Der Jeep hielt vor dem Anwesen des Präsidenten, und Siri sah die Böschung hinauf zu der schmucken, rosa und grün getünchten Villa, die sich sanft an die turmhohe Felswand schmiegte. Gegenüber befand sich eine in den Stein gehauene Garage, die anderthalb Autos Platz bot. Dort, wo die Treppe nach oben führte, hatte jemand einen Bombenkrater liebevoll zu einem herzförmigen Zierbecken umgestaltet. Ein Ensemble von geradezu beängstigender Putzigkeit.
»Wissen Sie was, Doc?«, fragte Dtui, als sie die betonierten Stufen erklommen. »Ich dachte eigentlich immer, ihr hättet hier oben gehaust wie die Höhlenmenschen, in modische Bärenfelle gewandet. Ich wäre nie darauf gekommen, dass es hier so … zivilisiert zugeht.«
»Was haben Sie denn erwartet? Dass der Präsident der Republik sein Frühstück mit Pfeil und Bogen erlegen muss?«
»Wundern würde es mich jedenfalls nicht, so schwer, wie man in diesen Breitengraden an ein Frühstück kommt.«
Lit führte sie zu einem schmalen Pfad, der sich zum Höhleneingang hinaufschlängelte. Auf halber Strecke sahen sie einen Felsbrocken von der Größe eines aufgedunsenen Büffels, der auf einem Bett aus plattgedrückten Juckfruchtblüten und Poinsettien ruhte. Er musste mit ziemlichem Karacho auf dem Beton gelandet und dann in den Garten geschleudert worden sein. Unter der Wucht des Aufpralls war ein langer, gerader Abschnitt des Weges geborsten und gleich an mehreren Stellen aufgebrochen. Die Einzelteile lagen da wie Waggons nach einem Zugunglück.
An einer Bruchstelle überspannte ein kleines Stoffzelt den knapp einen Meter breiten Weg. Lit hob die Tuchbahn an, und darunter kam ein mumifizierter Arm zum Vorschein, der schräg aus einem breiten Spalt in der Betondecke ragte. Er steckte in einer transparenten, am Handgelenk verschnürten Plastiktüte. Die Handfläche war nach oben gekehrt, und die Finger waren zu Klauen verkrümmt. Woraus Siri schloss, dass der dazugehörige Leichnam, falls vorhanden, mit dem Gesicht nach oben in dem unversehrten Betonblock lag.
»Tja, dann wollen wir die Nuss mal knacken«, sagte Siri zu den beiden mit Hammer und Meißel bewaffneten Arbeitern, die ihnen gefolgt waren.
»Wie hätten Sie’s denn gern, Doktor?«, fragte der eine.
Das vor ihnen liegende Teilstück war rund ein Meter achtzig lang und um die fünfundsiebzig Zentimeter breit. Siri dachte einen Augenblick nach. »Ich glaube, wir sollten uns von den Rändern vorsichtig zur Mitte vorarbeiten. Warten Sie, ich markiere die entsprechenden Stellen.« Er hob ein Stück Kalkstein auf und zog damit rechts und links der Bruchstelle je eine weiße Linie.
»Ähm, Dr. Siri«, fragte Lit, »wäre es nicht einfacher, an dem Ende anzufangen, wo die Hand aus dem Beton ragt, oder den Block gleich von oben aufzustemmen?«
»Einfacher schon, Genosse Lit. Aber nicht unbedingt ratsam.«
»Ich glaube, ich verstehe nicht ganz.«
»Schwester Dtui wird es Ihnen sicher gern erklären.«
Dtui schrak aus ihren Träumereien. »Ach ja?«
»Gewiss.« Das war typisch für den Doktor. Siri stieß Dtui oft und gern ins kalte Wasser und kam ihr erst dann zu Hilfe, wenn er hundertprozentig sicher war, dass sie sich allein nicht mehr zu helfen wusste.
»Na schön.« Sie nahm die sonderbare Szene in Augenschein und spielte die Möglichkeiten in Gedanken durch. »Also«, sagte sie. »Wenn überhaupt eine Leiche darunter liegt, dann mit dem Gesicht nach oben. Dem Zustand des Arms nach zu urteilen, ist sie mumifiziert; ergo müsste sie geschrumpft sein.«
Siris Lächeln verriet ihr, dass sie auf der richtigen Spur war. Mit gestärktem Selbstbewusstsein fuhr sie fort.
»Da der Mann wohl kaum in den Beton gelangt sein dürfte, nachdem dieser ausgehärtet war, müssen wir davon ausgehen, dass er entweder vorsätzlich in feuchtem Zement begraben wurde – oder aber hineingefallen ist. Das heißt, der Zement ist um ihn herum erstarrt. Dann schrumpfte der Leichnam, und zurück blieb ein Abguss des Toten. Dieser Abguss könnte für uns ebenso aufschlussreich sein wie der Leichnam selbst. Darum sollten wir bei der Bergung möglichst behutsam vorgehen. Tatah«, sang sie. »Wo bleibt der Applaus?«
Lit und einer der beiden Arbeiter klatschten tatsächlich. Der Sicherheitschef musterte sie mit unverhohlener Bewunderung. »Nicht übel«, sagte er. »Alle Achtung.«
Noch immer lächelnd, beugte Siri sich über den Arm und betrachtete ihn aus der Nähe. Er entfernte die Plastiktüte und inspizierte die verkrümmten Finger. Die Haut hatte die Farbe dunkler Schokolade, was bei einer mumifizierten Leiche nicht ungewöhnlich war. Er wusste, dass er ihr nicht allzu viele Geheimnisse würde entlocken können. Da fiel ihm etwas auf. Der Handteller schien erheblich heller als der Handrücken.
Vorsichtig wie Archäologen bei einer antiken Ausgrabung setzten die Arbeiter den Meißel an.
»Meine Herren«, drängelte Siri, »wir haben es hier mit Beton zu tun. Wenn Sie in diesem Tempo weitermachen, stehen wir in dreißig Jahren noch hier. Also schlagen Sie um Gottes willen zu. Immer feste drauf.«
Und so schlugen sie. Sie arbeiteten sich von beiden Seiten zur Mitte vor, während Lit, Dtui und Siri sich am Fuß des Karstes niederließen. Die Sonne hatte mit Müh und Not ein Loch in den Nordostnebel gebrannt, den Erdboden aber noch nicht erwärmt. Dtui und Lit vertrieben sich die folgende Stunde mit zwanglosem Geplauder, während Siri döste. Das junge Paar hatte anscheinend allerhand gemein. Beide hatten die letzten Jahre mit der Pflege eines kranken Elternteils verbracht. Dtui erzählte Lit von der Zirrhose ihrer Mutter Manoluk und dass sie derzeit bei Siri wohnten. Der Doktor lebe nicht gern allein, erklärte sie, und teile seinen riesigen Parteibungalow mit einer wilden Schar von Herumtreibern und Streunern. Lits Vater hingegen hatte bei einer Bombenexplosion beide Beine und ein Stück Darm verloren. Vor ein paar Monaten war er seinen Verletzungen erlegen.
Sowohl Lit als auch Dtui hatten jede Gelegenheit zur Fortbildung genutzt. Lit war es dank ausgiebiger Lektüre von Gesetzestexten schon in relativ jungen Jahren gelungen, eine Führungsposition zu ergattern. Dtui hatte sich selbst Englisch beigebracht und zahllose medizinische Fachbücher auswendig gelernt. Nach dem Abzug der Amerikaner war sie auf Russisch umgestiegen und hatte dasselbe Feld ein zweites Mal beackert. Sie träumte davon, wie zweitausendvierhundertneunundneunzig andere Laoten im Ostblock studieren zu dürfen, und wollte jeden Kip, den sie erübrigen konnte, ihrer Mutter schicken.
Ein lautes Krachen setzte ihrem Gespräch ein jähes Ende. Siri hob schlaftrunken den Kopf. Die Arbeiter hatten die oberste Schicht des Betons mit Brecheisen aufgestemmt. Als sie die Platte herunterhieven wollten, brach sie entzwei.
Eine Mumie lag, wie in Todesqualen erstarrt, runzlig und verschrumpelt in einem Hohlraum aus Beton, den sie einst vollständig ausgefüllt hatte. Der eine Arm war dicht an den Körper gepresst, der andere hoch über den Kopf gestreckt. Die Knie waren leicht angewinkelt, und sie schien nichts weiter anzuhaben als ein Paar Fußballshorts, die ihr inzwischen mehrere Nummern zu groß waren. Das leuchtende Rot des Nylonstoffs hob sich scharf gegen das schokoladenbraune Äußere der Leiche ab.
Aber was die Umstehenden – und selbst Siri, der sämtliche Spielarten des Todes kannte – am meisten entsetzte, war der gepeinigte Ausdruck auf dem Gesicht der Mumie, in dem statt eines Mundes ein riesiges zahnloses Loch gähnte. Es handelte sich zweifellos um einen qualvollen Tod – und nicht etwa um einen Unfall.
»Was … was ist mit seinem Gesicht passiert?«, fragte Lit erschrocken.
Siri drehte die betonierte Grabplatte herum und betrachtete die Innenseite. Der Abguss war perfekt und bot ein nahezu vollkommenes Negativabbild des Kopfes. An der Stelle, wo dem Mund ein letzter erstickter Schrei entwichen war, schraubte sich ein Zementkegel in die Höhe. Im Fuß dieses Kegels steckten die fehlenden Zähne.
»Damit hätten wir die Erklärung für das Loch«, sagte Siri, ohne aufzublicken. Die anderen traten näher und spähten ihm über die Schulter. »Wie es scheint, bestand der letzte Atemzug unseres Freundes aus flüssigem Zement. Als der erstarrte und der Leichnam zu schrumpfen anfing, wurden ihm die Zähne buchstäblich aus dem Mund gerissen. Es würde mich nicht wundern, wenn sich in der Lunge noch mehr Zement befände.«
»Mein Gott«, sagte Lit. »Sie meinen, er war noch am Leben, als er in Beton gegossen wurde?«
»Sieht ganz so aus«, bestätigte Dtui.
»Was für ein grauenhafter Tod. Wer könnte so etwas getan haben?«
»Der Größe des Toten nach zu urteilen, dürfte der Täter ungemein kräftig gewesen sein«, antwortete Siri.
»Der oder die Täter«, setzte Dtui hinzu.
»Stimmt. Danke für den Hinweis. Genosse Lit, meinen Sie, der Präsident hat etwas dagegen, wenn wir sein Konferenzzimmer als Sektionssaal zweckentfremden?«
»Ich habe den Schlüssel«, sagte Lit. »Aber er reist nächste Woche zum Konzert an.«
»Wenn wir den Fall bis dahin nicht geklärt haben, werden wir ihn niemals klären, junger Mann. Ich bin der Erste, der eine Niederlage eingesteht.«
Richter Haeng kam aus seinem Gerichtssaal, wo er sich wieder einmal den halben Tag mit kleinlichen Familienstreitigkeiten hatte herumschlagen müssen. Eine Stadt, die alle tatsächlichen und potenziellen Verbrecher eingekerkert und die Kriminalität per Dekret abgeschafft hatte, war ein freudloser Ort für einen Richter. Er durchquerte das Sekretariat des Justizministeriums, wo die Angestellten an ihren Tischen saßen und in ihre klobigen Schreibmaschinen schwitzten. Sie nickten ihrem jungen Dienstherrn mit sichtlich gebremstem Enthusiasmus zu. Seit er vor zwölf Monaten die Moskauer Universität verlassen und sein Richteramt angetreten hatte, würdigte er sie kaum einer Silbe. Gewöhnlich kommunizierte er ausschließlich über die Bürovorsteherin Frau Manivone mit ihnen. Als er an ihren Schreibtisch trat, erhob sie sich artig und setzte ein nichtssagendes Lächeln auf. Sie trug eine frisch gebügelte khakifarbene Bluse und dazu einen knöchellangen schwarzen phasin. Gewöhnlich war sie ebenso sachlich wie ihre Kleidung.
»Wohlsein, Richter Haeng.«
»Ist er weg?«
»Wer?«
»Die Missgeburt aus der Pathologie.«
Sie seufzte. »Falls Sie Herrn Geung meinen, den haben sie gestern Abend abgeholt. Er müsste spätestens Mittwoch ankommen.«
»Gut. Ausgezeichnet.« Er hielt schnurstracks auf sein Büro zu.
»Aber …«
Er drehte sich noch einmal um. »Was?«
»Nun ja, ich verstehe das nicht ganz. Herr Geung ist bei allen sehr beliebt.«
»Beliebt? Ich höre wohl nicht recht! Ist das hier ein Ministerium oder ein Asyl für Sonderlinge und Außenseiter? Ich liebe meine Großmutter heiß und innig« – Frau Manivone glaubte ihm kein Wort -, »trotzdem käme ich nicht im Traum auf die Idee, sie mit einem leitenden Posten in der Gerichtsmedizin zu betrauen. Welchen Eindruck würden ausländische Besucher wohl mit nach Hause nehmen, wenn sie sähen, dass unser Staat Idioten beschäftigt?«
Obwohl sie diverse Antworten auf diese Frage parat hatte, stieß sie halblaut hervor: »Dass uns an unseren Mitmenschen gelegen ist?«
»Wie war das?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Dr. Siri davon sehr begeistert sein wird.«
Der Richter schlenderte zurück zu ihrem Schreibtisch. »Ach nein?«
»Nein.«
Er stützte sich auf die Tischplatte und erhob die Stimme, sodass ihn alle hören konnten. »Helfen Sie mir auf die Sprünge, junge Frau – arbeitet Dr. Siri für das Justizministerium?«
»Ja, Richter Haeng.«
»Und bin ich der Leiter des Justizministeriums?«
Manivone rief sich ins Gedächtnis, dass sie drei Kinder zu ernähren hatte. »Ja, Richter Haeng.«
»Und tut er, was ich ihm sage, oder tue ich, was er mir sagt?«
»Also, wenn Sie mich so direkt fragen. Weder noch, Genosse.« Eine ebenso unbesonnene wie zutreffende Bemerkung. Die umgehend mit einer Parteilosung bestraft wurde.
»Jetzt werden Sie mal nicht frech, Genossin Manivone. Im sozialistischen Bienenstock ist eine Biene so wichtig wie die andere. Aber wenn die Drohne der Königin gegenüber den nötigen Respekt vermissen lässt, fließt der Honig nicht halb so süß. Merken Sie sich das.«
»Jawohl, Richter Haeng.«
Er blickte zu den Schreibern, die sich eilends wieder ihrer Arbeit widmeten. Mit einem blasierten Lächeln auf den Lippen stolzierte er zu seinem Büro. Er hätte einen bühnenreifen Abgang hingelegt, wäre die verklemmte Tür nicht gewesen. Er warf sich laut fluchend dagegen, bis sie schließlich nachgab und er in sein Büro stolperte. Die Tür flog hinter ihm ins Schloss.
»Gott schütze die Königin«, kommentierte ein Schreiber das verdruckste Gelächter seiner Kollegen.
Herrn Geungs Angst wuchs mit jedem Kilometer, den sich der Transporter weiter von Vientiane entfernte. Einige der Soldaten befürchteten, er könne jeden Moment durchdrehen. Er kam ihnen vor wie ein Tier in der Falle, das sich glatt den eigenen Fuß abbeißen würde, um sich zu befreien. Selbst dem Feldwebel kamen leise Bedenken, als er Geung schlotternd und bibbernd auf der Holzbank sitzen sah. Aber seine Anweisung war klar und deutlich: Er sollte ihn bei einem Arbeitstrupp im Norden abliefern. Und da der Befehl direkt aus dem Justizministerium kam, konnte er ihn unmöglich verweigern. Seit Einbruch der Dunkelheit reagierte der Gefangene nicht mehr auf die Fragen der Soldaten, und ihre Versuche, ihn aufzuheitern, zeitigten nicht die geringste Wirkung. Sie begriffen weder, wie sehr ihn sein Gewissen quälte, weil er seine Freunde im Stich gelassen hatte, noch wie furchtbar einsam und traurig er war.
Die Einheit wollte im Lager des Achten Bataillons bei Van Khi übernachten. Der Transporter fuhr auf das umzäunte Gelände, und als Geung den Kopf hob, sah er, wie sich das Tor hinter ihnen schloss. Jeder Fluchtversuch war zwecklos.