seiner Uniform schimmerten wie Engelsschwingen. Fast hätte sie vergessen, dass sie ihn nicht ausstehen konnte.

»Schwester Dtui.« Er nickte steif.

»Genosse Lit. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Hätten Sie vielleicht ein paar Minuten Zeit für mich?«

»Schießen Sie los«, sagte sie.

»Ich dachte, wir könnten vielleicht nach draußen gehen.«

»Genosse, diese Patienten sind so stark sediert, dass sie selbst dann noch beseelt lächeln würden, wenn Sie sie mit einem Lastwagen überrollen würden.«

»Trotzdem …«

»Es ist heiß draußen. Hier drinnen ist es zwanzig Grad kühler … außerdem bin ich im Dienst.« Er ging ihr auf die Nerven. Konnte er nicht einfach sein Sprüchlein aufsagen und sich wieder verdrücken?

»Wie Sie wünschen«, sagte er und trat ins Zimmer. Dtui stemmte den Arm in die Hüfte und rechnete mit einer Gardinenpredigt. Doch die Aura der Arroganz, die den Sicherheitschef sonst umgab, war mit einem Mal wie weggeblasen. Er wirkte irgendwie zerbrechlich, schüchtern beinahe. Es bereitete ihm sichtlich Mühe, aufrecht zu stehen: Er erinnerte eher an einen schlaffen Wandbehang denn an eine starke Säule. Sein Schweigen beunruhigte Dtui.

»Je eher Sie mit der Sprache herausrücken, desto eher kann ich wieder an die Arbeit gehen«, sagte sie. Seine unsichere Miene verwirrte sie. Er starrte über ihre Schulter hinweg auf einen Punkt an der Wand.

»Ja«, sagte er schließlich. »Sie haben Recht. Das Leid der Unterdrückten und Geknechteten hat Vorrang vor unseren alltäglichen Sorgen und Nöten. Das Wohl der Patienten steht für uns ganz zu Recht an erster Stelle.«

»Gut«, sagte sie. »Dann haben Sie doch sicher nichts dagegen, wenn ich mich jetzt um die Geknechteten kümmere.« Sie ging an ihm vorbei zur Tür. Die Situation hatte etwas Absurdes.

»Aber …«

Sie drehte sich um. »Aber?«

Wie auf ein Stichwort hob er zu einer Rede an. Er hatte sie eindeutig erst niedergeschrieben und dann auswendig gelernt. Dennoch gab es für Dtui nicht den geringsten Zweifel, dass Genosse Lit stundenlang an diesem Vortrag gefeilt, gehobelt und geschliffen hatte. Trotz diverser unpassender Vergleiche aus dem Ingenieurswesen war sie ohne Frage das Schönste, was sie je gehört hatte.

Zwar hatte sie in ihrer Schulzeit durchaus den einen oder anderen Freund gehabt. Zumindest war es damals üblich gewesen, Pärchen zu bilden und miteinander zu »gehen«. Aber die Jungs, mit denen sie sich eingelassen hatte, waren ausnahmslos Versager gewesen. Sie interessierten sich mehr für ihre Brüste als für ihre Seele. Immer wenn sie an diese desaströsen Tête-à-têtes zurückdachte, erinnerte sie die Hautfarbe ihrer Verehrer unweigerlich an Früchte – an das Blassrosa der Lychee, das Braun des Breiapfels, das Orange der Süßmango -, und genau wie überreife Früchte waren diese Kerle verdorben und widerlich gewesen. Und hatten sie schließlich sitzen lassen. Während Lit seine Ansprache herunterleierte wie ein Fünftklässler den Fahneneid, verliebte sie sich Hals über Kopf in seine Worte. Auch wenn sie sich hinterher an kaum eines entsinnen konnte, weil sie so überwältigt war, dass ihr Gedächtnis sie im Stich ließ. Sie wusste nur noch, dass sie bei der Ausgrabung der Mumie ungeheuren Eindruck auf ihn gemacht hatte. Er hatte ihr gestanden, dass er ständig an sie denken müsse, und ihre Augen mit Sternen verglichen. Was vermutlich auf einen bekannten Schlager zurückging, aber dieses kleine Plagiat verzieh sie ihm gern. Dass er ihre Augen überhaupt bemerkt hatte, genügte ihr. Er hatte ihr seine Vermögenslage und seine Aufstiegschancen dargelegt, und dann, quasi im selben Atemzug, hatte er die Bombe platzen lassen: Er wäre hocherfreut, wenn Schwester Dtui ihm die Ehre erweisen würde, seine Frau zu werden – einfach so, vom Fleck weg, ohne auch nur anzudeuten, dass er die Ware zuvor prüfen wolle.

So etwas bleibt bei einer Frau nicht ohne Wirkung, zumal wenn sie solch einen Antrag noch nie zuvor erhalten hat. Ein Mann – der nicht nur über zwei gesunde Augen, sondern auch über sämtliche erforderlichen Gliedmaßen verfügte – war ihr so sehr zugetan, dass er sein Leben mit ihr verbringen wollte. Das genügte, um sie die Abneigung, die sie ihm gegenüber empfunden hatte, vorübergehend vergessen zu lassen. Ihre Knie bebten so heftig, dass sie sich auf die Kante eines Bettes setzen musste. Sie brachte kein Wort heraus. Er wiederum war mit seinem Text zu Ende, und so saßen beziehungsweise standen sie stumm in dem dunklen Zimmer, begleitet nur vom bewusstlosen Zungenschnalzen eines alten Mannes.

Endlich fand Dtui ihre Stimme wieder. »Ich …«

»Sie werden vermutlich etwas Zeit brauchen, um über all das nachzudenken«, fiel er ihr ins Wort. »Die Entscheidung liegt ganz bei Ihnen. Ich sollte vielleicht hinzufügen, dass die Bezirkskommission für Partnerschaften und Beziehungen unseren Antrag auf Verlobung bereits bewilligt hat. Mit Unterschrift und Siegel. Nun gut. Dann bis später.« Zwar salutierte er nicht, bevor er sich zum Gehen wandte, doch das Nicken, mit dem er sie bedachte, ehe er triumphierend in die Sonne hinaustrat, hatte durchaus militärischen Charakter.

Schwester Dtui verschlug so leicht nichts die Sprache. Das war eine ihrer Stärken. Sie war nie um eine clevere Antwort verlegen – eine witzige Bemerkung, die selbst in den dunkelsten Momenten zur Erheiterung beitrug. Jetzt aber saß sie geschlagene fünf Minuten im Saal der Bewusstlosen und wusste beim besten Willen nichts zu sagen. Sie war ebenso benommen wie die Patienten ringsumher. Und wäre es vermutlich auch noch eine Weile geblieben, wenn Panoy nicht ausgerechnet in diesem Moment aus ihrem Koma erwacht wäre. Als sie ein Geräusch hörte, schrak Dtui unwillkürlich zusammen. Sie drehte sich um und sah Panoy aufrecht im Bett sitzen. Die kleine Hmong starrte sie aus großen Augen an. Sie murmelte mit schwacher Stimme etwas vor sich hin, das Dtui nicht verstand. Eines jedoch war ihr sofort klar. Es war nicht die Stimme eines Kindes.

Nachdem auch der letzte Gast das Gästehaus Nr. 1 geräumt und seine Habe den Langfingern überlassen hatte, gab es für den Lastwagen des Gästehauses keine Verwendung mehr. Und so hatte das Personal auch nichts dagegen, wenn Siri ihn sich borgte – sofern er das Benzin aus eigener Tasche bezahlte. Er hatte gehört, unweit der Grenze, bei Sop Hao, habe eine vietnamesische Einheit ihre Zelte aufgeschlagen. Dieselbe Einheit war bis zu dem groß angekündigten, dann aber doch nur vorübergehenden Abzug der vietnamesischen Truppen in Laos stationiert gewesen. Es war dieselbe Einheit, die Oberst Ha Hung befehligt hatte. Siri befand, es könne nicht schaden, ihr einen kleinen Besuch abzustatten.

Er genoss die Fahrt. Während der Rest des Landes verdorrte, fiel im Nordosten nach wie vor ausreichend Regen zur Bewässerung der Felder an den Hängen. In der gleißenden Vormittagssonne lagen sie da wie zu spitzen Pyramiden aufgetürmte Spiegelscherben. Kleine Mädchen, die eben im Dorfteich gebadet hatten und noch zu jung waren, um Scham zu empfinden, marschierten nackt am staubigen Straßenrand entlang und trugen ihre Sarongs als Hüte. Er wurde von einem Lastwagen überholt, der kleine Schweine in leichten Käfigen aus Rohrgeflecht zum Schlachthof transportierte. Ihre Knopfaugen schwammen in Tränen.

Rechts und links reihte sich ein liebevoll gepflegtes Reisfeld an das andere. Große Löffelblüten und Juckfrüchte schmückten die Hecken. Er kam vorbei an einem Tempel, dessen Portal mit einem Vorhängeschloss gesichert war. Stammesleute aus den umliegenden Hügeln trugen Körbe voller Zweige auf dem Rücken, die an Riemen baumelten, die sie sich um die Stirn geschlungen hatten. Mit Schellen behängte Ponys kündigten niemand Bestimmtem ihr Kommen an. Irgendwo im Nirgendwo schulterte ein junger Mann eine Gitarre. Die Büffel, an denen Siri vorbeikam, hoben ohne Ausnahme den Kopf und hörten auf zu kauen, um den Doktor vorüberfahren zu sehen. Der beschauliche Friede ringsumher wärmte ihm das Herz. Er lächelte fröhlich in sich hinein, und seine Schultern zuckten im Takt einer unhörbaren Disconummer.

Nach einer Weile kam er auf eine frisch asphaltierte Straße, die an einem Fluss urplötzlich endete. Etwa fünf Meter weiter rechts befand sich eine Brücke. Um dorthin zu gelangen, musste er ein Stück querfeldein fahren. Am anderen Ufer führte ein schmaler Feldweg von der Brücke zurück zur Straße. Da die Brücke stabil und die Straße eben und schnurgerade war, machte diese Unstimmigkeit ihn stutzig. Er stieg aus und fragte den Besitzer der erstbesten Hütte, der ihm erklärte, dass in der Provinz Houaphan die Sowjets für den Brückenbau zuständig seien. Die Straßen wiederum waren Sache der Vietnamesen. Die beiden konnten sich nicht riechen. Die Vietnamesen waren nicht die schnellsten Straßenbauer, die Russen hingegen hatten ihre Brücken zum vertraglich vereinbarten Zeitpunkt fertig. Wurden die Straßen lediglich ausgebaut, war das in der Regel kein Problem. Wenn die vietnamesischen Ingenieure beim Bau einer neuen Straße jedoch auf einen Fluss stießen, mussten sie bisweilen feststellen, dass sie die sowjetische Brücke um ein paar Meter verfehlt hatten. Die Vietnamesen weigerten sich, die Straße zu verlegen; die Russen hatten nicht die Absicht, die Brücke zu verschieben. Oder um es mit den weisen Worten Civilais zu sagen: »Dem Mönch steht es nicht zu, ein Almosen zurückzugeben, auch wenn es ihm nicht gefällt.«

Die vietnamesische Infanterie-Einheit hatte auf Schilder und Wegweiser verzichtet, und so war es bereits Nachmittag, als Siri den Stützpunkt schließlich erreichte. Der laotische Wächter an der Abzweigung schwor beim Grab seiner Großmutter, dass sich am Ende des von ihm bewachten Feldwegs nichts als Bäume befanden. Da die Zentralkommandantur in Xam Neua Siri sowohl die Nummer der Einheit als auch die exakte Kilometermarke übermittelt hatte, ignorierte er den Mann und dessen geschultertes Gewehr und bog in den Feldweg ein. Wer sollte schon einen alten Arzt erschießen, weil der in ein Armeelager einzudringen versuchte?

Nach etwa anderthalb Kilometern fand er das Camp: eine wohlgeordnete Ansammlung von Zelten, die eindeutig mehr als eine Einheit beherbergten. An einer rotweiß gewandeten Schranke stoppte ihn ein uniformierter Wachposten. Der Soldat verlangte mit scharfer Stimme Siris Ausweis und bellte die Personalien des Doktors in sein Walkie-Talkie. Während er wartete, ließ Siri den Blick über das Lager schweifen: ausländische Truppen in seiner geliebten Heimat. Er war empört. Der Krieg war vorbei, gewonnen. Was also suchten die Vietnamesen noch hier? Er hatte seine Ausbildung in Vietnam absolviert und jahrzehntelang dort praktiziert. Zugegeben, Laos hatte eine Dankesschuld zu begleichen. Ohne die Hilfe der Vietnamesen hätten sie weder die Royalisten besiegt, noch wären die jetzigen Machthaber an der Regierung. Aber irgendwann musste Schluss sein!

Über Funk kam Antwort. Der Wachposten hielt sich das knatternde Walkie-Talkie ans Ohr, dann zeigte er auf das Hauptzelt, hob die Schranke und ließ Siri passieren. Während der Laster die kleine Anhöhe erklomm, auf der die Ausländer Quartier genommen hatten, sah Siri, dass hier und da massive Gebäude errichtet wurden. Kaum war er auf der Kiesfläche vor dem Offizierszelt zum Stehen gekommen, eilte auch schon ein Hauptmann auf ihn zu. Siri erkannte ihn sofort.

»Dr. Siri.« Der Soldat lächelte und schüttelte ihm herzlich die Hand.

Siris Vietnamesisch war ein wenig eingerostet. »Hauptmann Vo Chi. Ich hatte keine Ahnung, dass Sie hier sind. Wie ist das werte Befinden?«

»Hervorragend, Ihren Bemühungen sei Dank, mein lieber Freund. Ich dachte, Sie lägen schon seit geraumer Zeit unter der Erde.«

»Ihr Verdacht ist nicht ganz unbegründet, Genosse. Ich habe in der Tat herzhaft ins Gras gebissen und mir die Radieschen ein Weilchen von unten angesehen. Aber dann plötzlich legte sich ein Lasso um meinen Hals, und ich wurde schnurstracks ins schnöde Dasein zurückgezerrt.«

Im Messzelt nahmen sie einen Imbiss zu sich und erzählten sich Geschichten aus der Zeit, als der Doktor Vo Chis Division als Feldarzt begleitet hatte. Doch Siri war nicht hierhergekommen, um in Erinnerungen zu schwelgen. Bevor er sich auf die lange Heimfahrt machte, musste er jede Menge Informationen sammeln. Siri nannte Vo den Namen des Mannes, für den er sich interessierte. Vo war dem Oberst zwar nie begegnet, kannte aber einen alten Oberstabsfeldwebel, der im Krieg jahrelang unter dem Kommandeur gedient hatte. Vo beauftragte einen Offizier, den Mann zu suchen und ins Messzelt zu bringen.

Während Siri sich nicht an Oberstabsfeldwebel Giaps Gesicht entsinnen konnte, erkannte der alte Kämpe den Doktor auf Anhieb wieder. Er wusste sogar noch, wie er hieß. Siri hatte so viele Schlachten, so viele Einheiten, so viele Versetzungen und nicht zuletzt so viele Männer hinter sich, dass er sich unmöglich an jeden Einzelnen erinnern konnte. Er kam ohne Umschweife zur Sache.

»Wie ist der Oberst ums Leben gekommen?«

»Er geriet in einen Hinterhalt der Hmong, Doktor.« Der Oberstabsfeldwebel antwortete prompt, nicht ohne seinem Hauptmann einen verstohlenen Blick zuzuwerfen. Siri fragte sich, ob es sich um die offizielle Lesart des Ablebens von Oberst Ha Hung handelte.

»Wenn ich recht verstehe«, fuhr Siri fort, »nahm der Oberst seine Familie mit, als er nach Vieng Xai versetzt wurde.«

Mit der Beantwortung dieser zweiten Frage schien der Oberstabsfeldwebel weitaus weniger Schwierigkeiten zu haben. »Ja, Genosse. Seine Frau und seine Tochter.«

»Sonst niemanden?«

»Nein. Außer ihrem moi-Dienstmädchen, natürlich.« Moi war die abwertende Bezeichnung für die Montagnards. Die Bergvölker waren für die Vietnamesen das, was die Hmong für die Laoten waren: eine unterdrückte, ungeliebte Minderheit. Aus dem Tonfall des Oberstabsfeldwebels sprachen Hohn und Verachtung.

»Kannten Sie die Frau und die Tochter?«, fragte Siri.

»Aber ja. Selbstverständlich. Da es sich um einen unbefristeten Posten handelte, durften wir unsere Familien mitnehmen. Meine bessere Hälfte war damals auch hier.«

»Wie war die Tochter?«

»Bildschön. Sie hieß Hong Lan – rosa Orchidee. Sie müsste damals so um die … siebzehn gewesen sein, würde ich sagen. Hinter ihr waren mehr Jungs her als hinter den Hmong. Knusprig, die Kleine.«

Siris Fingerspitzen kribbelten. »Und hat sie sich jemand geangelt?«

Wieder blickte Giap zu seinem Hauptmann. »Der Oberst und seine Frau waren sehr strenge Eltern. Vor allem der Oberst hütete die Kleine wie seinen Augapfel. Er machte von Anfang an klar, dass er jeden Mann erschießen würde, der ihr zu nahe kam. Und wenn er wütend wurde, konnte man es mit der Angst zu tun bekommen. Er hat mir mehr als einmal einen gehörigen Schrecken eingejagt.«

»Meinen Sie, er hätte seine Drohung wahrgemacht und tatsächlich jeden erschossen, der sich ihr näherte?«

»Woher soll ich das wissen, Doktor?« Er wandte sich hilflos lächelnd an den Hauptmann, doch der verzog keine Miene.

»Richtig«, sagte Siri. »Natürlich. Dann hat Ihres Wissens also niemand offiziell beim Oberst um sie angehalten?«

»Das hätte wohl kaum jemand gewagt, außer vielleicht …«

»Wer?«

»Nun ja, es gab Gerüchte. Aber Sie sind vermutlich nicht hierhergekommen, um sich Klatsch und Tratsch anzuhören, oder, Doktor?«

»In der Not frisst der Teufel Fliegen.«

»Na schön. Das Mädchen war eine Zeitlang schwer krank. Sehr schwer krank. Irgendein Frauenleiden, wenn mich nicht alles täuscht. Sie lag fast zwei Monate im Krankenhaus. Ein vietnamesischer Arzt operierte sie. Ausländische Ärzte ließ der Oberst nicht in ihre N- … Entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht beleidigen, Doktor.«

»Schon gut. Man hat schließlich nicht alle Tage das Vergnügen, im eigenen Land als Ausländer bezeichnet zu werden. Dann lag sie also im Krankenhaus bei Kilometer 8?«

»Genau. Und sie kam durch, zur großen Erleichterung ihrer Eltern. Aber bevor die Rekonsalves-, Rekonlasze- … bevor sie sich nicht vollständig erholt hatte, konnte sie nicht entlassen werden. Und während sie so da oben in den Höhlen lag – und hier kommen die Gerüchte ins Spiel -, freundete sie sich mit einem der Pfleger an. Kubaner. Keine Ahnung, ob er es ihr schon im Krankenhaus besorgt hat oder …«

Zu seiner eigenen Verwunderung stürzte Siri sich quer über den Tisch auf den Oberstabsfeldwebel. Tassen und Teller flogen nach allen Seiten. Er schien dem alten Mann einen Kinnhaken versetzen zu wollen. Die beiden Soldaten sprangen auf und sahen den Doktor entsetzt an. Siri war nicht minder erstaunt als sie.

»Es … es tut mir schrecklich leid«, sagte er und suchte krampfhaft nach einer Erklärung. »Ich … ich habe diesen nervösen Tick. Da kann so etwas schon mal vorkommen. Ich bitte vielmals um Verzeihung.« Er klaubte die Bakelittassen vom Fußboden.

Der Oberstabsfeldwebel lachte. »Nichts für ungut. Aber Sie haben mir einen höllischen Schrecken eingejagt. Ich dachte schon, Sie wären prüde oder so.«

»Alles in Ordnung?«, fragte Vo.

»Alles bestens«, versicherte Siri und faltete die Hände im Schoß. Odon musste gebändigt werden. »Bitte fahren Sie fort, Herr Oberstabsfeldwebel.«

»Gut. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja. Sie, äh, treibt es also mit dem Pfleger, und der Junge denkt wahrscheinlich, er ist im Himmel und hört die Englein singen. Er lernt eine hübsche kleine Vietnamesin kennen, und weil er weiß, dass es auf der ganzen Welt keine fügsameren Frauen gibt, will er sie natürlich haben. Also marschiert er geradewegs zum Oberst – der Bursche hatte anscheinend Eier wie Kokosnüsse in der Hose – und bittet ihn um die Erlaubnis, seine Tochter auszuführen. Der Oberst traute seinen Ohren nicht.«

»Warum? Das war doch sehr anständig von dem jungen Mann.«

»Warum? Das kann ich Ihnen sagen, Doktor. Weil dieser Pfleger schwarz war. Schwarz wie das Arschloch eines Affen« – Siri haderte mit seinen Händen -, »schwarz wie …«

»Schon gut. Ich habe verstanden. Er war schwarz.«

»Sie wissen ja, wie das ist. Einer von diesen Schönwetterkommunisten aus der Karibik. Die überall da zu finden sind, wo es was zu holen gibt. Jedenfalls lachte der Oberst dem Knaben ins Gesicht. Aber der Bimbo blieb einfach sitzen. Der Oberst zeigte ihm die Tür, aber der Bimbo rührte sich nicht vom Fleck. Also ließ der Oberst ihn die Bambusrute schmecken. Aber es half alles nichts. Der Mistkerl wollte sich ums Verrecken nicht verpissen. Am Ende brauchte es ein Dutzend Männer mit Knüppeln.«

Giap und seine Geschichte wurden Siri von Minute zu Minute unsympathischer. »Und dann?«

Giap zögerte. »Damit hatte es sich. Das Mädchen wurde aus den Höhlen in ein Krankenhaus verlegt, wo es keine Pfleger, sondern nur Schwestern gab, und ihr keiner an die Wäsche ging, während sie bewusstlos war. Soviel ich weiß, wurde sie wieder gesund.«

»Und sie hat den Kubaner nie wiedergesehen?«

»Das glaube ich kaum. Sonst wäre er jetzt tot.«

Siri fragte sich, ob er das nicht längst war. »Wie haben sich die beiden verständigt?«

»Was?«

»Der Pfleger und das Mädchen. In welcher Sprache haben sie sich unterhalten?«

»Keine Ahnung, Doktor. Aber die Kleine war nicht auf den Kopf gefallen. Sie konnte Russisch, so viel steht fest. Und wer weiß, vielleicht sprach sie sogar Afrikanisch.«

Das Gespräch dauerte eine weitere halbe Stunde, doch viel mehr hatte der Oberstabsfeldwebel nicht mitzuteilen. Vor allem wusste er nicht, was nach dem Tod des Obersts aus dessen Frau und Tochter geworden war. Siri stellte ihm noch eine Reihe ebenso banaler wie unnötiger Fragen und wartete darauf, dass Vo das Interesse verlor. Doch Vo ließ sie nur ein einziges Mal kurz allein, um die Latrine aufzusuchen. Da schlug Siri zu.

»Hören Sie, Bruder. Ich verspreche Ihnen, dass Ihre Vorgesetzten kein Wort davon erfahren. Bitte vertrauen Sie mir. Ich muss wissen, was bei dem Hinterhalt genau geschah. Wie ist Oberst Ha Hung ums Leben gekommen?«

Giap sah zum Zelteingang, dachte ein paar Sekunden über die Frage nach und beugte sich dann quer über den Tisch zu Siri. »Er wurde von einem Augenblick zum anderen verrückt, Doktor. Im Ernst. Wir befanden uns in einem Tal. Unsere Krad-Eskorte hatten sie schon abgeschlachtet, aber unsere Wagen waren gepanzert. Wir hätten noch tagelang ausharren können. Normalerweise legten die Hmong einen Konvoi ein paar Stunden lahm, knallten jeden ab, der ihnen vor die Flinte kam, und verschwanden dann im Dschungel, um sich mit ihren Heldentaten zu brüsten. Die Yankees waren kurz zuvor abgezogen, sie hatten also keinen unbegrenzten Munitionsvorrat mehr zur Verfügung, mit dem sie uns Feuer unterm Hintern hätten machen können. Wir hätten bloß abzuwarten brauchen.«

»Aber?«

»Aber« – er senkte die Stimme – »auf einmal war der Oberst wie von Sinnen. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Im Kampf war er stets die Ruhe selbst gewesen. Ich habe ihn nicht ein einziges Mal die Beherrschung verlieren sehen. Aber an diesem Tag sagt er plötzlich so was wie: ›Du hast es nicht besser verdient!‹ Mit tiefer, unheimlicher Stimme. Er zieht seine Pistole und springt aus dem Panzerwagen. Er springt einfach raus, wie ein Cowboy. Und brüllt ›Attacke!‹. Wie kann ein Mensch so blöd sein, in einer Situation wie dieser anzugreifen? Eben. Also rührten wir keinen Finger. Aber damit hatte er wohl auch nicht ernsthaft gerechnet. Er rannte mutterseelenallein über die Lichtung. Er landete noch ein, zwei Treffer, aber ich wette, die Hmong saßen in den Bäumen und lachten sich ins Fäustchen. Ein uniformierter Offizier? Damit ließ sich mächtig Eindruck schinden. Sie durchsiebten ihn mit Blei.«

Siri war verblüfft. »Dann war das Ihrer fachmännischen Meinung nach also nicht die Tat eines Mannes im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte?«

»Alle Überlebenden waren sich einig, dass der Teufel in ihn gefahren war, Doktor. Wir alle, ohne Ausnahme.«