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Der Pathet-Lao-Fahrer stand Siri für die Dauer seines Aufenthalts zur Verfügung. Um acht Uhr morgens hielt der Jeep vor dem neuen Bezirkskrankenhaus in Xam Neua. Noch vor vier Jahren war die Hauptstadt der Provinz Houaphan eine einzige große Schutthalde gewesen. Zwölf Jahre Bombenkrieg hatten kein Haus unversehrt gelassen. Zwar hatten die Fliegerleitoffiziere von Air America die Angriffe ferngesteuert und die Bomber ins Zielgebiet gelotst, doch den Finger am Drücker hatten vor allem laotische und Hmong-Piloten. Es war eine symbolische Geste, weiter nichts. Sämtliche Zivilisten waren längst geflohen, als sie die Stadt dem Erdboden gleichmachten.
Inzwischen entstand an ihrer Stelle eine neue Stadt mit protzigen Boulevards so breit wie die Champs-Élysées, die allem Anschein nach zu einer kommunistischen Vorzeigemetropole herausgeputzt werden sollte. Das Krankenhaus war nichts weiter als eine provisorische Ansammlung weiß getünchter Baracken, und das Personal harrte bereits sehnsüchtig des Umzugs in ein komfortableres Domizil. Die Verwaltung befand sich im selben Gebäude wie die Aufnahme, und Siri und Dtui fanden Dr. Santiago umringt von einem mächtigen Gebirgsmassiv aus Büchern und Aktenordnern. Er war etwa so alt wie Siri, ein dürres Männlein mit wirrer Albert-Einstein-Frisur. Seine Brille hatte bullaugengroße Gläser und war so dick wie der Boden einer Thai-Rum-Flasche. In dem Aschenbecher neben ihm lag eine qualmende Zigarette, und der Rauch umwölkte seinen hageren Schädel. Er war es offenbar gewohnt, dass man in seinem Büro ein und aus ging, denn er blickte nicht von seiner Arbeit auf, als die beiden Besucher hereinkamen.
»Dr. Santiago?«, sagte Siri, als er ihn hinter den Bergen von Papier erspähte.
»Da?« Der alte Kubaner brütete noch immer über seinen Listen. Dass er Russisch sprach, wunderte Siri nicht. Obwohl Dr. Santiago schon seit fast zehn Jahren als Leiter der medizinischen Entwicklungshilfe in Houaphan tätig war, weigerte er sich beharrlich, Laotisch oder Vietnamesisch zu lernen. Er sprach fließend Spanisch, Englisch und Russisch und verspürte nicht die geringste Lust, in seinem vorgerückten Alter noch eine weitere Fremdsprache zu lernen. Er hatte schließlich nicht darum gebeten, nach Laos versetzt zu werden und sich mit den Vietnamesen herumschlagen zu müssen, die er auf den Tod nicht ausstehen konnte. Jedenfalls dachte er nicht im Traum daran, kulturelle Gräben zu überwinden. Er war der Experte, also lag die kommunikative Bringschuld bei den anderen. Alles in allem war er wie Siri ein ebenso sturer wie charmanter alter Kauz.
»Dosvidanje«, sagte Siri. Es war das einzige russische Wort, das er kannte, auch wenn er nicht recht wusste, was es zu bedeuten hatte.
Endlich blickte Santiago auf und blinzelte durch seine Brille. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er seine Gedanken geordnet und seinen alten Freund wiedererkannt hatte. »Das ist doch nicht etwa … Dr. Siri?«, fragte er auf Englisch. Er sprang von seinem Stuhl und lief um den Schreibtisch, um den hochverehrten Kollegen zu umarmen. Grinsend und lachend fielen sie einander in die Arme, aber Dtui bemerkte rasch, dass sie sich nicht verständigen konnten. Siri hatte ihr erzählt, dass er und Dr. Santiago mit Unterbrechungen fünf Jahre zusammengearbeitet hatten, obwohl sie über keine gemeinsame Sprache verfügten. Zwar sprach Siri einigermaßen fließend Vietnamesisch und Französisch, aber auch er hatte sein Sprachpensum erfüllt. Wenn gerade kein Englisch-Laotisch-Dolmetscher zur Stelle war, hatten die beiden sich darauf beschränkt, die chirurgischen Fähigkeiten des jeweils anderen zu bestaunen und mittels Skizzen oder Gebärden kommuniziert. Sie hatten sich trotz aller Hindernisse so prächtig verstanden, dass Siri sich manchmal fragte, ob eine gemeinsame Sprache ihrer Beziehung nicht womöglich geschadet hätte.
Siri löste sich aus Santiagos Umarmung und deutete auf seine Assistentin. »Schwester Dtui«, sagte er.
»Hallo, Dr. Santiago. Freut mich sehr«, sagte sie auf Englisch.
Siri und Santiago starrten Dtui ein paar Sekunden verdutzt an, dann schloss der Kubaner auch sie in die Arme. Es war eine für Laoten ganz und gar deplacierte Geste, die dem Geist des Augenblicks jedoch mehr als angemessen schien. Er lobte ihr vorzügliches Englisch.
»Ich kann es zwar lesen und schreiben«, sagte sie, »aber mit dem Sprechen hapert es noch.« Es stimmte. Sie hatte noch kein einziges Wort Englisch geredet. Die Sprache diente ihr allein zu Studienzwecken. Dtui war selbst ein wenig überrascht, als die Worte so aus ihr herausgesprudelt kamen.
Er versicherte ihr, es sei in jedem Fall dieselbe Sprache, ganz gleich, ob man sie spreche oder schreibe. Und obwohl sie es nur unzureichend beherrschte, war das Englische von nun an ihre Kommunikationssprache und Dtui ihre frischgebackene Dolmetscherin. Sie wusste, dass ihre Aussprache sehr zu wünschen übrig ließ, was Santiago jedoch nicht weiter störte, denn sein Akzent war nicht minder schauderhaft. Auch er hatte sein Englisch aus amerikanischen Lehrbüchern. Siri war voll der Bewunderung für seine begabte Assistentin.
Im Lauf des Vormittags erzählten sich die beiden alten Männer, wie es ihnen seit ihrer letzten Begegnung ergangen war. Die Verwaltung der kubanischen Hilfsgelder sei derart arbeitsintensiv, erklärte Santiago, dass ihm für seine eigentliche Tätigkeit kaum noch Zeit bleibe. Und obgleich immer mehr Bauern auf den Feldern in die Luft gesprengt wurden, gab es immer weniger Personal, das sie behandeln konnte. Da es im ganzen Land keine hundert qualifizierten Mediziner gab, mussten die PL-Doktoren doppelte Arbeit leisten, um den Verlust der royalistischen Ärzte wettzumachen, die sich beizeiten nach Thailand abgesetzt hatten.
Mit Dtuis Hilfe, deren Selbstvertrauen von Minute zu Minute wuchs, kam Siri schließlich auf das Rätsel seiner Zementleiche zu sprechen. Der Kubaner sann einen Augenblick darüber nach und fragte dann, ob er sicher sei, dass sich der Vorfall Anfang des Jahres ereignet habe.
»Am 21. Januar, um genau zu sein«, sagte Siri.
»Dr. Santiago sagt, wenn es ein paar Monate früher geschehen wäre, hätte er uns mit zwei aussichtsreichen Kandidaten dienen können«, übersetzte Dtui. »Falls ich ihn richtig verstanden habe. Aber die beiden sind seines Wissens schon vergangenen Oktober nach Kuba zurückgekehrt.«
»War ihr Einsatz hier beendet?«
»Nicht direkt. Er sagt, die Sache liege ein wenig komplizierter. Die beiden seien 1971 wegen irgendeines Projekts bei Kilometer 8 hierhergekommen.«
»Xieng Muang«, sagte Siri. »Das ist das Lazarett. Ein kleines Wunderwerk. Sie höhlten zwei Berge aus und bauten zwei komplette Krankenstationen, die aus der Luft nicht zu sehen waren, aber tausend Patienten aufnehmen konnten. Eine beeindruckende Ingenieurleistung. Das vietnamesische Militär lieferte die Arbeitskräfte; die Kubaner stellten Schwestern und Pfleger zur Verfügung.«
»Er meint, Sie erinnern sich vielleicht noch an die beiden. Sie hießen Isandro und Udon.«
»Odon«, verbesserte Santiago.
»Pardon, Odon. Er sagt, sie waren von Anfang an dabei.«
Siri nickte. Zwar war er nur hin und wieder nach Xieng Muang beordert worden, um als Chirurg auszuhelfen, und hatte dazu stets sein laotisches OP-Team mitgenommen, erinnerte sich jedoch durchaus an die schwarzen Krankenpfleger auf der Station. Auch wenn er mit ihnen nie auch nur ein Wort gewechselt hatte.
»Während der Bauarbeiten«, übersetzte Dtui weiter, »wurden die Verwundeten hier und da in provisorischen Höhlen verarztet. Isandro und Odon taten dort als Chefkrankenpfleger Dienst. Als das Lazarett bei Kilometer 8 schließlich fertig war, wurden sämtliche Patienten dorthin verlegt. Nachdem die beiden ihre vier Jahre hinter sich hatten, meldeten sie sich freiwillig zu einem zweiten Einsatz. Das war anscheinend ziemlich ungewöhnlich. Die meisten Kubaner wollten so schnell wie möglich zurück nach Hause. Aber die beiden waren fleißig und hatten sich mit den Einheimischen angefreundet. Sie hatten Laotisch gelernt und sogar Geschmack an der hiesigen Küche gefunden«, sagte sie und setzte vorsichtshalber hinzu: »Auch wenn ich dafür nicht die Hand ins Feuer legen würde.«
Siri ignorierte ihren Warnhinweis. »Und warum wurden sie dann vorzeitig nach Hause geschickt?«, fragte er.
Es dauerte eine Weile, bis sich Dtui und der alte Kubaner einig waren.
»Wie es scheint«, sagte Dtui, »gab es Beschwerden.«
»Von wem?«
»Ein ranghoher Offizier der vietnamesischen Armee behauptete, einer der beiden, Isandro, habe seiner Tochter Avancen gemacht. Er nahm kein Blatt vor den Mund: Wenn er den Mann noch einmal in ihrer Nähe erwische, werde er ihn erschießen.«
»Und das hat Dr. Santiago ihnen mitgeteilt?«
»Ja. Aber die beiden setzten sich einfach über ihn hinweg. Sie sagten, sie hätten keine Angst, weder vor ihm noch vor dem Oberst. Er konnte es nicht fassen. Die Lage spitzte sich zu. Und da der Doktor nicht die Absicht hatte, seine Leute von einem wild gewordenen Vietnamesen abknallen zu lassen, nur weil sie mit seiner Tochter geschäkert hatten, blieb ihm nichts anders übrig, als sie nach Hause zu schicken.«
»Und er ist hundertprozentig sicher, dass sie diesem Befehl gefolgt sind?«
»Hundertprozentig.«
»Und es gibt nicht zufällig ein anderes kubanisches Projekt, das dunkelhäutige Kubaner als vermisst gemeldet hat?«
»Er sagt, es war das einzige kubanische Projekt in dieser Gegend.«
»Könnten Sie Dr. Santiago vielleicht bitten, mir Isandro zu beschreiben?«
Wieder steckten Dtui und der kubanische Arzt die Köpfe zusammen.
»Wenn ich richtig verstanden habe«, sagte Dtui, »war er ein Mann wie ein Baum – groß und breitschultrig wie ein amerikanischer Basketballspieler – und bärenstark.«
Siri zuckte die Achseln. Diese Beschreibung passte ganz und gar nicht zu seiner Betonleiche. Dtui erkundigte sich nach Odon.
»Das kommt schon eher hin«, sagte sie. »Odon war kleiner als Isandro. Dr. Santiago sagt, er war hässlich wie ein Ziegenbock, aber seinem Dauerlächeln konnte niemand widerstehen. Er sagt, es sei eher ungewöhnlich, dass die Eingeborenen – womit dann wohl auch Sie und ich gemeint sein dürften – mit dunkelhäutigen Ausländern verkehren, aber Odon und Isandro gaben sich alle Mühe, und die Leute gingen darauf ein. Dann sagte er noch etwas, das ich nicht ganz verstanden habe – ›die Einheimischen zum Narren halten‹ oder so, aber festlegen will ich mich da nicht.«
Siri hielt Odon für einen aussichtsreicheren Kandidaten als dessen groß gewachsenen Freund, aber da die beiden Laos angeblich längst verlassen hatten, schien er entweder anderswo suchen oder aber beweisen zu müssen, dass einer der Pfleger hiergeblieben war. Aus welchem Grund auch immer. Obwohl in einer Ecke des Büros ein gigantischer Kühlschrank stand, enthielt er auf den zweiten Blick nichts weiter als unzählige Kulturproben. Eine faszinierende Sammlung, darin waren sich alle einig, aber kaum geeignet, ihren Heißhunger zu stillen. Und so ließ Dr. Santiago seinen Papierkram bereitwillig Papierkram sein und lud seine Gäste in das neue Lao Houng Hotel zum Mittagessen ein. Ihr unerwarteter Besuch schien ihm buchstäblich neues Leben eingehaucht zu haben. Auf dem Weg zum Ausgang kam ihnen eine Pflegerin entgegen, die zu jung schien, um bereits ihr Schwesterndiplom in der Tasche zu haben. Siri sah, wie der alte Mann ihre Hand nahm und ihr einen reichlich unprofessionellen Schmatz auf die Wange gab. Obwohl das Mädchen errötete, wich es nicht zurück, wie junge Laotinnen es gemeinhin taten, wenn sie einen ungebetenen Kuss bekamen. Wie es schien, brannte in Santiagos Brust noch immer das alte lateinamerikanische Feuer.
Sie saßen unter riesigen Plakaten mit den Konterfeis ihnen unbekannter chinesischer Filmstars, verzehrten fades vietnamesisches Essen und machten sich über das neue Oz von Vieng Xai lustig. Zum Nachtisch tranken sie warmes, leicht aromatisiertes Bier, und Santiago wandte sich Dtui zu. Er erkundigte sich, ob sie eine diplomierte Krankenschwester sei. Als sie bejahte, fragte er ihren »Papa Siri«, ob er wohl ein oder zwei Tage auf sie verzichten könne. Anscheinend hatte man das Lazarett bei Kilometer 8 aus dem Bergesinnern in ein paar alte Häuser aus der französischen Kolonialzeit vor dem Höhleneingang verlegt. Es war zwar immer noch ein Krankenhaus, doch die dortigen Pflegekräfte hatten lediglich eine sechsmonatige medizinische Grundausbildung absolviert. Dr. Santiago erwartete noch vor Ende der Woche zwei kubanische Ärzte, aber bis dahin brauchte er jemanden, der die nötigen Entscheidungen fällen konnte. Zwar verbrachte der Doktor jede freie Minute dort, doch die Klinik bedurfte dringend einer ordnenden Hand.
Siri gab den Vorschlag an Dtui weiter. »Was meinen Sie?«
»Also, ich weiß nicht, ich bin doch nur eine kleine Krankenschwester.«
»Dtui, Sie sind weit mehr als eine kleine Krankenschwester. Detektiv spielen kann ich vermutlich auch allein – die Entscheidung liegt bei Ihnen. Für mich haben die Lebenden stets Vorrang vor den Toten. Aber wehe, Sie verraten das den Geistern.«
Sie fragte Santiago, ob sie sich darauf verlassen könne, dass die kubanischen Ärzte spätestens zum Wochenende da seien. Er gab ihr sein Ehrenwort. Sie erklärte sich bereit, ihm zu helfen, und übersetzte Siri ihren Entschluss.
»Sehr schön«, befand er. »Wenn ich Zeit habe, schaue ich vorbei und gehe Ihnen ein wenig zur Hand. Aber wie ich Sie kenne, haben Sie den Laden in null Komma nichts auf Vordermann gebracht. Und Dtui …?«
»Ja?«
»Ihnen ist hoffentlich klar, dass Sie es mit lebendigen Menschen zu tun haben. Nicht, dass Sie auf die Idee kommen, sie über Nacht in die Kühlkammer zu sperren.«
»Dr. Siri!«
»Pardon.«
Herr Geung war zum Laufen nicht gemacht. Er hatte Knickfüße und kurze Beine. Trotzdem war er fest entschlossen, zu Fuß nach Vientiane zurückzukehren. Zwar wusste er, dass es ein weiter Weg war, doch dass die Entfernung dreihundert Straßenkilometer betrug, wusste er nicht. Er hatte weder genügend Geld für eine Busfahrkarte in der Tasche noch auch nur die geringste Ahnung, wie sonst er sein Versprechen halten und ins Leichenschauhaus gelangen sollte. Und so schlenderte er, als die Soldaten eine Pinkelpause einlegten, unauffällig zum Ende des Konvois und starrte die Straße entlang, die sich durch die Berge schlängelte. Er holte tief Luft, genau wie der Doktor es ihm beigebracht hatte, und machte sich dann auf den Heimweg. Niemand bemerkte sein Verschwinden.
Schon nach fünf Minuten befand er sich allein auf der verlassenen Straße. Herr Geung war alles andere als ein Einzelkämpfer. Er brauchte die Gesellschaft und den Zuspruch anderer. Wenn man ihm sagte, was er zu tun hatte, war er unschlagbar, doch es fehlte ihm an Tatkraft und Unternehmungsgeist. Die Armeetransporter waren kaum verschwunden, als ihm dämmerte, dass er sich unmöglich allein auf diese weite Reise begeben konnte. Er brauchte einen Freund. Einen klugen Freund und Begleiter. Und als er den Kopf wandte, stand mit einem Mal, wie durch ein Wunder, Dtui hinter ihm. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Sie war die vernünftigste Frau, die er kannte, und würde ihn bestimmt sicher heim geleiten.
»T… tut mir leid, kleine Schw… Schwester«, sagte er grinsend.
Lachend nahm sie seine Hand, und gemeinsam marschierten sie die mit Schlaglöchern übersäte Straße entlang. Nach einer Weile gab sie zu bedenken, dass die Sonne direkt über ihnen stand und sie keine Kopfbedeckung hatten. Und so beschlossen sie, im Schatten der seltsamen Bäume am Straßenrand weiterzugehen. Ihre Gegenwart gab ihm Selbstvertrauen. Er erzählte ihr sämtliche Witze, die sie im Laufe des vergangenen Jahres gemacht hatte. Sie lobte ihn für sein ausgezeichnetes Gedächtnis. Er wusste nicht, was er ohne Dtui und ihren gesunden Menschenverstand angefangen hätte.
Das Bild von Herrn Geung stand Dtui so deutlich vor Augen, als sei er bei ihr im Zimmer. Sie öffnete die Lider und blickte um sich. Da es in der kleinen Kammer keinen Schrank gab, hingen ihre Kleider wie erschlaffte Sargträger von den vier Pfosten ihres Bettes. Wenn sie die Augen zusammenkniff, sah das löchrige Moskitonetz aus wie ein märchenhafter Sternenhimmel, was die mystische Aura von Gästehaus Nr. 1 noch verstärkte. In der Ferne spielte der klui-Pfeifer immer wieder dieselbe traurige Melodie, und schon jetzt, am späten Nachmittag, wallte weißer Nebel gegen die Fensterscheibe. Ihr wurde klar, dass sie eingedöst war und von ihrem Freund geträumt hatte, trotzdem befiel sie bei dem Gedanken an Herrn Geung ein mulmiges Gefühl.
Sie wusste, dass das Gebäude bis auf die geheimnisvollen Gäste am anderen Ende des Hauses und das Personal, das im leeren Speisesaal herumhockte, verlassen war. Siri saß wahrscheinlich unten auf der Veranda und schilderte dem engstirnigen Sicherheitschef ihren Besuch bei Dr. Santiago. Der Mann war ein einziger Reinfall gewesen. Bis zu seiner wundersamen Verwandlung in einen durchgedrehten Kommunistennazi hatte Dtui ihn sogar als potenziellen Ehekandidaten in Betracht gezogen. Sein kühles Lächeln und sein schlanker, durchtrainierter Körper kamen ihren bescheidenen Ansprüchen recht nahe. Bedauerlicherweise hegte sie die feste Überzeugung, dass ihr Auserwählter einen eigenen Kopf besitzen müsse, und damit konnte Lit leider nicht dienen. Nachdem sie ihn von ihrer Liste gestrichen hatte, hielt sie es für das Beste, die abendliche Lagebesprechung ausfallen zu lassen.
Doch da ihr Zimmer allerlei bizarre Gedanken und Gefühle in ihr wachrief, beschloss sie, das Weite zu suchen. Was sie vorhatte, würde etwa eine Stunde dauern. Zunächst wollte sie versuchen, mit Hilfe des einzigen Telefons im Haus nach Vientiane durchzukommen. Vor knapp vier Wochen waren zwei Männer in alten Armeeuniformen, auf die jemand mit Wäschetinte das Wort TELEFONGESELLSCHAFT geschrieben hatte, bei Siri aufgetaucht, um ein Telefon in seinem Bungalow zu installieren, noch so eine Belohnung für Siris selbstlosen Einsatz und seine Verdienste um die Partei und um die Sache. Wäre Dtuis kranke Mutter nicht gewesen, die der ständigen Betreuung bedurfte, hätte Siri den beiden Männern vermutlich erklärt, sie könnten sich ihr Telefon sonstwohin stecken. »Schon mal was von Privatsphäre gehört?«, hätte er gesagt.
Bevor die Männer wieder gegangen waren, hatten sie die vierstellige Nummer aufgeschrieben – die, wie es der Zufall wollte, mit drei Neunen endete -, und ihnen versichert, der Anschluss werde schon am nächsten Tag erfolgen. Tatsächlich jedoch hatte es zwei Wochen gedauert, bis sie das unverkennbare laotische Freizeichen zum ersten Mal vernahmen – ein Spatz, der verzweifelt sich bemühte, aus einer knisternden Papiertüte zu entkommen. Jetzt konnte Dtui alle paar Tage nach ihrer Mutter hören. Was sie ungemein beruhigte. Natürlich musste sie sich die Seele aus dem Leib schreien, damit ihre Mutter sie überhaupt verstand. Siri war von ihrer Lungenkapazität derart beeindruckt, dass er sich fragte, ob das Telefon nicht vielleicht doch verzichtbar sei.
Außerdem ließ die Obduktion ihr keine Ruhe. Sie nahm ihre klobige sowjetische Taschenlampe mit nach unten, und nachdem sie volle zehn Minuten in den Hörer gebrüllt hatte, stahl sie sich zur Hintertür hinaus und schlich zum Haus des Präsidenten. Es hatte keinen Grund gegeben, die Tür des Konferenzzimmers zu verschließen. Die Einzelteile der Leiche lagen noch immer auf dem Plastiktischtuch. Die Geschichte von den kubanischen Krankenpflegern ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Zwar handelte es sich bei der Leiche nie und nimmer um den liebestollen Basketballer, aber was war mit seinem bocksgesichtigen kleinen Freund? Vielleicht war er ja gar nicht abgereist, sondern aus irgendeinem Grunde hiergeblieben und in Schwierigkeiten geraten?
Sie ließ den Strahl der Taschenlampe über den Torso wandern, und da Siri bei Obduktionen ausgiebige Gespräche mit seinen Leichen zu führen pflegte, begann sie ihre Untersuchung mit den Worten: »Entschuldigen Sie, Herr Odon, aber ich frage mich, ob Sie uns nicht vielleicht doch ein wenig mehr mitzuteilen haben, als wir dachten.« Bei der äußeren Leichenschau war ihr etwas aufgefallen, drei Male – nahezu parallele Linien – unterhalb der linken Achselhöhle, die sie als interessant, aber nicht weiter bemerkenswert befunden hatte. Bei der Kontraktion der Haut waren viele solcher Rillen entstanden, doch diese drei erschienen ihr erstaunlich regelmäßig. Ihre seltsame Beschaffenheit hatte ihre Neugier geweckt, und die wollte sie nun stillen.
Sie richtete den Lichtstrahl auf die rechte Brusthälfte. Dort war der Zerfall etwas weiter fortgeschritten, deshalb waren sie nicht gleich zu sehen, aber nachdem sie die ledrige Haut mit den Fingern beiseitegeschoben hatte, gab es für sie keinen Zweifel mehr. Drei Furchen an derselben Stelle wie auf der linken Seite – symmetrisch. Für diese Male gab es keine biologische Erklärung. Der Leichnam musste im Zuge eines Rituals oder dergleichen verstümmelt worden sein. Er hatte ihnen ohne Frage noch das eine oder andere mitzuteilen.
Siri stand kurz davor, den Leiter des Gästehauses aus dem Bett zu holen, um sich über den verfluchten Krach zu beschweren. Es war nun schon die dritte Nacht, in der um Punkt zwölf diese ausländische Teufelsmusik losplärrte. Wusste die Jugend von Vieng Xai mit ihrer Zeit eigentlich nichts Besseres anzufangen? Und warum duldeten die leitenden Kader der Region diese bourgeoise westliche Dekadenz? War ganz Houaphan in dumpfer Resignation versunken?
Da an Schlaf nicht zu denken war, ließ er das Gespräch mit dem Genossen Lit noch einmal Revue passieren. Sie hatten eine Liste erstellt. Erstens wollten sie das Datum der Abreise von Isandro und Odon überprüfen. Zweitens den vietnamesischen Oberst ausfindig machen, der sich bei Santiago beschwert hatte. Und drittens Erkundigungen über andere Projekte in der Umgebung einholen, an denen dunkelhäutige Ausländer beteiligt waren. Siri hatte darauf bestanden, die Suche auf die Angehörigen vietnamesischer Bergvölker auszuweiten, obwohl er ziemlich sicher war, dass es sich bei dem Toten nicht um einen Asiaten handelte.
Auf halber Strecke zwischen Punkt sieben und acht übermannte ihn der Schlaf. In der Fortsetzung seines Traums saßen die Krähe und die Spätzin noch immer auf der Hochspannungsleitung und neckten sich. Doch nach und nach gesellten sich weitere Spatzen zu ihnen. Einer von ihnen hockte sich neben die Spätzin und wollte mit ihr flirten. Sie wies seine Annäherungsversuche zurück und flüchtete sich an die Seite ihrer geliebten Krähe. Dies versetzte die Spatzen in hellen Aufruhr. Sie kreischten flatternd und flügelschlagend um die Wette, und eine Attacke gegen den Feind schien unvermeidlich. Doch bevor sie zum Angriff übergehen konnten, nahm die Krähe die kleine Spätzin unter ihre schwarzen Fittiche, und die beiden plumpsten von der Leitung. Nein, sie flogen nicht davon. Sie fielen wie Steine ins Tal hinab und landeten im weichen Schlamm der Felder.
Siri wurde nicht etwa von dem trüben Morgenlicht, das durch die Vorhänge ins Zimmer fiel, sondern vom Wimmern eines Kindes aus dem Schlaf gerissen. Er dachte an das Mädchen, das er in einem früheren Traum gesehen hatte, doch das Bett gegenüber war leer. Dieses Wimmern klang echt und schien ganz nah, so nah, dass er sogar das Moskitonetz anhob und unter das Bett spähte. Er ging zur Tür und sah auf den leeren Flur hinaus. Aber das Geräusch kam zweifellos aus seinem Zimmer. Er berührte den Talisman um seinen Hals. Das Amulett spürte, wenn die bösen Geister Siri einen Streich spielen wollten. Doch der weiße Stein blieb regungslos und kühl. Hier war keine schwarze Magie im Spiel. Was er da hörte, war der aufrichtige Hilfeschrei einer gequälten Seele. Aber da er nicht wusste, woher er kam, konnte er auch nichts dagegen unternehmen, und so blieb ihm wenig anderes übrig, als sich wieder auf seine Matratze zu legen und dem schwachen Wehklagen zu lauschen. Es wurde immer schriller und hohler, bis es schließlich mit den Klängen der Bambus-klui verschmolz, die einsam ihre Morgenweise spielte.