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Eine Obduktion dient nur einem Zweck: der Aufklärung eines rätselhaften Todesfalles. Ist das Rätsel auch nach drei Stunden noch nicht gelöst oder gibt gar immer neue Rätsel auf, so sollte man sich allmählich mit dem Gedanken anfreunden, dass die Operation ein Fehlschlag war. Siri und Dtui wechselten bei jeder neuen Frage, auf die es keine Antwort gab, kopfschüttelnde Blicke. Zugegeben, der Zustand der Leiche machte ihnen die Arbeit nicht eben leichter. Der Zement war Ende Januar gegossen worden, der Leichnam hatte also fünf Monate Zeit gehabt, in Ruhe zu mumifizieren. Alles war stark geschrumpft, und sämtliche Verletzungen oder Anzeichen für etwaige Krankheiten verbargen sich in dem knotigen Gewebe unter dem dicken Panzer, in den sich die Haut verwandelt hatte.
Immerhin waren sie gleich zu Beginn auf drei geringfügige Unregelmäßigkeiten gestoßen. Erstens umklammerte die rechte Faust einen langen, dünnen Schlüssel mit kreisrunder Räute und einfachem Bart. Zweitens, aber das war im Grunde nicht weiter verwunderlich, wiesen die Zähne des Leichnams eine rosa Verfärbung auf, was den Schluss nahelegte, dass der Mann eines gewaltsamen Todes gestorben war. Drittens ragte an der Stelle, wo sich der Brustkorb des Opfers befunden hatte, ein langer, abgebrochener Fingernagel aus dem Beton, obwohl die Nägel der Leiche kurzgeschnitten waren. Er war mit einer Art Lack überzogen und deshalb recht gut erhalten. Woraus sie folgerten, dass der Nagel ursprünglich in der Haut des Opfers gesteckt hatte.
Diese Besonderheiten hatten sich relativ unschwer feststellen lassen. Nicht so die anderen. Das Einschussloch im Brustkorb beispielsweise hatten sie erst sehr viel später entdeckt, und auch das nur, weil sie die Haut Zentimeter für Zentimeter mit den Fingerspitzen abgetastet hatten. Es gelang Siri, eine dünne Häkelnadel in die winzige Öffnung einzuführen, doch so bekam er die Kugel nicht zu fassen. Sie beschlossen, damit bis zur inneren Leichenschau zu warten.
Es sprach einiges dafür, dass der Mann kein Asiate war. Die Gesichtsstruktur sowie die vollen Lippen ließen darauf schließen, dass es sich bei dem Toten um einen Negriden handelte. Zwar mochte dies bis zu einem gewissen Grad auf die postmortale Austrocknung zurückzuführen sein, aber die Haut war dunkler als bei mumifizierten Leichen üblich. Die Zähne der Leiche bestätigten Siris Hypothese. Dtui hatte sie vorsichtig von Betonresten befreit und so den Umriss des Gaumens freilegen können. Zwischen den mittleren Schneidezähnen des Oberkiefers befand sich eine Lücke, ein eindeutiges Indiz für die afrikanische Herkunft des Toten.
Sehr viel mehr hatte die Sektion der Leiche nicht ergeben. Das Vorhandensein eines sauberen Einschussloches, nicht aber der dazugehörigen Kugel, stellte Siri und Dtui vor ein Rätsel. Obwohl das Projektil den Körper nicht durchschlagen hatte, war es ihnen trotz gründlicher Suche nicht gelungen, es zu finden. Und das war nur eine von vielen ungelösten Fragen.
Lit war gekommen, um sich nach dem Obduktionsbefund zu erkundigen. Sie setzten sich mit einer Thermoskanne Tee und drei Blechtassen auf die Veranda des Gästehauses. Es war vier Uhr nachmittags und für diese Tageszeit erstaunlich still. Sie hatten noch nicht über den Toten gesprochen.
»Sieht ganz so aus, als hätten die Polizisten sich verlaufen«, sagte Dtui, als ihr auffiel, dass die Transporter noch nicht zurück waren. Siri hatte ihr seinen Verdacht hinsichtlich ihres Schicksals wohlweislich verschwiegen.
Genosse Lit zeigte sich weitaus mitteilsamer. »Die Lakaien der Amerikaner kommen nicht wieder«, erklärte er ihr ganz nebenbei. Siri kannte die Schmähungen, mit denen die Partei die Funktionsträger des alten Regimes zu belegen pflegte, nur zu gut, doch Dtui hob bei den Worten des Sicherheitschefs verdutzt die Augenbrauen, als habe sie soeben eine ganz neue Seite an ihm entdeckt. Sie hätte sich nicht zu wundern brauchen. Ein Kader, der schon in so jungen Jahren in eine so wichtige Stellung aufgestiegen war, wusste genau, wie man sich möglichst elegant an der Parteilinie entlangbewegte. Eine Gratwanderung, die jederzeit mit einem tödlichen Absturz enden konnte.
»Warum nicht?«, fragte Dtui.
»Weil sie in ein Lager überstellt worden sind«, antwortete Lit.
»Ach wirklich? Ich kann mich nicht entsinnen, dass sie heute Morgen mit Gepäck auf den Transporter gestiegen wären.«
»Nein.«
Offenbar glaubte Lit, der leidigen Fragerei mit diesem Nein ein jähes Ende gemacht zu haben, aber da kannte er Dtui schlecht.
»Und warum sind sie ohne ihre Sachen überstellt worden?«
Siri wusste, dass sie damit hart am Abgrund balancierte. Lit war den ganzen Tag von ausgesuchter Höflichkeit gewesen, doch auf solche Fragen reagierten treue Parteisoldaten wie er normalerweise höchst allergisch; sie waren keinen Widerspruch gewohnt.
»Ich finde, wir sollten uns jetzt unserer Zementleiche zuwenden«, sagte der Doktor.
Aber Lit ließ nicht locker. »Weil sie ihre Sachen da, wo sie jetzt sind, nicht mehr brauchen, Schwester Dtui.«
»Keine Sachen?« Dtui stand am bröckelnden Rand der Klippe. »Keine Kleider? Keine Seife? Keine Andenken an daheim?«
»Nein.«
»Und warum nicht?« Plötzlich herrschte zwischen den beiden ein Vakuum.
»Weil sie lernen müssen, ohne all das auszukommen.«
»Ohne Kleider? Nachts ist es hier oben eisig kalt. Sie werden sich den Tod holen.«
»Schon möglich. Aber wer nicht im Stande ist, sich neuen Gegebenheiten anzupassen, wird ihnen früher oder später naturgemäß zum Opfer fallen.«
Siri unternahm einen zweiten Versuch. »Ich finde, wir …«
»Wie bitte? Anpassen? Was sollen sie denn machen? Sich über Nacht einen dichten Pelz wachsen lassen?« Sie hatte sich kopfüber in die Schlucht gestürzt und war rettungslos verloren.
Lit richtete sich zu voller Sitzgröße auf und sagte laut: »Wir sind keine Unmenschen, Genossin Dtui. Selbstverständlich versorgen wir sie mit einer Decke und einer einfachen Mahlzeit. Aber die ersten Tage im Seminar sind so eine Art Härtetest für die korrupten Lakaien der Amerikaner, die wie die Maden im Speck gelebt und die Massen ausgeblutet haben. Ihre eigenen Exzesse haben sie weich gemacht. Wir geben ihnen Gelegenheit, wertvolle Mitglieder dieser Gesellschaft zu werden.«
»Durch Zwangsarbeit und Grausamkeit?«
»Dtui!«, herrschte Siri sie an. Er wurde langsam wütend, nicht wegen ihrer Fragen, die er für durchaus berechtigt hielt, sondern weil sie nicht wusste, wann sie den Mund zu halten hatte.
Lit ging zum Angriff über. »Leute wie Sie wollen einfach nicht begreifen.«
»Leute wie ich? Und wer, bitte, sind ….«
»Schluss jetzt!« Siri knallte seine Blechtasse auf den Tisch. Der Tee schwappte über den Rand und ergoss sich auf das lackierte Holz. »Das gilt für Sie beide. Ich bin keine vierhundert Kilometer gereist, um ideologische Grundsatzdiskussionen zu führen. Wir sind hier, um ein grausiges Verbrechen aufzuklären. Ein wenig mehr Disziplin, wenn ich bitten darf!«
Derart in Rage hatte Dtui ihren Chef noch nie erlebt. Obwohl er vermutlich bluffte, wusste sie, dass sie die Grenzen des Erlaubten überschritten hatte. »’tschuldigung, Doc. Sie haben ja Recht.«
Mit einem Seufzer der Erleichterung schilderte Siri den Zustand der Leiche und die Unregelmäßigkeiten, auf die sie bei der Obduktion gestoßen waren. Dtui schwieg.
»Letztlich«, sagte Siri, »deutet alles darauf hin, dass der gute Mann erst angeschossen und dann, noch lebend, in den nassen Zement getaucht wurde, bis er darin buchstäblich ertrank. Was ihn das Leben gekostet hat, war ohne Zweifel der Zement, auch wenn ihn die Schusswunde erheblich geschwächt haben dürfte. Die Kugel hat einen Lungenflügel durchbohrt.«
»Und Sie glauben, er war schwarz«, setzte Lit hinzu, nun wieder ganz der nüchterne Ermittler.
»Ich würde nicht unbedingt mein Leben darauf verwetten, aber der Verdacht liegt nahe. Sprich, es handelt sich mit ziemlicher Sicherheit um einen Kubaner.«
Dtui brach ihr Schweigen. »Warum?«
»Die einzigen dunkelhäutigen Ausländer, denen Sie hier oben begegnen werden, sind Kubaner«, sagte Siri. »Was finanzielle und personelle Unterstützung angeht, war Señor Castro schon immer sehr spendabel. Gab es hier in der Nähe nicht ein von Kubanern und Vietnamesen gemeinschaftlich betriebenes Krankenhaus?«
»Das gibt es immer noch«, sagte Lit.
»Wirklich? Und wird es auch immer noch von Dr. Santiago geleitet?«
»Wenn mich nicht alles täuscht, verwaltet er die Fördergelder für die Klinik. Von leiten kann nicht die Rede sein.«
»Ah, ausgezeichnet. Wir kennen uns gut, jedenfalls so gut, wie es zwei Männern möglich ist, die nicht dieselbe Sprache sprechen. Es wäre vielleicht keine schlechte Idee, dem Herrn Doktor einen privaten Besuch abzustatten und nachzuhorchen, ob zu der Zeit, als der Betonweg angelegt wurde, vielleicht der eine oder andere Kubaner verschüttgegangen ist.«
»Dann, äh, darf ich diesen Teil der Ermittlungen Ihnen überlassen, Doktor?«
Siri fand es merkwürdig, dass der Sicherheitsbeamte die Untersuchung bereitwillig an einen einfachen Gerichtsmediziner delegierte, fragte jedoch nicht weiter nach. Ein wenig Detektivarbeit konnte schließlich nicht schaden. »Aber gern.«
»Gut«, sagte Lit. »Dann fahre ich jetzt zurück in mein Büro. Ich schaue morgen um die gleiche Zeit wieder vorbei. Ich habe die Leute in der Küche angewiesen, Ihnen drei Mahlzeiten täglich zu servieren. Viel mehr werden sie die nächsten acht Tage ohnehin nicht zu tun haben.« Er stand auf und nickte ihnen zu.
»Bis die nächste Ladung von Lakaien eintrifft«, raunte Dtui dem Doktor zu. Falls Lit sie gehört hatte, ließ er sich das nicht anmerken und ging wortlos davon. Als sein Jeep auf den Feldweg abgebogen war, funkelte Siri seine Assistentin wütend an und schüttelte den Kopf.
»Was ist?«, fragte sie.
»Sie kennen nicht allzu viele Kommunisten, was?«
»Aber Sie sind doch Kommunist.«
»Zwischen einem eingetragenen Parteimitglied und einem echten Kommunisten klafft ein himmelweiter Unterschied. Mit echten Kommunisten ist nicht zu spaßen. Wer sich mit ihrer Lehre nicht einverstanden erklären mag, ist in ihren Augen ein Feind.«
»Ihrer Lehre? Dr. Siri, Sie sind einer von denen. Es ist also auch Ihre Lehre.«
»Und ich gebe zu, ich habe lange Zeit an sie geglaubt. Offen gestanden, bin ich eigentlich noch immer davon überzeugt, dass ein gut funktionierendes sozialistisches System die Welt von ihrer Lethargie und ihrem Egoismus heilen könnte. Aber zu dieser Einsicht müssen die Menschen aus eigenem Antrieb gelangen, durch Klarsicht und Vernunft …«
»Und nicht durch Folter.«
»Genau. Dieses Problem werden Sie allerdings kaum lösen, indem Sie Leute wie den Genossen Lit niederbrüllen. Niemand brüllt lauter als ein Roter.«
»Und wie lässt sich das Problem dann lösen?«
»Früher oder später löst es sich ganz von allein.«
»Aber bis dahin werden noch viele Menschen leiden.«
»Und da ich Sie nur ungern leiden sähe, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie Ihren hübschen Mund fortan fest geschlossen halten könnten. Das ist ein Befehl. Damit bewirken Sie rein gar nichts. Sie wissen ja, was man über lose Zungen sagt.«
»Sie werden ausfallend?«
Siri lachte. Die Rolle des gestrengen Zuchtmeisters lag ihm nicht. Dtui schmollte, zeigte jedoch Verständnis. Sie wusste, dass Siri nur wegen der Frau, die er liebte und der er vierzig Jahre lang die Treue gehalten hatte, in die Partei eingetreten war. Auch heute noch war er Mitglied, besaß allerdings genügend Abstand, um zu erkennen, dass die Pathet Lao sich von den Vietnamesen zu Schoßhündchen hatten abrichten lassen, ebenso wie seinerzeit die Royalisten um die Franzosen und Amerikaner herumscharwenzelt waren. Er hatte sich damit abgefunden, dass seine laotischen Brüder und Schwestern dazu verurteilt schienen, sich stets von noch größeren Narren zum Narren halten zu lassen. Zwar war er nicht eben das Paradebeispiel eines Mannes, der wusste, wann er den Mund zu halten hatte, doch Dtuis Erfahrung sagte ihr, dass er mit guten Ratschlägen gewöhnlich nicht hausieren ging.
Obwohl er zu Tode erschöpft war, wälzte er sich auf seiner klumpigen Matratze auch in dieser Nacht schlaflos hin und her. Die Geister auf den Feldern riefen ihn. Unter ihnen befanden sich auch viele treuherzige junge Kader. Nach ihren Kämpfen mit den Hmong-Rebellen hatte er sie zu Hunderten zusammengeflickt. Und alle sagten sie dasselbe: »Schau uns an. Das haben wir nun davon. Und was hast du getan? Uns verarztet, damit wir von Neuem in die Schlacht ziehen konnten. Weiter nichts.« Sie hatten Recht. Aber das wollte er nicht hören. Er wollte schlafen, obgleich er wusste, dass er sich im Schlaf den bösen Geistern würde stellen müssen, die in den dunklen Gassen seiner Albträume lauerten.
Die kalte, sternenlose Nacht war so finster, dass er selbst mit weit aufgerissenen Lidern weder das zusammengewürfelte Mobiliar noch die eigene Hand vor Augen sehen konnte. Ein unsichtbares Insekt flatterte gegen das Moskitonetz, und er konzentrierte sich auf das Summen seiner winzigen Flügel. Indem er sich einbildete, es sehen zu können, und wie hypnotisiert dem Summen lauschte, hoffte er, sich in den Schlaf wiegen zu können. Und fast wäre ihm das auch gelungen. Die Stimmen waren verstummt, er döste immer wieder ein, doch just in dem Moment, als er endgültig in tiefen Schlummer sank, lärmte die infernalische Diskothek von Neuem los. Obwohl es von weither zu kommen schien, breitete sich das Wummern der Bässe aus wie ein Erdbeben und drang bis in den ersten Stock des Gästehauses. Es brachte die Bettpfosten – und Siri – zum Vibrieren.
Was war nur mit der Jugend dieses Landes geschehen? Wie hatte sie einen derart grässlichen Musikgeschmack entwickeln können? Und: Ließ sich das schaurige Gejaule qualvoll verendender Amerikaner überhaupt als Musik bezeichnen? Er wusste nicht mehr, wie viele nervtötende Nummern er über sich hatte ergehen lassen müssen, als er endlich den ersehnten Schlaf fand.
In seiner Traumwelt herrschte seltene, wohltuende Stille. Eine Krähe und eine Spätzin hockten in luftiger Höhe auf einer Hochspannungsleitung. Diese Leitung konnte nur im Traum existieren, denn eine T-28 flog unter ihr hindurch und nahm das Land aus der Luft unter Beschuss. Bomben stürzten in die Reisfelder und versanken im Schlamm, ohne zu explodieren. Es war ein stummer Traum, nicht einmal von Musik begleitet. Die Krähe putzte die Spätzin, als kümmere sie weder ihre Stellung innerhalb der Vogelkaste noch das nahe Schlachtgetümmel. Sie waren gänzlich entrückt. Alles andere schien bedeutungslos. Ein beschaulicher Anblick: die neckenden Vögel, die feuernde T-28, die abgeworfenen Bomben, die einfach nicht explodieren wollten.
Zu seinem Entsetzen fand Siri sich plötzlich außerhalb des Moskitonetzes wieder. Bibbernd stand er da, bekleidet nur mit seiner Unterhose: Ein – wenn auch recht zäher – Festschmaus für fleischfressende Insekten. Er hatte keinen Schimmer, weshalb er die sichere Zuflucht des Moskitonetzes verlassen hatte oder warum er dort stand. Das matte Licht des Vollmonds quoll durch einen Vorhangspalt, und er sah, dass in dem leeren Bett am anderen Ende seines Zimmers ein Mädchen lag. Die Kleine war etwa vier Jahre alt und sichtlich unterernährt. Als Siri zu ihr trat, blickte sie auf.
»Wie bist denn du hierhergekommen, Schätzchen?«, fragte er. »Und warum hast du kein Moskitonetz?«
Sie lächelte. Als sie zu einer Antwort anhob, klang ihre Stimme wie die einer erwachsenen Frau. »Ich habe nicht viel Zeit, Onkel.«
»Was kann ich für dich tun?«
»Schau und sieh«, sagte sie.
Plötzlich ertönte ein Grollen, und dann fiel ihnen buchstäblich die Decke auf den Kopf. Der Fußboden gab nach, und sie trudelten langsam in die Tiefe, wie Blätter von einem Baum. Mit ihnen fiel ein junger Gockel. Er blickte Siri in die Augen und stieß ein heiseres Kikeriki hervor.
Fahles Licht sickerte durch die Nylonvorhänge ins Zimmer. Auf dem Netz über Siris Kopf lag ein gutes Dutzend toter Fluginsekten und streckte alle viere von sich. Obwohl die Traumgeister ihn immer wieder an der Nase herumführten, wirkte das zweite Erwachen heute erstaunlich realistisch. Wieder krähte der Hahn, diesmal begleitet vom Kläffen eines Hundes. Irgendwo ganz in der Nähe spielte eine klui, eine aus grünem Bambus geschnitzte Flöte, technisch perfekt, doch ohne Herz eine simple Melodie. Während Siri ihr lauschte, reckte und streckte er sich unter der Decke, um festzustellen, welche Knochen und Muskeln ihm heute wehtun würden. Darauf hatte er keinen Einfluss. Oft überanstrengte er sich im Traum und musste am nächsten Morgen dafür büßen. Heute jedoch schien alles in bester Ordnung zu sein. Nicht einmal beim Aufstehen spürte er seine Glieder.
Barfuß trat er an das leere Bett und betrachtete die jungfräuliche Decke. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund schlug er sie zurück. Es lag nichts darunter. Wie sollte es auch? Die Wirklichkeit hatte ihn wieder. Er wollte die Decke eben sinken lassen, als er auf etwas trat. Er hörte das quatschende Geräusch und fragte sich, ob er die fallsüchtige Eidechse vielleicht von ihrem Elend erlöst hatte, doch es war nur eine Beere. Sie musste aus der Obstschale auf dem Tisch gekullert sein. Er inspizierte die kleine rote Frucht. Obwohl er die Sorte schon oft gesehen hatte, wusste er nicht, wie sie hieß. Noch vor ein paar Jahren hätte er sie achtlos aus dem Fenster geworfen. Inzwischen jedoch wusste er, dass nichts ohne Bedeutung war, dass alles mit allem zusammenhing. Es gab keine Zufälle. »Schau und sieh.« Er wickelte die Beere in ein Stück Küchenpapier von der Rolle auf dem Tisch und verstaute sie in seiner Tasche.
Siri selbst hatte Herrn Geung von seinen Abenteuern in Luang Prabang erzählt. Es war ein Ort unter vielen, ebenso wie Paris, Frau Kits Besen- und Bürstenfabrik oder der Mond. Für Herrn Geung waren das nichts als Worte. Er verspürte weder den Drang noch die Notwendigkeit, dorthin zu reisen. Er hatte seine eigene kleine Welt und brauchte keine andere. Und so war er auch nicht sonderlich erfreut oder gar beeindruckt, als der Konvoi in der Provinz Luang Prabang eintraf. Die Fahrt in der alten Klapperkiste war für sie alle, insbesondere jedoch für Geung, eine Tortur gewesen.
Er hatte jegliche Hoffnung aufgegeben. Die neuen Reize, die unablässig auf ihn einstürmten, überforderten ihn völlig, und so saß er wie befohlen auf der schmalen Holzbank und starrte verwirrt auf die vorbeiziehende Landschaft, ein grandioses Gebirgspanorama, wie er es in seinem doch recht reduzierten Leben noch nie zu Gesicht bekommen hatte.
Immer wenn sie haltmachten und die Soldaten vom Transporter kletterten, um ihre schmerzenden Glieder zu dehnen und zu strecken, folgte Geung ihnen zum Wasserlassen in den Wald. Inzwischen war er so wortkarg und gefügig, dass die Soldaten ihn eher wie einen Seesack behandelten denn wie einen Gefangenen. Er hievte sich von der Ladefläche, und sie verfrachteten ihn in eine Ecke. Sie führten ihn zum Messzelt oder zu den Kojen. Wohin sie ihn auch stellten, sie wussten, dass er noch dort sein würde, wenn sie ihn brauchten. Sie schenkten ihm so wenig Beachtung, dass sie ihn bei ihrer Ankunft in der Kaserne von Xieng Ngeun längst vergessen hatten.
Der Feldwebel stürzte die hölzernen Stufen hinauf und klopfte an den Rahmen der offenen Tür des Offizierskasinos. Ohne eine Antwort abzuwarten ging er hinein und trat vor seinen Vorgesetzten, der das Mitteilungsblatt der Lao Huksat studierte.
»Hauptmann Ouan?«
»Was gibt’s?«
»Der Schwachkopf.«
»Was ist mit ihm?«
»Er ist verschwunden.«
»Verschwunden? Wohin?«
»Das, äh, das wissen wir leider nicht genau. Als die Transporter ankamen, war er nirgends zu finden.«
Der Hauptmann warf seine Zeitung beiseite. »Sie sollten doch ein Auge auf ihn haben.«
»Ja. Bitte vielmals um Entschuldigung. Er ist nach jeder Rast auf den erstbesten Transporter gestiegen. Wir hatten uns daran gewöhnt, dass er ständig woanders herumlungerte.«
»Soso. Gewöhnt. Wann wurde er zuletzt gesehen?«
»Kurz vor Xieng Ngeun, als wir anhielten, um Kaninchen zu schießen.«
Der Hauptmann seufzte. »Nun ja, sehr weit wird er wohl nicht gekommen sein. Unteroffizier? Fahren Sie die Strecke mit dem Jeep ab, und suchen Sie ihn.«
»Jawohl, Herr Hauptmann.« Er salutierte und wandte sich zum Gehen, drehte sich in der Tür aber noch einmal um. »Eigentlich bin ich Feldwebel, Herr Hauptmann.«
»Jetzt nicht mehr.«