177555.fb2 Totentanz f?r Dr. Siri - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 15

Totentanz f?r Dr. Siri - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 15

14FRAU WUNDERLICH KEHRT HEIM

Obwohl Frau Wunderlichs Dorf nur fünf Kilometer von Vieng Xai entfernt lag, führte keine Straße dorthin. Siri, Dtui, Panoy und ihr Führer waren einem schmalen Pfad gefolgt, der sich gemächlich durch ein sanftes Tal schlängelte, vorbei an Felsnadeln, die wie obszön gereckte Finger in die Höhe ragten. Das Dorf lag dummerweise auch noch auf einer Hügelkuppe, als ob es sich in grauer Vorzeit vor einer Flut dorthin geflüchtet hätte. Die letzten fünfzig Meter schien es fast senkrecht bergan zu gehen. Dtui hatte Panoy den ganzen Weg getragen, und obwohl die Kleine kaum mehr wog als eine Feder, hatte Dtui das Gefühl, dass ihr das letzte Stück den Rest geben würde. Zum Glück erkannte das Mädchen, das Frau Wunderlichs Füße mit Blut bestrichen hatte, die dicke Krankenschwester wieder und kam ihr entgegen, um sie von ihrer Last zu befreien.

Die Dorfbewohner hießen sie verwirrt willkommen und führten sie zur Hütte des Schamanen, der in einer Ecke saß und sich langsam hin und her wiegte. Mit einer müden Armbewegung bat er die Fremdlinge herein. Er war um die vierzig, muskulös und freundlich, aber derart benebelt, dass Siri und Dtui bei seinen Worten beinahe eingeschlafen wären. Er hatte angeblich einen Trank aus heimischen Kräutern erfunden, der, dreimal täglich eingenommen, jedes Hungergefühl vertrieb. Er versetzte ihn außerdem in einen anhaltenden Rauschzustand, den er nur ungern durch Arbeit unterbrach.

»Wissen Sie«, lallte er mit schwerer Zunge, »ein Exorzismus bedarf gründlicher Vorbereitung. Das kann viele, viele Tage dauern. Manchmal sogar Wochen. Jahre.« Er hatte offenbar keinen Schimmer, wer ihm gegenübersaß. Dr. Siri wusste nur zu gut, dass sich ein Exorzismus notfalls auch binnen einer Stunde zuwege bringen ließ. Sofern die geistige Verfassung des Schamanen es erlaubte. Was hier eindeutig nicht der Fall war.

»Großer, verehrter Hexenmeister«, sagte Siri. »Sie haben selbstverständlich Recht. Aber hier in Ihrem Dorf liegt eine arme, bedauernswerte Frau in Betelnussblätter gehüllt, die nicht verbrannt werden kann, solange ihre Seele nicht in ihren Körper zurückgekehrt ist. Wir haben Ihnen diese Seele mitgebracht, sie steckt im Körper dieses kleinen Mädchens. Einen Exorzismus kann man das kaum nennen – ich würde es eher mit einer Yamswurzel vergleichen, die es in einen anderen Garten umzusetzen gilt. Es könnte einfacher nicht sein.«

Ganz so einfach war es natürlich nicht, aber Siri brauchte den Schamanen nur dazu zu bringen, sein Handwerkszeug zusammenzusuchen, den Rest würde Yeh Ming erledigen. Der Schamane stieß einen langen, tiefen Seufzer aus und begann die damit verbundenen Schwierigkeiten aufzuzählen. Siri hatte für solchen Unsinn keine Zeit. Er beschloss, dem Mann ein wenig Feuer unter dem Hintern zu machen. Er ergriff seine Hand und drückte sie fest. Die Anwesenden bemerkten, wie mit dem Schamanen eine Veränderung vor sich ging. Er schien Dinge zu schauen, die außer ihm niemand sehen konnte. Als würde er mit Informationen vollgepumpt wie ein Autoreifen mit Luft. Bevor er platzen konnte, ließ Siri seine Hand los.

»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« Der Schamane lächelte. »Herzlich willkommen.«

Binnen Stundenfrist standen die nötigen Requisiten bereit. Der Schamane trug einen roten Umhang mit heruntergezogener Kapuze. Es war eine bescheidene Angelegenheit. Außer den beiden Betroffenen, dem Schamanen, Siri und Dtui waren nur drei Zeugen zugegen, unter ihnen auch die Ehefrau des Schamanen, die diverse Schlaginstrumente spielte, was sich anhörte wie eine Schublade voll klappernder Küchenutensilien. Normalerweise hätte es Siri nicht gestört, aber jetzt verursachte ihr mangelndes Rhythmusgefühl ihm bislang ungekannte Qualen.

Er hatte all das schon einmal erlebt, wenn auch in ungleich größerem Maßstab, doch für Dtui war es die erste paranormale Zeremonie, und sie wollte, sie hätte die Geistesgegenwart besessen, die Kamera aus der Pathologie mitzunehmen. Fasziniert betrachtete sie das Tablett, auf dem Steine und Schmuckgegenstände, ein Dolch und, als Opfergaben, Zigaretten und Lebensmittel lagen. Den Kegel aus kunstvoll gefalteten Bananenblättern, den sie schon des Öfteren bei Hochzeiten und Beerdigungen, aber noch nie so üppig geschmückt gesehen hatte. Lange, ungesponnene weiße Baumwollfäden zogen sich von der Spitze des Gebildes zu Panoy und Frau Wunderlich, die rücklings auf dem Fußboden lagen. Zu ihrer aller Glück hatten die Frauen des Dorfes den Leichnam der alten Dame mit Parfüm und Moschusölen eingerieben, die den Verwesungsgeruch des Todes so weit dämpften, dass die Zeremonie stattfinden konnte.

Der Schamane hockte volle zwanzig Minuten im Schneidersitz vor dem Schrein und skandierte eine Reihe reichlich abgedroschener Mantras. Ein zeremonieller Dolch ragte aus der lockeren Erde zu seinen Füßen. Siri schloss die Finger um sein Amulett. Ein nervöser Angstschauer kroch ihm ins Genick. Bei seinem letzten Exorzismus hatten die Phibob den Schamanen getötet und Siri fast das Leben ausgesaugt. Diesmal war er besser vorbereitet, trotzdem hoffte er inständig, dass die bösen Geister zu so früher Stunde noch schliefen.

Der Schamane, der dem Nirwana ohnehin ein Stückchen näher schien als viele andere, verfiel rasch in Trance. Seine Frau zog ihm die Kapuze über den Kopf, und Dtui fragte sich, ob er jetzt überhaupt noch sehen konnte, was er tat. Aber er brauchte seine Augen nicht. In den nächsten paar Minuten würden all seine Bewegungen von einem Un-Wesen gesteuert. Siri hatte Medien gesehen, die von den Geistern, die sie beschworen hatten, quer durch den Raum geschleudert worden waren. Er hatte Schamanen gesehen, die sich selbst mit Fäusten traktiert oder zu schweben begonnen hatten. Doch von derlei Sperenzchen war dieser Mann meilenweit entfernt. Der Geist, der ihn heimsuchte, war offenbar genauso lethargisch wie er selbst.

Er erhob sich beinahe schwerelos, wie Rauch, der von einer Mückenspirale aufsteigt, und bahnte sich einen Weg zwischen den Zuschauern hindurch. Seine Füße schienen kaum den Boden zu berühren. Ächzend kniete er vor Panoy nieder, die noch immer mit fremder Stimme vor sich hin murmelte. Er beugte sich zu ihr hinunter und flüsterte ihr hinter vorgehaltener Hand etwas ins Ohr. Inzwischen wusste Siri, dass der Schamane keine Hilfe brauchte. Er hatte alles im Griff. Nach zwei oder drei Minuten fing der Körper des Mädchens leise an zu zucken. Nur einer der Zeugen sah, was jetzt geschah. Frau Wunderlichs Geist entstieg dem Körper des Mädchens, blickte sich in der Hütte um und trat vor seinen eigenen Körper hin. Er weckte den Geist des kleinen Mädchens, der seinen Platz eingenommen hatte, und sah ihm nach, wie er schlaftrunken zu seinem Körper zurückwankte. Dann rollte Frau Wunderlich sich in ihrem Leichnam zusammen, dessen Geruch sie offenbar nicht weiter störte. So einfach war das. Als würde man mitten in der Nacht von einem Bett ins andere umziehen.

Die kleine Panoy schlug die Augen auf. Sie betrachtete erst die Fäden, die sich wie Spinnweben um ihren Körper schlangen, und dann die Gestalt mit der roten Kapuze neben sich. Sie erschrak und fing, wie jedes normale vierjährige Kind, an zu weinen. Dtui eilte zu ihr, um sie zu trösten. Der Schamane war in tiefen Schlaf gesunken und merkte von alldem nichts.

Später saßen Siri, Dtui und ihr Führer unter einem Strohdach und tranken Tee. Die Sonne brannte unbarmherzig vom Himmel, doch eine leichte Brise strich über die Hügelkuppe. Siri starrte das hübsche Mädchen an, das ihnen die Tassen gebracht hatte und jetzt unter den Blättern eines Bananenbaums saß. Irgendetwas an ihr zog ihn magisch an.

Dtuis Stimme riss ihn aus seinen Träumereien. »Natürlich war es interessant. Ich habe auch nichts Gegenteiliges behauptet. Aber ich muss sagen, ich hatte es mir irgendwie – irgendwie turbulenter vorgestellt. Verstehen Sie? Blut, Geschrei und Chaos.«

»Das kommt gelegentlich vor«, sagte Siri. »Die heutige Zeremonie war eher von der einschläfernden Sorte.«

»Wann der komische Schamane wohl wieder aufwacht?«

»Seinem normalen Bewusstseinszustand nach zu urteilen würde ich sagen, nicht vor November.«

»Dann können wir ja wieder gehen.«

»Nicht so hastig.«

»Warum?«

»Hier liegt irgendetwas in der Luft.«

»Was denn?«

»Ich weiß nicht. Aber ich habe das dumpfe Gefühl, dass es da einen Zusammenhang gibt. Es gibt immer einen Zusammenhang. Ich finde, wir sollten noch ein wenig bleiben.«

»Sie sind der Chef. Ich sehe mal eben nach Panoy.« Dtui hievte sich schwerfällig hoch und ging zu der Hütte hinüber, in der die Kleine sich von den Strapazen erholte. Siri trank einen Schluck Tee und lächelte dem halbwüchsigen Mädchen zu. Ihre Züge waren feiner geschnitten als die der anderen Frauen im Dorf, und sie hatte dunklere Haut.

»Kleine Schwester«, rief er ihr zu. Sie lächelte schüchtern zurück. »Woher kommst du?«

»Aus Vietnam, Onkel.«

»Du bist eine Montagnard, nicht wahr?«

Sie war sichtlich froh, dass er nicht das abwertende moi benutzt hatte. »Meine Mutter ist eine Hmong, mein Vater ein Montagnard. Er kam mit seiner Familie hierher, als die Viet Minh anfingen …« Sie verstummte.

»Ich bin Laote, kein Vietnamese«, sagte Siri.

»Das Volk meines Vaters kämpfte auf Seiten der französischen Besatzer gegen die Kommunisten. Als der Krieg verloren war, ließen die Vietnamesen sie dafür büßen.«

»Es gibt vermutlich nicht allzu viele Montagnards hier in Houaphan.«

»Ein paar.«

»Erzähl mir von ihnen.«

Es schien sie zu freuen, dass sich der alte laotische Arzt für ihr Volk interessierte. Sie setzte sich zu Siri und erzählte ihm von einem jungen Mann, der als Pförtner beim Militär arbeitete, und einer befreundeten Familie, die für die Vietnamesen im Straßenbau tätig war. Und so weiter. Der Nachrichtendienst schien perfekt zu funktionieren. Trotz der Abgeschiedenheit des Dorfes wusste sie alles über die vielen Dutzend Auswanderer aus dem Zentralen Hochland. Schließlich kam sie auf jemanden zu sprechen, der Siris Interesse weckte.

»Dann ist da noch H’Loi«, fuhr sie fort. »Sie ist mit einem Laoten verheiratet. Sie war als Dienstmädchen bei einem hochrangigen vietnamesischen Soldaten beschäftigt, der inzwischen tot ist. Und …«

Da war er: der Zusammenhang. Siri fiel ihr ins Wort. »Weißt du zufällig, was aus der Familie geworden ist, für die H’Loi gearbeitet hat?«

»Sie meinen die Familie des Soldaten? Nein, Onkel. Ich weiß nur, dass sie nach seinem Tod eine Weile arbeitslos war. Aber dann hat sie das große Los gezogen und sich einen Kerl aus der Umgebung geangelt.«

»Weißt du zufällig, wo die beiden wohnen?«

»Na klar.«

»Ist es weit von hier?«

»Etwa eine halbe Stunde. Wenn Sie möchten, bringe ich Sie hin.«

Siri schickte Dtui mit Panoy und dem Führer zum Gästehaus zurück. Zwar hatte sie mit ihm dringend über ein anderes wichtiges Thema sprechen wollen, aber das konnte warten. Er hatte das Gefühl, dass es sich um etwas Ernstes handelte, und versprach, so bald wie möglich zurück zu sein. Dann machte er sich mit dem Montagnard-Mädchen in die umliegenden Hügel auf. Nur wenige Wanderer in Houaphan verließen die ausgetretenen Pfade, und das aus gutem Grund. Selbst die ausgetretenen Pfade pflegten von Zeit zu Zeit zu explodieren.

Das Dorf, in dem H’Loi wohnte, war so ärmlich, dass der Weiler, aus dem sie kamen, dagegen wie Manhattan wirkte. H’Loi war eine unscheinbare, fröhliche junge Frau Anfang dreißig, die mit einem extrem hässlichen, sehr viel älteren Mann zusammenlebte. Die Hochzeit hatte ihr die laotische Staatsbürgerschaft eingebracht. Die Not hatte die leidgeprüften Montagnards erfinderisch werden lassen. Die Frau sprach von Haus aus fließend Französisch, Vietnamesisch und zwei einheimische Dialekte. Seit ihrer Eheschließung hatte sie auch noch Laotisch gelernt. In jeder anderen Gesellschaft wäre sie eine gefragte Chefsekretärin oder Dolmetscherin gewesen. In diesem Dorf bekam sie Kinder und kochte. Sie wusste, dass es zwecklos war, mit ihrem Schicksal zu hadern.

Sie saß mit Siri in ihrer ärmlichen Hütte und sprach freimütig über ihre Zeit beim Oberst und seiner Familie. Als er in Ban Methuot im zentralen Hochland Vietnams stationiert gewesen war, hatte die Frau des Obersts H’Loi eingestellt. Der jungen Vietnamesin blieb keine andere Wahl. Sie konnte von Glück sagen, dass sie überhaupt Arbeit gefunden hatte. Dann zog sie mit der Familie ins gut fünfzehnhundert Kilometer entfernt gelegene Houaphan. Die Frau entpuppte sich als echter Drachen, ihre Tochter Hong Lan hingegen war ein nettes Mädchen und, um es mit den reizenden Worten H’Lois zu sagen, so klug und gewitzt wie eine Badewanne voller Richter. H’Loi war nicht nur Dienstmädchen und Köchin, sondern auch die Hauslehrerin des Mädchens. Die beiden wurden Freundinnen.

Als Hong Lan erkrankte, besuchte H’Loi sie jeden Tag im Hospital. Manchmal blieb sie sogar über Nacht. Hong Lan spielte die Sache herunter – sie habe leichte Bauchschmerzen, sonst nichts -, doch der Arzt hatte H’Loi anvertraut, dass es sich um etwas Ernsteres handelte. Sie musste zweimal operiert werden. Das Mädchen lag über einen Monat im Krankenhaus bei Kilometer 8 und erholte sich. Eines Tages tauchte wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Mutter auf und ließ Hong Lan in ein Militärkrankenhaus bei Xam Dtai verlegen. Dort konnte H’Loi sie nicht mehr jeden Tag besuchen, und so sah sie Hong Lan erst wieder, als das Mädchen nach Hause zurückkehrte.

Danach war Hong Lan nicht mehr die Alte. Sie war noch sehr schwach, obwohl sie die Operation angeblich gut überstanden hatte und bald wieder auf die Beine kommen würde. Aber da hatte H’Loi so ihre Zweifel. Trotz all der schönen Worte blieb Hong Lans Zustand unverändert. Die beiden führten lange Gespräche über Gott und die Welt. Einmal ließ das Mädchen durchblicken, dass sie sich während ihres Aufenthalts bei Kilometer 8 verliebt habe. Was H’Loi einen kleinen Schock versetzte, denn damit hatte sie nicht gerechnet. Obwohl Hong Lan den Namen des Mannes nicht verraten wollte, war ihren Erzählungen zu entnehmen, dass sie mit ihm auf recht vertrautem Fuße stand. Sie sagte, es gebe einen guten Grund, weshalb sie die Identität des Mannes nicht preisgeben könne.

Zu dieser Zeit machten jedoch bereits Gerüchte die Runde. H’Loi wusste von den schwarzen Magiern und ihren Liebestränken, ihren hypnotischen Fähigkeiten und ihren Opferungen. Da auch H’Lois Volk allerlei okkulte Riten praktizierte, wusste sie um die damit verbundenen Gefahren. Obwohl sie das Mädchen, für das sie neun Jahre lang gesorgt hatte, über alles liebte, wurde sie das Gefühl nicht los, dass Hong Lan nicht wusste, wovon sie sprach. Sie war verhext worden. Sie hatte noch nie von Liebe gesprochen, sich noch nie für Männer interessiert. Und jetzt, nach nur sechs Wochen in einem Höhlenkrankenhaus, hatte sie sich angeblich Hals über Kopf in einen Mann verliebt, den sie kaum kannte, einen Mann, der ganz und gar nicht zu ihr passte.

Als sie Hong Lan schließlich zur Rede stellte, machte H’Loi keinen Hehl aus dem Hass, den sie für die Kubaner empfand. Es spielte keine Rolle, ob sie schwarz waren, rosa oder kobaltblau. Sie waren böse. Sie erklärte Hong Lan, die beiden seien Teufel, worauf ihre Beziehung zu dem Mädchen merklich abkühlte.

Der Tod des Obersts kam so unerwartet, dass alle wie vor den Kopf geschlagen waren. Der Krieg war aus, und die Familie hatte gehofft, endlich ein glückliches, geregeltes Leben führen zu können. Als Soldatenfamilie unter den Viet Minh war sie nie lange an einem Ort geblieben. Ihr Traum war in greifbare Nähe gerückt, und plötzlich ließ der Oberst sich einfach erschießen. Nach der Beerdigung begann die Mutter mit der Planung ihrer Rückkehr nach Vietnam. Von der Armee bekam sie eine bescheidene Pension, genug für ein kleines Haus. Vielleicht würde Hong Lan sogar studieren können.

Doch dann, kurz vor ihrer Abreise, wurde das Mädchen entführt. Am helllichten Tag, von der Veranda. Die Mutter befand sich zum fraglichen Zeitpunkt außer Haus, um letzte Umzugsvorbereitungen zu treffen. H’Loi war im Garten und pflückte Obst für die Reise. Als sie ins Haus zurückkam, war Hong Lan verschwunden. Es gab Spuren eines Kampfes. Eine Kassette war aufgebrochen, das Haushaltsgeld gestohlen worden. H’Loi zufolge wussten alle, wer dahintersteckte. Eine großangelegte Suchaktion wurde gestartet. Das alte Regiment des Obersts machte mobil. Als man nach zwei Wochen noch immer keine Spur von dem Mädchen und den beiden Kubanern gefunden hatte, nahm man an, dass sie außer Landes gebracht worden war. Die Mutter kehrte heim nach Vietnam und ließ H’Loi allein zurück.

Siri hatte so viele Fragen zu dieser faszinierenden Geschichte, dass er gar nicht wusste, wo er anfangen sollte.

»Warum haben Sie die Mutter nicht begleitet?«, wollte er wissen.

»Weil sie es nicht wollte. Sie machte mir Vorwürfe, weil ich ihre Tochter an diesem Tag unbeaufsichtigt gelassen hatte. Sie verschwand mit ihrem gesamten Hab und Gut und dem Lohn, den ich noch zu bekommen hatte. Ich stand von einem Tag auf den anderen mit leeren Händen da. Die Bezirkskommandantur hatte Mitleid mit mir und war so freundlich, mir einen Mann zu besorgen.«

»Wie nett«, sagte Siri. »Und seither haben Sie nichts mehr von Hong Lan gehört?«

»Es gab natürlich die eine oder andere Geschichte. Laos gilt schließlich nicht umsonst als der Welt größte Gerüchteküche. Aber das ist Ihnen sicher nicht neu, Onkel.«

»Und wie glaubwürdig klangen diese Geschichten?«

»Nicht besonders. Mal hieß es, sie hätten das Mädchen ermordet und die Leiche irgendwo verscharrt. Dann wieder erzählte man sich, die Schwarzen hätten sie nach Kuba geschmuggelt, um sie zur Sexsklavin abzurichten.«

»Und was meinen Sie?«

Sie sah ihn an, als habe sie schon sehr lange niemand mehr nach ihrer Meinung gefragt. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, Onkel. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass sie – Hexerei hin oder her – mit der Liebe, die sie gefunden zu haben glaubte, glücklich geworden ist und in seliger Ahnungslosigkeit irgendwo ihr Dasein fristet.«

»Was hatte Hong Lan für ein Verhältnis zu ihrer Mutter?«, fragte Siri. Wieder zeigte sich die junge Frau erstaunt.

»Jetzt kann ich es ja sagen. Ich bezweifle, dass ich die alte Hexe noch einmal zu Gesicht bekommen werde. Hätten sich die beiden nahegestanden, wäre ich überflüssig gewesen. Es war, als ob sie ihre vaterländische Pflicht erfüllt, dem Oberst das gewünschte Kind geboren und es dann sich selbst überlassen hätte. Die Mutter war politisch aktiv. Sie leitete Seminare und organisierte dies und das. Aber ich kann mich nicht entsinnen, dass sie ihre Tochter jemals in den Arm genommen hätte. Ich war nicht ihr erstes Kindermädchen. Die Kleine hatte schon ein halbes Dutzend verschlissen, bevor ich kam.«

»Und ist dennoch wohlgeraten?«

»Außerordentlich wohlgeraten sogar. Das kommt davon, wenn man seine Kinder von einer Montagnard erziehen lässt.«

»Dann weiß ich ja, was ich zu tun habe, wenn ich das nächste Mal Vater werde.« Beide lachten, und der Mann steckte sein hässliches Haupt durchs Fenster, um zu sehen, worüber sie sich amüsierten.

H’Loi würdigte ihn keines Blickes. »Ich frage mich oft, ob sie für den Zauber vielleicht weniger empfänglich gewesen wäre, wenn sie von ihrer Familie etwas mehr Liebe bekommen hätte.«

»Wer hat Sie am Tag der Entführung in den Garten geschickt, um Obst zu pflücken?«

Wieder lachte H’Loi. »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich mich an so etwas erinnere? Ich bin schließlich nur eine einfache Hausfrau.«

»Madame«, entgegnete Siri ernst, »mir sind in meinem Leben schon viele einfache Hausfrauen begegnet, und glauben Sie mir, Sie gehören nicht dazu. Sie sind eine äußerst scharfsinnige, intelligente Frau.« Sie starrte ihn mit offenem Mund an. Noch nie hatte ihr jemand ein solches Kompliment gemacht. Dass es von einem gebildeten Mann, noch dazu von einem Arzt kam, ließ es noch glaubwürdiger erscheinen. Noch wahrhaftiger. Eine einzelne Träne schwoll in ihrem Augenwinkel und rollte ihr über die Wange.

»Ich glaube, es war Hong Lan«, sagte sie und wischte sie eilig fort.

»Was?«

»Die mich zum Obstpflücken in den Garten schickte. Sie war die Einzige, die so etwas aß. Ich habe noch nie jemanden so viel Obst essen sehen, der danach nicht den halben Tag auf der Toilette verbracht hätte. Ihre Mutter ernährte sich jahrelang ausschließlich von Reis und Schweineschwarte. Vielleicht war sie deshalb ein solches Ekel.«

»Glauben Sie, Hong Lan ist noch am Leben?«

»Doktor … wenn ich ehrlich bin, spüre ich ihre Gegenwart nicht mehr.«

Auf dem Rückweg ins Tal verlief Siri sich gleich dreimal, doch da alle Wege ihn früher oder später zu der einzigen Straße führen würden, ließ er sich davon nicht beirren. Die untergehende Sonne schlug ihn in ihren Bann. Sie sah aus wie eine riesige Pistolenkugel, die den Horizont in Zeitlupe durchbohrte. Rotes Blut quoll aus der Einschusswunde und versickerte zwischen den Hügeln. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die forensische Pathologie seinen Sinn für die Natur zu trüben drohte.

An der Vortreppe des Gebäudes angekommen, sah er Dtui und Panoy unter einem don soak, einem Trauerbaum, sitzen. Er trat zu ihnen.

»Hallo«, sagte er. »Macht ihr ein Picknick?«

»Sie wollen uns nicht ins Haus lassen«, erklärte Dtui.

»In welches Haus?«

»Ins Gästehaus Nr. 1.«

»Und warum nicht?«

»Weil dieses kleine Mädchen« – Panoy blickte auf und streckte die Hand lächelnd nach Siris Augenbrauen aus – »sich angeblich illegal hier aufhält. Und Gäste, die nicht auf der offiziellen Parteiliste stehen, dürfen das Haus nicht betreten.«

»Aber gestern hat sie doch auch hier übernachtet.«

Dtui äffte den gestrengen Tonfall der Leiterin des Gästehauses nach. »›Das war ein eklatanter Verstoß gegen die Vorschriften, der nicht ungeahndet bleiben wird.‹ Wenn jemand mitbekommen hätte, dass wir sie ins Haus geschmuggelt haben, wären wir vermutlich standrechtlich erschossen worden.«

»Ich nehme an, Sie haben das Thema bereits hinlänglich mit der Dame diskutiert.«

Sie lächelte. »Ich habe mir den Mund fusselig geredet.«

»Dann wollen wir ihr doch noch einmal unsere Aufwartung machen und unserem Protest gegen alberne Vorschriften wie diese gebührend Ausdruck verleihen.«

Die Leiterin stand, noch immer in Tarnanzug und Schürze, mit verschränkten Armen oben an der Treppe. Sie schien mit diesem zweiten Überfall gerechnet zu haben. Siri hielt einen Augenblick inne und musterte den Feind. Die Frau hatte sich Siri nie vorgestellt, obwohl sie bei jeder Mahlzeit, Besprechung oder anderweitigen Zusammenkunft im Hintergrund zu lauern schien. Sie war um die vierzig und von furchteinflößender Körperfülle, aber Siri hatte schon mächtigeren Gegnern die Stirn geboten.

»Guten Abend, Genossin«, sagte Siri lächelnd.

Die Frau antwortete mit einer offenbar sorgfältig zurechtgelegten kleinen Rede. »Es tut mir leid, Doktor. Ich kann sie nicht ins Haus lassen. Die Vorschriften verbieten das ausdrücklich. Den gestrigen Verstoß habe ich bereits gemeldet.«

»Sie braucht kein eigenes Zimmer«, versuchte er sie zu überreden.

»Sie ist nicht registriert. Und hat deshalb auch keinen Zutritt.«

»Aber ich dachte, das hier sei ein Gästehaus.«

»Nicht diese Sorte Gästehaus.«

»Sie meinen, die Sorte, die Gäste aufnimmt?«

»Nur, sofern diese Gäste auch auf der Liste stehen.« Sie war ein unbewegliches Objekt. »Vorschriften sind Vorschriften. Wo kämen wir denn hin, wenn jeder tun und lassen würde, was er will?«

»Ganz recht. Und wie verhält es sich mit Beweisen?«, fragte die unaufhaltsame Kraft namens Dr. Siri.

»Ich … was?«

»Beweise, Genossin. Ich bin der staatliche Leichenbeschauer. Ich bin im Auftrag des Präsidenten in den Norden gekommen, um Beweise zu sammeln.«

»Sind Beweise nicht in aller Regel Gegenstände?«

»Durchaus, jawohl. Aber auch ein Foto oder eine Aussage kann ein Beweisstück sein. Oder eine Person, die Beweise am Körper trägt.«

»Ich glaube, ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinauswollen.«

»Dieses kleine Mädchen« – er zerrte Dtui, die Panoy im Arm hielt, hinter seinem Rücken hervor – »ist mit Fingerabdrücken förmlich übersät.«

»Fingerabdrücke an einem Menschen? Das soll wohl ein Witz sein?«

»Mir scheint, Sie sind mit den jüngsten Entwicklungen auf dem Gebiet der Forensik nur unzureichend vertraut. Was glauben Sie wohl, warum wir sie gestern Abend nicht haben duschen lassen? Nach dem Gesetz – und ich bin nicht nur Leichenbeschauer, sondern auch Jurist, ich weiß also, wovon ich spreche – ist dieses Mädchen gar keine Person im eigentlichen Sinne. Sie ist ein Corpus Delicti. Kurz gesagt, sie ist mein Beweisstück. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, die Fingerabdrücke von ihr zu entfernen und ins Justizministerium zu bringen, würde ich das selbstverständlich tun. Aber das wäre eine recht blutige und ethisch kaum zu vertretende Angelegenheit. Sie ist das Beweisstück, an dem sich die Fingerabdrücke befinden. Sie brauchen sich also weiter keine Sorgen zu machen, weil das Mädchen nicht auf Ihrer Liste steht.«

»Ach … nein?«

»Nein. Denn da sie rechtlich gesehen keine Person ist, kann sie auch kein Gast sein.« Lächelnd zwinkerte er ihr zu. Er bezweifelte, dass sie dumm genug war, ihm diesen Unsinn abzukaufen, aber er hatte ihr die Möglichkeit gegeben, die Vorschriften halbwegs elegant zu umgehen.

»Hm.«

»Genosse Lit von der Staatssicherheit wird Ihnen das sicherlich bestätigen.«

Das linke Auge der Frau musterte erst Siri, dann das Mädchen. Das rechte Auge tat es ihm einen Sekundenbruchteil später nach. Schließlich richteten sich beide Augen auf Dtui. »Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt?«

Dtui zuckte die Achseln. »Ich bin Krankenschwester. Mit Gesetzen kenne ich mich nicht aus. Ich hätte gar nicht gewusst, wo ich anfangen soll. Außerdem dachte ich, in seiner Eigenschaft als Rechtsberater des Präsidenten kann Genosse Siri Ihnen die Sache sehr viel besser erklären.«

»Ähm, ja. Meine Güte. Ich hatte ja keine Ahnung.«

Panoy lag in Dtuis Zimmer und schlief tief und fest. Siri und Dtui saßen auf dem Balkon und hatten die Füße auf die Brüstung gelegt. Dtui hatte dem Doktor soeben ihr Dilemma geschildert. Siri grunzte.

»Also, eigentlich ist es ja ein wunderbares Kompliment«, sagte sie und blickte zu der Felswand hinauf, die vor ihnen aufragte wie eine teuflische Schwiegermutter. »Schließlich kann er sich die Frauen aussuchen. In seiner Position. Er wird die Treppe vermutlich immer weiter rauffallen, bis er eines Tages Premierminister ist. Wenn nicht gar Präsident. Frauen haben eine Schwäche für mächtige Männer. Aber wenn er es tatsächlich einmal so weit bringt, wird er sich von mir wohl kaum in seine Politik reinreden lassen wollen. Ich würde ihm wahrscheinlich furchtbar auf die Nerven gehen. Und wenn ich mich ein wenig am Riemen reißen würde? Ich könnte den Haushalt machen und die Regierungsgeschäfte ihm überlassen.«

Siri trank einen Schluck Tee und lächelte.

»Ich meine«, fuhr sie fort, »er müsste sich natürlich auch ändern. Ohne Kompromisse keine gute Ehe. Stimmt’s? Sie und Boua mussten doch bestimmt auch jede Menge Kompromisse schließen. Und Sie waren immerhin hundertsoundsoviel Jahre zusammen. Von nichts kommt nichts.« Auch sie nippte an ihrem Tee.

Sie beobachteten einen Reiher, der im Licht des Balkons von einem Felsvorsprung herabstieß und einen nahezu perfekten Looping vollführte, bevor er seinen gleitenden Sinkflug fortsetzte. Siri lag eine Bemerkung auf der Zunge, doch Dtui war mit ihren Gedanken ganz woanders. »Ich meine, wie viele solcher Anträge wird eine Frau wie ich wohl bekommen? Vielleicht sollte ich mir die Sache doch noch mal durch den Kopf gehen lassen. Wenn ich sein Angebot ausschlage, ende ich womöglich als alte Jungfer mit Krampfadern und Damenbart, die dieser vergebenen Chance bis in alle Ewigkeit nachtrauert.«

Im Traum entfuhr Panoy ein leiser, mädchenhafter Seufzer. Dtui wartete, bis er verklungen war, und fuhr dann fort. »Heiraten oder nicht heiraten? Bleibt die Frage, welche Entscheidung ich mehr bereuen würde. Meine Mutter sagt immer, ein Mann ist nie wieder so lieb und nett wie am Tag des Heiratsantrags. Besser wird es nicht. Denn ist man erst mal unter der Haube, braucht er sich nie wieder so viel Mühe zu geben. Seine Rede hat mich schier umgehauen. Es würde mich allerdings nicht wundern, wenn er sie sich von einem Unterausschuss hätte schreiben lassen. Von Gefühlen war darin jedenfalls nicht die Rede. Er hat sie heruntergeleiert wie ein Referat vor der Generalversammlung.«

Sie nahm die Füße herunter, stand auf und stützte sich mit den Händen auf die Balkonbrüstung, als würde sie zu einer riesigen Menschenmenge sprechen. »Und dann dieses verdammte Antragsformular«, spuckte sie verächtlich aus. »Was für ein arroganter, rückgratloser Schnösel. Lässt der sich eigentlich jede Entscheidung von der Partei absegnen? Das ganze Bezirksamt wusste, dass er mir einen Antrag machen wollte, nur ich nicht. Ob er so wohl auch in seinem Privatleben verfährt? ›Dtui, Schätzchen. Ich fände es schön, wenn wir heute Abend eine kleine Nummer schieben könnten. Ich muss vorher nur rasch bei der Kommission für Partnerschaften und Beziehungen vorbeischauen und ein F27b ausfüllen.‹« Sie errötete. »Ups, Verzeihung, Doc.« Siri hob gnädig die Augenbrauen.

»Ich meine« – sie schien zum Endspurt anzusetzen -, »was ist das eigentlich für ein angepasster Trottel, der sich von Bürokraten diktieren lässt, was er zu tun und zu lassen hat? Und wofür hält der Kerl sich eigentlich – besitzt er doch tatsächlich die Frechheit, um meine Hand anzuhalten, ohne auch nur mit mir geflirtet, geschweige denn mir den Hof gemacht zu haben? Das ist doch wohl nicht zu viel verlangt? Wahrscheinlich wusste er, dass er bei mir auf Granit beißen würde. Ich hätte ihn beim leisesten Annäherungsversuch aus den Latschen gehauen. Da blieb nur der Überraschungsangriff.

Aber das ist natürlich alles graue Theorie, Doc.« Sie wandte den Kopf, um sich zu vergewissern, dass er noch da war. »Wissen Sie, warum? Weil ich mein Lebtag keinen Mann heiraten werde, nur weil er etwas darstellt, vermögend ist oder in einer Uniform eine halbwegs stattliche Figur macht. Nein, wenn ich jemals heirate, dann einen Mann, der mein Innerstes in Sojapaste verwandelt. Einen Mann, den ich so sehr liebe, dass ich morgens nicht zur Arbeit gehen möchte, weil ich weiß, dass er mir den ganzen Tag lang schrecklich fehlen wird. Nicht mehr und nicht weniger. Eher verliebe ich mich in diesen grauenhaften Kasten als in den Genossen Lit. Nein, du aufgeblasene Parteimaschine – such dir eine andere Frau, die zu dir passt und sich bereitwillig zu deiner Angetrauten befördern lässt. Ich spiele da nicht mit.«

Sie stieß einen erleichterten Seufzer aus und sank schwerfällig auf ihren Stuhl. Siri nahm ihre Hand.

»Danke, Doc«, sagte sie. »Ich wusste doch, dass Sie mir den Kopf zurechtrücken würden.«

»War mir ein Vergnügen.«