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Heute fand das Konzert statt. Obwohl sie den Täter schon am Abend zuvor hätten dingfest machen können, kamen Siri und Dtui überein, noch einen Tag zu bleiben und weitere Ermittlungen anzustellen, um auch die letzten Zweifel auszuräumen. Außerdem erwartete Siri einen wichtigen Anruf aus Vientiane. Die Leiterin des Gästehauses war am Boden zerstört, als sie erfuhr, dass der alte Arzt und die dicke Krankenschwester noch da waren und zwei wertvolle Zimmer belegten. Zum Glück hatten sie das »Beweisstück« fortgeschafft, denn sie wusste nicht, wie sie dem Genossen Khong aus Vientiane das hätte erklären sollen.
Am Vortag hatte Dtui die kleine Panoy in ihr Dorf zurückgebracht. Damals hatte die große Landflucht noch nicht eingesetzt, und das Wort »Nachbarn« bedeutete mehr als nur »die Leute nebenan«. Gegenüber von Panoys Mutter wohnte eine Frau, die durch denselben Konflikt zur Witwe geworden war, der Panoys Vater das Leben gekostet hatte. Sie nahm Dtui das Mädchen ab, als stünde es gänzlich außer Frage, wo es leben und aufwachsen würde. Ohne große Umstände hatte das Dorf die Lücke in Panoys Leben ausgefüllt wie weiße Blutkörperchen, die eine Wunde schließen, ohne eine Narbe zu hinterlassen. Ohne Debatte, ohne Diskussion.
Dtuis Bewunderung für diese Menschen kannte keine Grenzen. Ihre Mutter war einst eine von ihnen gewesen. Auch Dtui war in einem solchen Dorf zur Welt gekommen, hatte aber keinerlei Erinnerung daran. Dies war ihr Land. Und dies war ihr Volk: freundliche, selbstlose, ehrliche Menschen. Neunzig Prozent aller Laoten bestellten den Boden und setzten sich füreinander ein. Dtui saß unter einer Markise auf dem Platz inmitten dieses Dreißig-Hütten-Dorfes und sah, was aus ihrem Land hätte werden können, wenn es über sich selbst hätte bestimmen dürfen.
Die Dorfkinder hatten sogleich erkannt, dass Panoy noch nicht wieder ganz gesund war, und bezogen sie behutsam in ihre Spiele ein. Die Leute nickten und lachten über einfache Dinge. Sie kamen mit Süßigkeiten und Getränken für die nette Krankenschwester, die dieses Kind des Dorfes den Fängen des Todes entrissen hatte. Obwohl alle beschäftigt waren, wirkten sie ungemein entspannt. Sie alle hatten Zeit für ein Schwätzchen mit Dtui, und wenn ihnen keine Frage einfiel, setzten sie sich einfach zu ihr und hielten ihre Hand.
Als sie so dasaß, fiel ihr plötzlich etwas auf. Wie in jedem anderen Dorf tummelten sich das Vieh, die Babys und die Hunde in ein und demselben Staub. Die Hühner pickten den ganzen Tag nach den vielen tausend Ameisen, die zusammen kaum eine Kalorie enthielten. Das Spielen im Dreck stärkte das Immunsystem der Kinder, doch der Spielkamerad eines kleinen Jungen ließ Dtui stutzen. Ein so sonderbares Wesen hatte sie noch nie gesehen. Aus der Ferne sah es aus wie ein kleines schwarzes Schwein. Aber es war irgendwie anders als andere Schweine. Statt Füßen hatte es Pfoten. Und es besaß zwar einen Ringelschwanz, doch der wedelte hin und her. Obwohl es eigentlich hätte grunzen oder quieken müssen, kläffte es den kleinen Jungen an und hatte sichtlich Spaß an ihrem Spiel.
Sie hätte einfach fragen können. Oder näher treten, um sich zu vergewissern, dass das Ferkel Schlamm an den Füßen und noch dazu eine schwere Erkältung hatte, doch stattdessen entschloss sie sich zu gehen. Obwohl sie sich in einem animistischen Dorf inmitten eines offiziell agnostischen Landes befand, hielt sie zuvor kurz Zwiesprache mit Buddha. Sie versprach, sich nie wieder über die Gesetze der Natur lustig zu machen. Sie habe ihre Lektion gelernt.
Sie küsste Panoy auf die Wange, in der Gewissheit, dass das Mädchen sich im Falle eines Wiedersehens wohl nicht an sie erinnern würde. Sie dankte allen, obgleich niemand so recht wusste, wofür, und verließ das kleine Dorf. Ihr Mutterinstinkt war erwacht, und sie wünschte sich nichts sehnlicher als einen Ehemann und eine eigene Familie.
Für den Genossen Lit gab es nur einen Grund, weshalb Dr. Siri und Schwester Dtui sich noch immer in Vieng Xai aufhielten, obwohl das Rätsel des Kubaners in Beton gelöst war. Seit er seinen Bericht eingereicht hatte, war er mit den Sicherheitsvorkehrungen für das Konzert beschäftigt gewesen. Tags zuvor hatte er im Gästehaus vorbeigeschaut, doch niemand wusste, wo die beiden steckten. Als er es gegen Abend ein zweites Mal versuchte, waren sie noch immer nicht zurück. Eigentlich hätte er sich auf das bevorstehende Großereignis konzentrieren sollen, aber er konnte an nichts anderes denken als an Schwester Dtui.
Er war zu dem Schluss gelangt, dass Dr. Siri sich bereit erklärt hatte, als ihr Zeuge zu fungieren, wenn sie Lits Heiratsantrag annahm. Siri hatte angerufen und ihn gebeten, sie mit dem Jeep abzuholen. Er übertrug seinem Stellvertreter die Aufsicht über die letzten Vorbereitungen in der Konzerthöhle und fuhr mit pochendem Herzen zum Gästehaus. Als er seine Zukünftige auf der Vortreppe stehen sah, wo die Morgensonne das natürliche Rouge ihrer Wangen besonders gut zur Geltung brachte, stockte ihm der Atem. Was hatte er für eine großartige Wahl getroffen.
Doch als Siri und Schwester Dtui in seinen Jeep stiegen, war von Hochzeitsvorbereitungen mit keinem Wort die Rede. Siri bat ihn, sie nach Xam Neua zu bringen. Was ihm unter den gegebenen Umständen gar nicht passte, aber der Doktor versicherte ihm, es handele sich um eine äußerst dringliche Angelegenheit, die keinen Aufschub dulde. Da die beiden beharrlich schwiegen, träumte er im Stillen von einer Fahrt zum Zentralmarkt, um gute nordlaotische Seide für Dtuis Hochzeitskleid zu kaufen, und einem Besuch bei einer Wahrsagerin, die ihnen einen günstigen Termin für die Trauung nennen würde. Vielleicht war das so Sitte. Da er noch nie geheiratet hatte, konnte er das schwerlich wissen. Aber er war so zufrieden mit sich, dass er den Tag nicht mit Jammern und Klagen verderben wollte.
Er schöpfte erst Verdacht, als der Doktor ihn auf das Gelände des provisorischen Krankenhauses lotste und ihn bat, vor dem Büro des Direktors zu halten.
»Und jetzt?«, fragte er.
»Jetzt besuchen wir Dr. Santiago.«
Lit war empört. »Wie bitte? Warum haben Sie mir nicht gleich gesagt, dass Sie hierher wollten?«
»Wären Sie dann auch gekommen?«
»Ich … ich habe keine Ahnung, was ich hier soll.«
»Nein? Wie wäre es mit Rache nehmen?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Das wissen Sie sogar sehr gut. Sie haben schon viel zu lange Angst vor Dr. Santiago, Genosse Lit. Es ist höchste Zeit, ihm die Stirn zu bieten.«
»Sie irren sich.«
»Ach ja? Würden Sie uns dann freundlicherweise erklären, was mit Ihrem Finger geschehen ist?«
»Ich, äh …« Er musterte Dtui im Rückspiegel. Wie würde sie darauf wohl reagieren? Würde sie den Respekt vor ihm verlieren? Ihr Gesicht verriet keinerlei Regung. Siri kletterte aus dem Jeep und zeigte auf den Schlüssel im Zündschloss. Die zuversichtliche Miene des Doktors gab Lit neuen Mut. Einen Moment lang glaubte er tatsächlich, aus dem Schatten des verfluchten Kubaners heraustreten zu können. Er stellte den Motor ab und stieg aus.
Santiago blickte nicht von seinen Papieren auf, als die drei ungebetenen Besucher in sein Zimmer kamen, doch er lächelte und sagte etwas zu Dtui.
»Er hat Sie bereits erwartet«, erklärte sie Siri. Sie trat beiseite. Ihre Rolle bei diesem Gespräch beschränkte sich auf die der Dolmetscherin. Sie würde Siris Fragen nach bestem Wissen und Gewissen übersetzen und versuchen, die Antworten des Kubaners richtig zu verstehen. Falls es zu einer Auseinandersetzung kam, würde sie sich brav heraushalten. Darauf hatten sie sich geeinigt.
Santiagos Augen funkelten missbilligend, als Lit das Büro betrat. Wieder sagte er etwas.
»Dr. Santiago findet es sehr mutig, dass Sie sich in seine Nähe wagen. Er fragt, ob Ihr Freund, der Magier – das sind Sie, Doc -, Ihnen das nötige Selbstvertrauen gegeben hat, um nach all der Zeit hier aufzukreuzen. Aber er warnt Sie: Dr. Siri wird Ihnen keine große Hilfe sein.«
Ein fahler Schatten huschte über Lits Gesicht, und allmählich ahnte Siri, welche Macht Dr. Santiago über andere Menschen besaß.
»Wenn er uns ohnehin alle zur Hölle schickt«, sagte Siri lächelnd, »hat er doch sicher nichts dagegen, wenn ich ihm meine Theorie rasch auseinandersetze. Sagen Sie ihm, er dürfe mich gern korrigieren.«
»Er will wissen, ob das wirklich nötig ist«, sagte Dtui.
»Ich möchte den Doktor um Nachsicht bitten und ersuche hiermit höflichst um ein paar Minuten seiner kostbaren Zeit«, begann Siri. »Genosse Lit, wie Sie aus schmerzlicher Erfahrung wissen, ist Dr. Santiago weit mehr als nur ein glänzender Chirurg. Er ist nämlich auch und vor allem ein erfahrener Endoke-Priester. Viele Leute haben den Eindruck, dass er in dieser finsteren Kunst überaus bewandert ist. Bei Durchsicht der einschlägigen Unterlagen werden Sie feststellen, dass seine Versetzung auf diesen gottverlassenen Außenposten nichts mit seinen fachlichen Fähigkeiten zu tun hat, die ich mit keinem Wort in Abrede stellen möchte. Es war seine letzte Chance – die einzige Arbeit, die er finden konnte. Er wurde aus seinem eigenen Land geworfen, weil er eine Gefahr darstellte. Nicht wahr, Doktor?«
Dtui versuchte, den Faden nicht zu verlieren. Sie erklärte Siri, der Doktor wolle ihn nicht unterbrechen.
»Das glaube ich gern. Weil er genau weiß, dass wir jetzt zum interessanten Teil der Geschichte kommen.« Siri lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah in die spöttischen Augen seines alten Freundes. »Denn, Genosse Lit, als Odon und Isandro in dieses Land kamen, hatten sie von der Geisterwelt nicht die geringste Ahnung. Sie waren tüchtige, arbeitsame junge Männer, die einem aufstrebenden Dritte-Welt-Land ihr Können zur Verfügung stellen wollten. Sie lernten unsere Sprache und gaben sich alle Mühe, unsere Kultur zu verstehen. Sie waren nicht etwa deshalb so beliebt, weil sie die Leute verhexten, damit diese wurden wie sie selbst. Nein, sie waren beliebt, weil sie schlicht und einfach nette Jungs waren.
Einer dieser Jungs, Isandro, lernte im Krankenhaus eine Patientin kennen, die wunderschöne Tochter eines vietnamesischen Obersts. Sie hieß Hong Lan, und in den beiden Monaten, die sie im Krankenhaus bei Kilometer 8 lag und sich von ihrer schweren Krankheit erholte, verliebten sich die beiden. An ihrer Beziehung war nichts Ungehöriges. Das Mädchen war krank, und er war ihr Pfleger. Sie sprachen über Gott und die Welt und kamen sich näher, und welche Chemikalien auch immer dafür verantwortlich sein mögen, dass in einer Beziehung die Funken sprühen, bei Hong Lan und Isandro leisteten sie ganze Arbeit.
Das Mädchen hatte viele Verehrer, aber einem Mann wie Isandro war sie noch nie zuvor begegnet. Er sah gut aus, war intelligent und liebenswürdig. Sie war sich so sicher, dass sie den Rest ihres Lebens mit ihm verbringen wollte, dass sie sogar ihrer Mutter davon erzählte. Einen größeren Fehler hätte sie kaum machen können. Ein Ausländer – und noch dazu ein Schwarzer! Was hatte sich das Mädchen dabei bloß gedacht? Ihre Mutter war am Boden zerstört; ihr Vater schäumte vor Wut. Niemand durfte erfahren, dass seine Tochter wahnsinnig geworden war. Sie verlegten Hong Lan in ein anderes Krankenhaus, aber die Schande blieb an ihnen haften. Die Schwarzen mussten verschwinden. Unser Freund Dr. Santiago wurde mit dieser Aufgabe betraut.«
Als er die Übersetzung hörte, wischte der Kubaner sie mit der arroganten Handbewegung eines Musketiers beiseite. Siri schüttelte lächelnd den Kopf und fuhr fort.
»Zu seinem Glück war dem Doktor kurz zuvor ein böses Missgeschick widerfahren. Ein paar Kinder hatten in den Tunnels gespielt, deren Betreten ihnen ausdrücklich verboten war, und dabei einen eigenartigen Altar entdeckt. Sie erzählten ihren Eltern davon, die den Vorgang unverzüglich den Behörden meldeten.
Wie Sie sich vermutlich denken können, werter Genosse Lit, handelte es sich um denselben Altar, von dem ich Ihnen im Sheraton de Laos erzählt habe. Er diente als Schauplatz kleiner Opferungen und böser Hexenflüche. Er war Dr. Santiagos persönlicher Tempel, der Schrein, an dem er seine Magie praktizierte und seine Zaubertränke braute. Dr. Santiago trägt seine Amulette nicht zum Schutz gegen andere Vertreter seiner zweifelhaften Zunft. Er ist ein glühender Anhänger des Endoke-Kults. Sie sind seine Amtskette. Der Altar hatte mit den Pflegern nichts zu tun, aber indem er sie der Hexerei bezichtigte, scheinbare Beweise vorlegte und Gerüchte über ihr angebliches Treiben in Umlauf brachte, gelang es ihm, die Leute gegen die beiden aufzuhetzen. Die Vietnamesen glaubten nur zu gern, dass Isandro ihre Tochter verhext hatte.
Für die Jungs war Dr. Santiago ein verständnisvoller Landsmann, ein netter alter Onkel. Er versicherte ihnen, er sei von ihrer Unschuld überzeugt, aber die öffentliche Meinung lasse ihm leider keine andere Wahl, als sie nach Kuba zurückzuschicken. Es lief alles wie am Schnürchen. Eines schönen Tages rückte der Oberst mit Soldaten an, um die beiden festnehmen und gewaltsam nach Hanoi schaffen zu lassen. Hätten sie sich gefügt und Vietnam verlassen, wäre alles in Butter und die Geschichte damit zu Ende gewesen. Aber Isandros Liebe zu Hong Lan war stärker als sein Überlebenswille. Und Odon wollte seinen Freund auf gar keinen Fall im Stich lassen.
Sie flohen, bevor man sie in ein Flugzeug verfrachten konnte, und gelangten auf verschlungenen Pfaden zurück nach Houaphan. Es muss eine beschwerliche Reise voller Gefahren gewesen sein. Es gab niemanden, der ihnen helfen konnte – und noch dazu überall Soldaten, die sie vermutlich für amerikanische GIs gehalten hätten. Trotz allem schafften sie es. Nach ihrer Rückkehr versteckten sie sich dort, wo man sie am wenigsten vermuten würde, in der alten Präsidentenhöhle. Dann holten sie Hong Lan zu sich. Es war keine Entführung. Nachdem Isandro ihr Bescheid gegeben hatte, dass er wieder da war, planten sie gemeinsam ihre Flucht aus dem Krankenhaus.
Zu diesem Zeitpunkt wussten Isandro und Hong Lan bereits, dass ihr Krebs unheilbar war und sie höchstens noch zwei Monate zu leben hatte. Sie wollte ihre letzten Tage nicht mit einer Mutter verbringen, die sie mit Verachtung strafte und ihr täglich vorwarf, den Namen der Familie in den Schmutz gezogen zu haben. Nein, Hong Lan wollte mit dem Mann zusammen sein, den sie liebte. Diese letzten Wochen sollten die glücklichsten ihres Lebens werden.«
Dtui geriet ins Stocken, denn sie kämpfte mit den Tränen.
»Während er auf die Jagd ging«, fuhr Siri fort, »und die Schmerzen seiner Geliebten zu lindern versuchte, sammelte Isandro seine Gedanken. Da die drei in der Höhle festsaßen und wenig anderes zu tun hatten, führten sie vermutlich viele Gespräche. Sie wussten, dass der Altar im Sheraton einen Besitzer haben musste. Außer ihnen gab es in Houaphan nicht sehr viele Kubaner. Auch hatte Hong Lan ihnen wahrscheinlich erzählt, dass es Santiago gewesen war, der die beiden Jungs bei ihrem Vater angeschwärzt hatte. Oder sie erinnerten sich an das Gerücht, dass eine hübsche junge Krankenschwester, die in ihrem Heimatdorf verlobt war, sich in Santiago verliebt hatte. Niemand begriff, weshalb sie so begierig schien, mit dem alten Arzt ins Bett zu steigen.«
Santiago lachte, als er die Übersetzung hörte, und fragte Siri, warum er so eifersüchtig sei. Ob er sich nicht vorstellen könne, dass junge Frauen den Kubaner attraktiv fänden?
Siri überhörte die Bemerkung. »Vielleicht erinnerten sie sich aber auch an den kubanischen Buchhalter, der an einer Halsentzündung erkrankt war. Und dass sie die Notwendigkeit bezweifelt hatten, wegen einer solchen Lappalie einen Luftröhrenschnitt durchzuführen. Dann fiel ihnen ein, dass er nach Havanna ausgeflogen worden war, bevor er die Bücher des Doktors einer vollständigen Prüfung hatte unterziehen können.«
Santiago hatte derweil heimlich, still und leise eine Schreibtischschublade geöffnet, in der ein kleines Holzkästchen mit dem farbenprächtigen Emblem der Hunan Tea Company lag. Das graue Pulver darin hatte monatelang Zeit gehabt, den Zauber zu empfangen und in sich aufzunehmen.
»Vielleicht hatten sie aber auch von Ihrem bedauerlichen Zusammentreffen mit dem Doktor gehört, Genosse Lit«, fuhr Siri fort.
»Ich glaube nicht …«, murmelte der Sicherheitschef nervös.
»Keine falsche Scheu, Genosse«, sagte Siri. »Sie haben hier und heute nicht das Geringste zu befürchten. Vertrauen Sie mir.«
Und tatsächlich gaben ihm Siris Worte Selbstvertrauen. Das fortwährende Grinsen des alten Kubaners erregte seinen Zorn. Er holte tief Luft und setzte zu einer Geschichte an, die er bislang niemandem erzählt hatte.
»Wir hatten eine unserer zahlreichen Meinungsverschiedenheiten«, begann Lit. »Dr. Santiago hatte die Gesamtleitung des Projekts inne, und die vietnamesischen Soldaten waren verärgert, weil er vom Bauen nichts verstand. Einige seiner Entscheidungen hielten sie für regelrecht gefährlich. Ich weiß noch …«
»Nur zu.«
»Ich weiß noch, dass ich ihm mit dem Finger vor der Nase herumfuchtelte, um ihm klarzumachen, dass er sich in einem wichtigen Punkt irrte. Er starrte mich an und sagte, diesen Finger würde ich nie wieder benutzen. Ich solle mich hüten, seine Fähigkeiten zu unterschätzen. Ich lachte ihn aus und ging, aber als ich am nächsten Morgen wach wurde, war der Finger schon taub. Nach ein paar Tagen fing er an zu verkümmern. Ich wusste, dass er dahintersteckte. Ich wusste nicht, wie er es angestellt hatte, aber von diesem Tag an ging ich ihm aus dem Weg. Auch ich habe Geschichten über seine Hexenkünste gehört.«
»Tja, jetzt wissen Sie’s«, sagte Siri. »Und da sind Sie nicht der Einzige. Auch Isandro wusste Bescheid. Er war vermutlich nicht sonderlich begeistert, als ihm klar wurde, dass der Doktor sie verleumdet und ihnen dieses ganze Elend eingehandelt hatte.«
»Wenn die beiden Jungs mit schwarzer Magie aber doch nichts zu schaffen hatten«, fragte Lit, »woher stammten dann die Kratzer auf Odons Brust?«
»Ja, ich gebe zu, es hat ein Weilchen gedauert, bis ich dahinterkam. Vor allem der Umstand, dass Odons Leichnam die Male aufwies, Isandros hingegen nicht, verwirrte mich. Dann überlegte ich, was den Jungs ihr Wissen um Santiagos kleines Hobby eigentlich brachte. Wenn sie beispielsweise drohten, ihn zu verraten und einen Brief an die Projektleiter in Havanna zu schreiben, in dem sie darlegten, was ihr hiesiger Vertreter so im Schilde führte, was konnte Santiago ihnen dann als Gegenleistung bieten? Womit wir bei den Todesfällen wären. Sie alle wussten, dass Hong Lan nicht mehr lange zu leben hatte. Aber Isandro konnte den Gedanken, sie zu verlieren, nicht ertragen. Ihre Seelen sollten bis in alle Ewigkeit vereint sein. Odon erzählte Isandro von einem alten Palo-Brauch. Ein älteres Ehepaar aus einem Dorf in der Nähe seiner Heimatstadt hatte sich vergiftet. Dann hatte ein Schamane ihre Seelen im Tod vereint.«
Santiago fragte Dtui, woher der Doktor all das wisse.
»Ich habe mich gestern Abend angeregt mit Odon unterhalten«, antwortete Siri lächelnd. »Sagen Sie ihm, er würde sich wundern, wie gut sich zwei Männer, die keine gemeinsame Sprache sprechen, mit Hilfe von Händen und Füßen und einem spitzen Stock zu verständigen wissen.«
Genüsslich übersetzte Dtui seine Worte.
Der Leichenbeschauer fuhr fort. »Die Kubaner dachten, wenn Santiago wirklich ein so großer Priester sei, müsse er mit dieser Zeremonie vertraut sein. Vielleicht würde er sich ja bereiterklären, sie zu vollziehen, als Gegenleistung für ihr Schweigen. Aber Santiago weigerte sich, sie zu vollziehen. Er willigte jedoch ein, Odon darin zu unterweisen. Die Kratzer gehörten wahrscheinlich zu den Vorbereitungen des Rituals. Aber vielleicht ist der gute Doktor ja so freundlich, uns die Zeremonie zu erläutern, damit wir uns ein genaueres Bild davon machen können, was in der fraglichen Nacht passierte.«
Santiago hielt erschrocken inne. Er war damit beschäftigt gewesen, den Deckel der Teekiste möglichst unbemerkt zu öffnen. Trotzdem willigte er ein, die Geheimnisse der Zeremonie preiszugeben. Es wunderte Siri, dass er diese mutmaßlich streng geheimen Informationen so bereitwillig weitergab. Doch der Kubaner ließ kein noch so nebensächliches Detail aus und schöpfte mit sichtlichem Stolz aus dem reichen Schatz seines Wissens. Wie es schien, mussten die Herzen der Liebenden frisch sein, damit das Ritual seine Wirkung tun konnte. Am besten sei es, wenn die noch schlagenden Herzen bei lebendigem Leib herausgeschnitten würden, aber das sei den meisten Leuten etwas zu blutig. In jedem Falle müsse man die Leichen nach dem Exitus so lange wie möglich frisch halten.
»Daher das nasse Grab«, folgerte Siri. »Aber warum?«
Santiago erklärte Dtui, dass das Paar in der Ewigkeit genau so aussehe wie zu dem Zeitpunkt, da die Verschmelzung ihrer Seelen vollzogen worden sei. Und da selbst die Untoten so etwas wie ästhetisches Empfinden besäßen, sähen sie es ungern, wenn der oder die Geliebte sich im fortgeschrittenen Zustand der Verwesung befindet.
In den drei Nächten vor der Zeremonie rührt der Priester eine spezielle Paste an. Nur die allerbesten Priester kennen die erforderlichen Zutaten und Beschwörungsformeln. Der Kubaner prahlte mit seinen Fähigkeiten und nannte sich einen führenden Vertreter der schwarzen Kunst.
Siri unterbrach Dtui in ihrer Übersetzung. »Bitte danken Sie dem Doktor für seine Werbung in eigener Sache. Aber es wäre nett, wenn er auf die fragliche Nacht zurückkommen könnte.«
Santiago lachte.
»Was ist denn so komisch?«, wollte Lit von Dtui wissen.
Sie wand sich auf ihrem Stuhl, bevor sie ihm eine Antwort gab. »Er sagt, er könne uns alles verraten, was wir wissen wollen, weil …«
»Weil?«
»Weil wir drei uns an dieses Zusammentreffen ohnehin nicht erinnern werden. Er sagt, morgen früh bei Sonnenaufgang werden wir nicht einmal mehr wissen, wer wir sind.« Dtui und Lit machte diese Ankündigung sichtlich Angst. Nur Siri konnte ihr etwas Komisches abgewinnen.
»Darauf freue ich mich jetzt schon«, sagte er unwirsch. »Aber dieses kleine Kunststück haben Civilai und ich schon tausend Mal fertiggebracht. Mit einer Flasche Reiswhisky ist das wahrhaftig kein Problem. Und nun zur Zeremonie.«
Santiago gratulierte dem Doktor zu seiner Kaltschnäuzigkeit angesichts des grausigen Endes, das er in Kürze nehmen werde. Er erklärte sich bereit, das Ritual in allen Einzelheiten zu schildern. Der Priester, sagte er, entnimmt den Liebenden das Herz. Dann schneidet er es auf dem Altar in kleine Stücke und vermischt diese in einem Mörser mit der heiligen Paste. Dabei skandiert er immer wieder die entsprechende Beschwörungsformel, immer wieder, bis er in eine tiefe Trance fällt. Er nimmt nichts mehr wahr, außer den Handlungen, die es zu vollziehen gilt. Auf dem Altar, demselben Altar, auf dem er die Herzen zerkleinert hat, modelliert er aus der Paste nun einen Vogel. Einen fliegenden Vogel. Der Priester braucht kein großer Künstler zu sein. Der grobe Umriss eines Vogels genügt vollauf. Dann wird der Vogel verhüllt. Niemand darf ihn sehen oder gar berühren, damit er ein Eigenleben entwickeln und in die Ewigkeit davonfliegen kann. Dann werden die Liebenden für immer eins sein.
»Und wie lange dauert dieser Vorgang?«, fragte Siri.
Santiago überlegte einen Augenblick. Das sei schwer zu sagen. Wochen? Monate? Manchmal sogar Jahre. Und manchmal klappe es überhaupt nicht. Das hänge allein von der Willensstärke der Liebenden ab. Dann setzte Santiago seufzend seine Brille ab, als habe er genug gesagt. Plötzlich war er wie ausgewechselt. Er nahm die Teekiste aus der Schublade und stellte sie vor sich auf den Schreibtisch. Mit schroffer Stimme und blutunterlaufenen Augen knurrte er seine Gäste an.
Ein Zittern schlich sich in Dtuis Stimme. »Er … er sagt, es habe ihn sehr gefreut, aber jetzt müssten wir leider gehen.« Sie fiel aus ihrer Dolmetscherrolle. »Doc, die Sache ist mir irgendwie nicht ganz geheuer. Ich finde, wir sollten schnellstens …«
Bevor sie ihre Warnung zu Ende bringen konnte, hatte Santiago die Kiste mit der linken Hand ergriffen und schwang sie in hohem Bogen durch die Luft. Eine Wolke grauen Pulvers hüllte die drei Gäste ein. Der Geruch toter Tiere und der Gestank verdorbener Gewürze stieg ihnen in die Nase. Ein lang gedehnter, wütender Singsang drang zwischen den nikotingelben Zähnen des Kubaners hervor. Obwohl das Pulver ihnen in den Augen brannte, sahen sie, wie Santiago sich rücklings gegen die Wand presste und die Arme einem unsichtbaren Gott entgegenreckte.
Dtui hatte eigentlich erwartet, dass ihr Hörner sprießen, ihre Haut hässliche Blasen werfen und sie ein Gefühl des Grauens überkommen würde, musste aber lediglich heftig niesen. Auch Lit nieste. Siri tauchte aus der Wolke auf. Er hielt sich Mund und Nase zu und starrte den Kubaner an, der jetzt hinter seinem Schreibtisch auf dem Boden lag.
»Sie können ihm sagen, dass er mit diesem Unfug aufhören soll, Dtui. Es hat nicht funktioniert«, sagte Siri.
»Aber warum nicht?«, fragte Lit, zog die Pistole aus seinem Gürtel und richtete sie auf den verwirrten Kubaner.
»Weil es noch nie funktioniert hat«, erklärte Siri. »Unser guter Dr. Santiago ist nämlich ein Schwindler – ein Scharlatan. Er ist nur in seiner Einbildung der große Endoke-Hohepriester. Mit seinem Hokuspokus könnte er noch nicht einmal eine Flasche Lao-Bier zum Schäumen bringen.«
»Aber das ist unmöglich. Sie haben doch selbst gesagt, die Kubaner hätten ihn ausgewiesen, weil …«
»Weil er ihnen auf die Nerven ging und nicht etwa wegen seiner angeblichen Zauberkräfte. Sie hielten ihn schlicht für verrückt. Seine Experimente wirkten sich negativ auf seine Arbeit aus. Niemand stellt einen Chirurgen ein, und sei er noch so talentiert, der allen Ernstes glaubt, dass die bösen Geister ihm das Skalpell führen. Dtui, würden Sie ihm bitte auf die Beine helfen, bevor er Gelenkstarre bekommt?«
Dtui half dem Doktor auf seinen Stuhl zurück. Er murmelte noch immer einen alten Hexenfluch und konnte es nicht fassen, dass seine potenziellen Opfer nach wie vor bei klarem Bewusstsein waren.
»Ich will gar nicht leugnen, dass er die schwarze Kunst studiert hat«, fuhr Siri fort. »Im Gegenteil. Er ist vermutlich sogar ein veritabler Experte für die Riten und Rituale von Santería und Palo Mayombe. Aber es kann sich nun einmal nicht jeder hergelaufene José zum Großmagier stilisieren, ebenso wenig wie ich mich mir nichts, dir nichts zum Mr. Universum ernennen kann. Dazu braucht es schon ein wenig mehr. Nämlich eine unmittelbare Verbindung zur Geisterwelt. Und damit kann der gute Santiago, trotz seines nicht mehr ganz jugendlichen Eifers, leider nicht dienen.«
Da ihm Siris Worte niemand übersetzte, saß der Kubaner mit ratloser Miene an seinem Schreibtisch.
Lit stand kopfschüttelnd auf. »Aber das … das kann nicht sein. Was ist hiermit?« Er hob seinen Finger, der sich leblos krümmte wie ein aufgespießtes Insekt. Siri trat vor den riesigen Kühlschrank und öffnete die Tür, worauf Tausende von ordentlich aufgereihten Petrischalen zum Vorschein kamen.
»Genosse Lit, wenn es einem Menschen nicht gegeben ist, Wunder zu vollbringen – und diese Fähigkeit ist den wenigsten unserer Mitmenschen zu eigen -, muss er notgedrungen auf Täuschungsmanöver und Taschenspielertricks zurückgreifen. Nachdem feststand, dass unser Freund hier ein Betrüger ist, brauchte ich nur die Tricks Revue passieren zu lassen, mit denen er die vermeintlichen Wunder erklärte. Einige waren schlicht erfunden. Für andere gibt es eine rationale Erklärung. Nehmen wir zum Beispiel seinen sogenannten Liebestrank, mit dem er die junge Krankenschwester in sein Bett lockte. Sie folgte jedoch mitnichten einem Fluch. Vielmehr hatte er sie beim Diebstahl von Medikamenten erwischt, die sie nach Hause schicken wollte, in ihr Dorf. Ihre Liebesdienste waren der Preis für sein Stillschweigen. Simple Erpressung.
Viele seiner anderen Zaubereien lassen sich wissenschaftlich leicht erklären. Er ist nämlich unter anderem ein brillanter Chemiker. Ich habe versucht dahinterzukommen, wie er Ihren Finger zum Atrophieren brachte. Da Sie alle in derselben Höhle einquartiert waren, hat er Sie wahrscheinlich mit irgendeinem Virus infiziert. Wie Sie sehen, verfügt er über eine reichhaltige Sammlung von Kulturen. Er konnte ohne Weiteres nachts zu Ihrer Koje schleichen und Sie mit einem kontaminierten Präparat in Berührung bringen.«
Genosse Lit war wie vor den Kopf geschlagen. Hatte man ihn tatsächlich wie einen naiven Dorfbewohner hinters Licht geführt?
»Ich habe sämtliche merkwürdigen Ereignisse der letzten Zeit Santiago und dem Übernatürlichen zugeschrieben«, sagte er. »Ich habe sie nicht gemeldet, aus Angst vor der Reaktion meiner Vorgesetzten und nicht zuletzt aus Angst vor ihm. Meinen Sie, er hat auch etwas mit Oberst Has Tod zu tun? Anders kann ich mir dessen Reaktion auf den Hinterhalt nicht erklären.«
»Ist ein Gerücht erst einmal in die Welt gesetzt, entwickelt es rasch ein Eigenleben, junger Mann«, antwortete Siri. »Die Nachricht von der Krankheit seiner Tochter hatte den Oberst so schwer getroffen, dass er sich mit Opium darüber hinwegzutrösten versuchte. Ich fürchte, zum Zeitpunkt des Hinterhalts war er auf Grund seines Kummers und seines Drogenkonsums außer Stande, die Situation richtig einzuschätzen. Sein Bursche war der Ansicht, der Oberst sei nicht diensttauglich gewesen. Von Rechts wegen hätte er die Streife eigentlich gar nicht begleiten dürfen. Aber mit Hexerei hatte seine Reaktion nichts zu tun. Das Rauschgift hatte seine Sinne verwirrt.«
»Dann war also auch Isandro und Odons letzte Hoffnung nichts weiter als eine Fata Morgana. Auch sie waren einer Täuschung aufgesessen.«
»Ja und nein. Santiago weigerte sich, die Zeremonie zu vollziehen, weil er wusste, dass er nicht mit dem erhofften Resultat würde aufwarten können. Indem er Odon die Verantwortung übertrug, nahm er den Druck von seinen Schultern. Verstehen Sie? Dr. Santiago glaubt von ganzem Herzen an seine Magie. Er muss furchtbar enttäuscht gewesen sein, als er merkte, dass er damit nichts ausrichten konnte. Aber ich spüre – und vielleicht spürte er es ja auch -, dass Odon weitaus mehr Talent besaß. Er hoffte wohl, auf indirektem Wege doch noch zum Erfolg gelangen zu können, wenn er Odon das Ritual vollziehen ließ.«
»Wollen Sie damit sagen, Odon war ein Schamane?«
»Nein, nur dass er vermutlich über mediale Fähigkeiten verfügte. Er glaubte fest daran, dass der ganze Hokuspokus funktionieren würde und sein Freund und dessen Geliebte tatsächlich vereint in die Ewigkeit eingehen könnten. Das machte ihn für die Geister zu einem attraktiven Werkzeug.«
»Glauben Sie, es hat geklappt?«
Siri dachte an seinen ersten Besuch in der Präsidentenhöhle, an den Schrank und den Schatten der geheimnisvollen Fledermaus zurück. »Möglich wäre es«, sagte er. »Vielleicht ist der Doktor ja ausnahmsweise einmal auf die richtige Formel gestoßen.«
»Dann soll ich ihm sagen, sein Zauber hätte funktioniert?«, fragte Dtui.
»Um Himmels willen, nein. Wir dürfen ihn unter keinen Umständen in seinem Glauben bestärken, dass er tatsächlich die Fähigkeit besitzt, Menschen in die Ewigkeit zu schicken. Je gebremster sein Eifer, desto besser. Ich habe das dumpfe Gefühl, dass Dr. Santiago in Kürze von seinem Posten entbunden werden könnte. Von Civilai weiß ich, dass die kubanische Botschaft sich brennend für sein Interesse an der schwarzen Magie interessiert. Er tritt vermutlich schon in den nächsten Tagen die Heimreise an.«
Dtui musterte den alten Kubaner, der nach wie vor vergeblich nach einem Zauber suchte, um sich die ungebetenen Gäste vom Hals zu schaffen. »Gut, eine letzte Frage«, sagte sie. »Angenommen, die Zeremonie hatte den gewünschten Erfolg, und Isandro und Hong Lan sitzen jetzt glücklich vereint unter einem Bobaum irgendwo im Himmel und schlürfen ein Fläschchen prickelnden Nirwananektar. Warum gibt Odons Geist dann noch immer keine Ruhe?
»Ah, ja. Gute Frage«, meinte Siri. »Anfangs dachte ich, sein Geist suchte lediglich einen knackigen, makellosen Körper, in dem er die Nächte durchtanzen konnte. Weshalb seine Wahl naturgemäß auf mich fiel. Dann fragte ich mich, was ihn derart aufgebracht hatte. Die Antwort darauf gab mir der Hmong-Späher, der den Überfall in der besagten Nacht anführte. Ein interessanter alter Knabe. Ein echter Exzentriker. Er trägt die Nägel seiner kleinen Finger traditionell lang und lackiert.«
»Der Fingernagel im Grab der Mumie?«
»Genau. Aber das habe ich nicht weiter verfolgt. Er erzählte mir, dass der Überfalltrupp in der Nacht, als der Arbeiter seine Begegnung mit den beiden Kubanern meldete, längst zum Angriff bereitstand.«
»Wie das?«, wollte Lit wissen.
Diesmal beantwortete Dtui seine Frage. »Sie hatten einen Tipp bekommen.«
»Dreimal dürfen Sie raten, von wem«, setzte Siri hinzu. »Santiago wollte die Zeremonie so schnell wie möglich vollziehen. Er war neugierig. Aber er befürchtete auch, dass Odon ihn hinterher erpressen könnte. Oder dass sich herumsprechen würde, dass er, der große Arzt und Magier, ein Schwindler war. Er rechnete wohl nicht damit, dass die vietnamesischen Soldaten Odon umbringen würden. Oder es war ihm egal. Jedenfalls streute er nach dem gewaltsamen Ableben des jungen Mannes jede Menge Indizien, die den Schluss nahelegten, dass Odon der Palo-Priester gewesen war.«
»Und Odons Geist weiß das und sinnt auf Rache«, sagte Dtui.
»Da bleibt nur eins«, befand Siri. Er trat vor den Schreibtisch und lächelte Santiago an. Der Kubaner schien sich von seinem Schock erholt zu haben und war offenbar wieder obenauf. »Würden Sie dem guten Doktor bitte sagen, dass wir alles wissen? Nicht, dass ich seine Machenschaften gutheißen würde, aber ich habe nach wie vor den größten Respekt vor seinen Fähigkeiten als Chirurg. Ich bedauere sehr, dass er seinen Beruf nach Abschluss dieser Angelegenheit wohl nicht mehr wird ausüben können, wünsche ihm aber dennoch alles Gute für die Zukunft.«
Während Dtui übersetzte, reichte Siri dem Kubaner die Hand und bedachte ihn mit einem herzlichen Lächeln. Santiago schlug ein und erwiderte das Lächeln. Zunächst schien er erstaunt über Siris festen Händedruck. Dann dämmerte es ihm.
Der Kubaner schrie und versuchte vergeblich, seine Hand zurückzuziehen. Eine Kraft ging von Siri auf Santiago über. Dtui sah, wie der Kubaner sich auf seinem Stuhl wand und krümmte. Dann richtete er sich langsam zu voller Größe auf, und sein Gesicht wirkte irgendwie jünger als zuvor. Als Siri schließlich seine Hand losließ, schien ein anderer Mensch am Schreibtisch zu sitzen.
Auch Genosse Lit hatte die Verwandlung bemerkt. »Dr. Siri, darf ich fragen, was gerade passiert ist?«
Nach allem, was der Sicherheitschef mit angehört hatte, hielt Siri es für sinnlos, ihn weiter im Unklaren zu lassen. »Genosse Lit, in der vergangenen Woche hat der Geist Odons in meinem Körper gewohnt. Er fuhr an Santiagos Altar in mich. Damals dachte ich, er wolle sich an Schwester Dtui vergehen, aber wie sich herausstellte, richtete sich seine Wut gegen Santiago. Darauf hätte ich eigentlich schon viel früher kommen können.«
»Worauf? Dass ein Geist, der etwas auf sich hält, nie und nimmer über meine süße kleine Wenigkeit herfallen würde?«, fragte Dtui. Da sie sich dem alten Kubaner gegenüber nicht länger zur Höflichkeit verpflichtet fühlte, hatte sie das Übersetzen aufgegeben.
»Dass es dafür keinen logischen Grund gab«, sagte Siri. »Geister gehen im Allgemeinen logisch vor. Odon wollte seinen Namen und den seines Freundes reinwaschen, weil der Ruf eines Menschen seinen Tod überdauert. Und um uns auf die richtige Fährte zu führen. Jetzt hat er den Körper des Mannes in Besitz genommen, der seinen Tod verschuldet hat.«
»Und was soll ich jetzt tun?«, fragte Lit.
»Ach, ich denke, die tätige Mithilfe des Doktors dürfte Ihnen sicher sein. Vielleicht legt er sogar das eine oder andere Geständnis ab. Sie sollten ihn über Nacht in eine Zelle stecken und morgen ein wenig mit ihm plaudern, am besten im Beisein der kubanischen Delegation. Die Herren werden sich wundern, wenn sie hören, was er zu sagen hat. Sie werden sich vermutlich mit den Familien von Isandro und Odon in Verbindung setzen wollen, um zu klären, was mit den Leichen geschehen soll. Unser Politbüro wird den Rücktransport bestimmt gern übernehmen.«
»Sollte Hong Lan nicht gemeinsam mit ihnen bestattet werden?«, fragte Dtui.
»Ich wüsste nicht, warum«, erwiderte Siri. »Es geht nur noch um ihren Körper. Ihre Seelen sind bereits vereint.«