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Wie schon an den vorangegangenen beiden Tagen schrak Herr Geung in panischem Entsetzen aus dem Schlaf. Doch während er sich die ersten beiden Male im Kreise der Soldaten wiedergefunden hatte, lag er nun in eine Zeltplane gewickelt, wie Schweinefleisch in einer chinesischen Frühlingsrolle. Er trat und schlug verzweifelt um sich, konnte sich aber nicht daraus befreien. Sein Verstand versagte ihm den Dienst. Er konnte sich beim besten Willen nicht entsinnen, wo er war und wie es ihn dorthin verschlagen hatte. Und obwohl es die Sache auch nicht besser machte, fing er an zu weinen.
»Würden Sie mir freundlicherweise verraten, was Sie in meiner Abdeckplane treiben?« Die Stimme gehörte einer alten Frau, so viel stand fest. Die er durch die Öffnung am oberen Ende seiner Frühlingsrolle allerdings nicht sehen konnte.
»Ich … ich weiß nicht«, sagte er unter Tränen. Er spürte, wie jemand an seinem Kokon zerrte, dann plötzlich rollte er über den Boden, bevor er schließlich aus der Plane auf die trockene Erde geschleudert wurde. Eine ältere Frau und zwei kichernde Kinder sahen auf ihn herab.
»Er ist ein Dummkopf, Großmutter.«
»Allerdings«, bestätigte die Alte. »Was willst du hier, Dummkopf?«
»Ich w… weiß nicht«, antwortete Geung wahrheitsgemäß.
»Dann rufe ich jetzt die Polizei und lasse dich festnehmen«, sagte sie.
»Ist g… g… gut.«
»Oder soll ich lieber meine Flinte holen und dich vom Hof jagen?«
Geung sann über ihre Worte nach. »A… a… a… auch keine schlechte Idee.«
Die Alte lachte. Ihr betelnussbefleckter Mund erinnerte ihn stark an diverse übel zugerichtete Fälle aus dem Leichenschauhaus. »Eh. Du bist wirklich verrückt, Junge. Wie soll ich dir drohen, wenn du mit allem einverstanden bist? Woher kommst du?«
»Thangon.«
»Nie gehört.«
»Tut mir leid. Aber ich m… m… muss nach Vientiane.« Er rappelte sich hoch, lächelte den Kindern zu und marschierte wunden Fußes los.
»Warte. Bleib stehen«, sagte die Alte. »Du willst doch nicht etwa zu Fuß nach Vientiane?«
»Ich ha… ha… hab’s versprochen.«
»Was du nicht sagst. Hast du Hunger, Junge?«
»Ja.«
»Tja, da brauchst du ordentlich was zwischen die Rippen, sonst kommst du dein Lebtag nicht bis nach Vientiane. Und was...«
»Ja. Jetzt weiß ich’s wieder.«
»Was?«
»Die Mü… Mü… Mücken. Ich hab mich eingerollt, damit mich die Mü… Mü… Mücken nicht stechen können. D… D… Denguefieber. Genossin Dtui hat gesagt, man muss sich schützen gegen die Mü… Mü… Mü… Mü…«
»MÜCKEN!«, riefen die beiden Mädchen im Chor.
»Ja.« Er lächelte ihnen zu, und sie kicherten zurück.
»Na schön«, meinte die Alte. »Jetzt isst du erst mal was und erzählst uns in aller Ruhe deine Geschichte, bevor du dich auf deinen langen Marsch machst. Vielleicht finde ich ja auch noch ein Töpfchen von meiner selbst gemachten Paste, die hält dir die Mücken todsicher vom Leib. Sie reicht für eine Woche, solange du dich zwischendurch nicht wäschst.«
»Danke, Madame«, sagte er, legte die Handflächen aneinander und deutete einen höflichen nop an.
»Also, ich weiß ja nicht, woher du kommst und was du im Schilde führst, aber Manieren haben sie dir beigebracht.« Sie betraten ihre aus massivem Holz gebaute Hütte. Hier wohnte der Verwalter der Kiefernschonung, durch die Geung am ersten Tag seiner Flucht gewandert war. »Setz dich erst mal und zieh deine Plastikschuhe aus. Wenn du damit bis nach Vientiane läufst, bist du nämlich nicht nur ein Dummkopf, sondern auch ein Krüppel.«
»Danke, M… M…«
»MADAME!«, schrien die Kinder, als sei der Zirkus in der Stadt.
»Mutter«, sagte Geung und grinste die Mädchen mit schiefen Zähnen an.
Dtuis erster Arbeitstag im Krankenhaus bei Kilometer 8 verlief chaotisch. Sie konnte nichts dafür. Chaos war dort der Normalzustand. Schon nach einer Stunde hatte sie alle Hoffnung fahren lassen. Von den sechs Pflegern und Schwestern hatten zwei keinerlei medizinische Kenntnisse. Der erfahrenste Pfleger hatte ein halbes Jahr in einem Feldlazarett in Vietnam gearbeitet. Mit ihrer zweijährigen Schwesternausbildung avancierte Dtui im Nu zu ihrer Generalstabsärztin. Sie überließen ihr sämtliche Entscheidungen und fügten sich gehorsam ihrem Urteil. Dtuis Vertrauen in ihre Entscheidungsfähigkeit war nicht allzu groß. Sie hatte sich noch nie in einer so aussichtslosen Lage befunden.
Die meisten der rund fünfzig Patienten waren bombi-Opfer. Die bombi war mit das grausamste aller heimtückischen Kriegswerkzeuge. Flieger warfen mit baseballgroßen bombis gefüllte Behälter ab. In der Luft öffneten sich die Behälter, und die bombis regneten auf das Angriffsziel herab. Beim Aufprall explodierten sie, und zweihundertfünfzig glühend heiße Kugellager flogen nach allen Seiten und zerfetzten Menschen und Gebäude gleichermaßen. Manche bombis waren mit einem Verzögerungszünder ausgestattet und töteten die Überlebenden, die ihre Lieben retten wollten. Wieder andere lauerten Tage, Wochen, Monate oder gar Jahre im Verborgenen, bis sie den Unschuldigen und Unwissenden eine tödliche Überraschung bereiteten. Die bombi kümmerte es nicht, wer ihnen zum Opfer fiel. Ob es einen Büffel oder ein Schwein, ein Kind oder eine junge Mutter beim Reispflanzen erwischte, spielte keine Rolle. Die bombi rissen sie alle in den Tod.
Jeden Tag wurden neue Opfer eingeliefert, denen man die verstümmelten Glieder abgebunden hatte, um den Blutfluss zu hemmen. Sie kamen auf Ochsenkarren, auf Ponys, auf Tragen, die ihre Verwandten kilometerweit gezogen hatten. Das Krankenhauspersonal verabreichte ihnen Unmengen von Opium, um alle, gute wie schlechte, Empfindungen zu unterdrücken. Und es versorgte die Wunden, so gut es ging. Den meisten Patienten konnte nicht geholfen werden. Sie hatten zu viel Blut verloren oder waren zu schwer verletzt, um sie am Leben zu erhalten. Viele andere bewahrte allein ihr eiserner Überlebenswille vor dem sicheren Tod. Alle paar Tage kam Dr. Santiago vorbei, amputierte, was nicht mehr zu retten war, und vollbrachte wahre Wunder, um den Menschen eine zweite Lebenschance zu schenken.
Im Kilometer 8 gab es keine Schichten. Es wurde Tag und Nacht gearbeitet, und die Schwestern und Pfleger schliefen nur, wenn ausnahmsweise einmal Ruhe einkehrte. Sie kochten für diejenigen Patienten, deren Verwandte nicht auf der Station campierten. Sie pumpten sie mit einem Schmerzmittel voll, von dem sie wussten, dass es süchtig machte, und schleppten die Verstorbenen die Böschung hinauf zur Totenhöhle, einem Krematorium am Fuß des Berges. Am Ende ihres schier endlosen ersten Tages hatte Dtui nach eigener Schätzung gut vier Kilo abgenommen. Singsai, der dienstälteste Sanitäter, meinte, in spätestens vier Wochen werde sie so dünn sein, dass man sie problemlos bei den Mopps in der Besenkammer unterbringen könne. Diese Vorstellung gefiel ihr.
Es war ein verhältnismäßig guter Tag gewesen. Nur eine Frau hatte die Reise in die Totenhöhle angetreten. Dtui war es gelungen, einem zehnjährigen Kind – vorerst – das Leben zu retten, und um zwei Uhr morgens sanken die Insassen von Kilometer 8 vom Opium berauscht in hoffentlich erholsamen Schlaf. Dtui und Singsai saßen vor dem Hauptkrankensaal, der das Gebäude der Länge nach durchzog. Da sie zum Schlafen zu erschöpft waren, sahen sie zu den Sternen hinauf, die sich so selten am Nordosthimmel zeigten, dass der Sanitäter ihr jetziges Erscheinen als Omen sah.
»An Tagen wie heute wird einem bewusst, wie dumm man eigentlich ist«, sagte Dtui.
»Sie sind ganz und gar nicht dumm, Schwester«, versicherte Singsai. Er war ein kleiner Mann mit einer Haut von derart dunklem Braun, dass seine Stimme aus einem strahlend weißen Gebiss zu kommen schien, das schwerelos in der Dunkelheit schwebte. Er erinnerte Dtui an die Mumie im Haus des Präsidenten.
»Na schön, vielleicht nicht dumm, aber doch … unbedarft.«
»Sie haben heute viel Gutes getan.«
»Dafür hatte ich in vielen anderen Fällen keinen Schimmer, was ich tun sollte. Es ist frustrierend. Jetzt erst wird mir klar, was Leute wie mein Chef und Dr. Santiago leisten. Tagaus, tagein, Jahr um Jahr retten sie Menschenleben, als wäre es das Natürlichste von der Welt.«
»Eines Tages bin ich hoffentlich auch Chirurg«, sagte Singsai und richtete den Blick gen Himmel, als könne der ihm diesen Wunsch erfüllen. Er war Mitte fünfzig und hatte keinerlei Beziehungen, darum standen seine Chancen nicht besonders gut.
Dtui wechselte eilig das Thema. »Behandeln Sie hier eigentlich nur Notfälle?«
»Nein, wir haben auch ein oder zwei Malariapatienten«, sagte er. »Und einen kleinen Jungen mit chronischem Durchfall. Die bei Weitem gefährlichste Kinderkrankheit in ganz Südostasien. Die meisten sterben daran, aber der Kleine hält sich wacker. Er hat großes Glück gehabt. Ach, und dann ist da noch Frau Duaning.«
»Und was fehlt ihr?«
»Das wüssten wir auch gern. Sie liegt seit zwei Wochen im Koma. Wir haben sie auf der Straße gefunden.«
»Und sie wird von niemandem vermisst?«
»Nein.«
»Woher wissen Sie dann, wie sie heißt?«
»Wissen wir ja gar nicht, aber sie ist ohne Zweifel eine Hmong. Also hat einer unserer Hmong-Pfleger sie ›Duaning‹ getauft. Was so viel wie ›wunderlich‹ bedeutet.«
Sie statteten Frau Wunderlich einen Besuch ab. Sie lag in einem kleineren, separaten Raum, wo die nicht lebensbedrohlichen Fälle untergebracht waren. Sie lag auf dem Rücken, starrte mit weit aufgerissenen Augen an die Decke und murmelte irgendetwas vor sich hin.
»Was redet sie denn da?«, fragte Dtui.
»Sie spricht erst seit vorgestern. Sie sagt immer wieder dasselbe.«
Dtui beugte sich über sie und horchte. Die Stimme der alten Frau klang nicht halb so rau, wie man es bei einem siechen alten Weib hätte vermuten können. Ihr Atem roch modrig. »Panoy muss essen«, sagte sie. »Panoy muss essen.«
»Könnte es nicht sein, dass sie Panoy heißt?«
»Die Alte? Nein. Das wäre ein sehr untypischer Name für eine Hmong.« Als er ihr die dünne Decke unters Kinn zog, kamen ihre Füße darunter zum Vorschein. »Heiliger …«
Die Fußsohlen der Frau waren mit einer verkrusteten kastanienbraunen Masse überzogen. »Ist sie draußen herumgelaufen?«
»Nein. Soviel ich weiß, hat sie sich nicht vom Fleck gerührt. Und das sieht mir auch nicht nach Erde aus.«
Dtui kratzte mit dem Fingernagel an einer Sohle. Sie wusste sofort, womit sie es zu tun hatte. »Das ist geronnenes Blut.«
»Und woher …? Hat sie irgendwelche Verletzungen?«
Dtui nahm ein feuchtes Tuch aus der Waschschüssel neben dem Bett und rieb vorsichtig an einem Fuß. »Nein.«
»Aber wie …?«
»Das sieht ganz nach einem Muster aus, Singsai. Schauen Sie sich den anderen Fuß an. Als hätte ihr jemand Symbole auf die Sohlen gemalt.«
»Mit Blut? Und wozu?«
»Vielleicht kann Ihr Hmong-Pfleger uns weiterhelfen.«
»Wir werden sehen. Ich möchte ihn jetzt nicht wecken, aber morgen früh werde ich ihm mal ein wenig auf den Zahn fühlen. Ich bin gespannt, ob er eine Erklärung dafür hat.«
»Ich auch«, sagte Dtui. »Ich auch.«
Wegen zwei weiterer Notfälle kam Dtui erst gegen sieben Uhr morgens ins Bett. Die leichte Brise, die durch die dünnen Baumwollvorhänge ins Zimmer wehte, weckte sie um zehn. Auf ihrem Weg in den Hauptkrankensaal schaute sie rasch bei Frau Wunderlich vorbei. Die lag zwar noch immer auf dem Rücken, sang jetzt jedoch ein anderes Lied.
»Panoy ist schwach. Panoy ist schwach«, sagte sie.
»Wer ist Panoy?«, fragte Dtui.
»Panoy ist schwach.«
Dtui strich der Frau das weiße Haar aus dem Gesicht und legte die Hand auf ihre kalte Stirn. Ihre Haut wirkte stumpf, wie mit einer feinen Staubschicht überzogen. Ihr Puls war schwach. Dtui fragte sich, ob die Alte den heutigen Tag wohl überleben würde. Bevor sie aus dem Zimmer ging, hob sie die Decke, um sich die Füße der Frau noch einmal anzusehen. Die linke Sohle, die sie in den frühen Morgenstunden gesäubert hatte, war von Neuem mit getrocknetem Blut bedeckt.
Dr. Siri saß im Speisesaal des Gästehauses und blätterte in einer vier Wochen alten Ausgabe der Pasason Lao. Dabei stieß er auf ein Foto, auf dem sein alter Freund Civilai einem mongolischen Diplomaten die Hand schüttelte. Beide lächelten breit, aber wenig überzeugend. Er wusste genau, was der Genosse Civilai, sein einziger Verbündeter im Politbüro, gerade dachte. Es erinnerte ihn an alte Zeiten und zwei junge Männer voller Ideale.
Siri und seine Frau Boua hatten seit Jahren der Lao Issara, dem Freien Laotischen Widerstand, angehört. Boua wollte die französischen Besatzer systematisch bekämpfen, statt ihnen nur hin und wieder ein paar Nadelstiche zu versetzen. Sie war eine überzeugte Kommunistin, und Siri folgte ihr an die Ngyuen-Ai-Quoc-Universität in Hanoi, wo er Vietnamesisch lernte und Kurse in kommunistischer Ideologie belegte. Er wurde mit roter Farbe getauft und so lange in den Bottich getunkt, bis er Marx atmete und Lenin schiss. Derart gerüstet, war er durch die vietnamesische Provinz getingelt und hatte die Bauern davon überzeugt, dass nur der Kommunismus sie vom Joch der französischen Fremdherrschaft befreien könne. Er arbeitete in Lazaretten im Norden des Landes und fand selbst nach einer blutigen Achtzehn-Stunden-Schicht noch Zeit, die Dorfbewohner in ideologische Grundsatzdiskussionen zu verwickeln.
Diesen Abschnitt seines Lebens nannte er inzwischen nur noch »die Jahre, in denen ich meinen Verstand verborgte«. Erst als er einen anderen begeisterten Kader kennenlernte, einen treuen Genossen der Laotischen Volkspartei und alten Kommunisten namens Civilai, war Siri in der Lage, die Dinge mit anderen Augen zu betrachten. Zwar hatte man ihm eingebläut, jeden Genossen, der vom Pfad der Tugend abgewichen war, unverzüglich der Parteiführung zu melden, doch Civilai schien so erfahren und intelligent, dass Siri gar nicht anders konnte, als sich seine Worte zu Herzen zu nehmen und sein eigenes wirres Weltbild zu überdenken. Civilai war ein glühender Anhänger des Kommunismus. An seiner Loyalität gegenüber der Partei bestand kein Zweifel. Aber er glaubte an eine Form des Kommunismus, die ohne Terror und Unterdrückung auskam. Wegen seiner Ansichten galt er als abgehobener Spinner. Doch da er einen hohen Rang bekleidete und bei den »Massen« zudem recht beliebt war, durfte er seinen Posten im Zentralkomitee behalten, auch wenn seine Bemühungen in aller Regel wirkungslos verpufften.
Siri hatte sich sofort für Civilais goldenen Mittelweg begeistern können, und so wurde auch er von den Parteibonzen geächtet. Während Boua sich unermüdlich der ideologischen Erziehung des Proletariats widmete, hängte Siri seine rote Fahne an den Nagel und konzentrierte sich auf seinen Beruf als Arzt. Bouas Liebe zu ihm schwand nach und nach dahin. Er hingegen liebte sie bis zu ihrem Tod heiß und innig, obwohl er wusste, dass sie ihn für einen Versager hielt. Allein seine Freundschaft zu Civilai bewahrte ihn davor, den Verstand zu verlieren, und während die Partei Civilai immer sinnlosere Pflichten aufbürdete, war es Siri, der seinem Freund Halt und Unterstützung bot.
Das Zeitungsfoto zeigte einen von unzähligen symbolischen Handschlägen mit einem von unzähligen ausländischen Würdenträgern. Ein weiterer Schnappschuss für das diplomatische Fotoalbum. Er werde allmählich zur Micky Maus des neuen Regimes, hatte Civilai geklagt. Er …
»Genosse?« Siri blickte auf und sah sich dem Wachposten gegenüber, der normalerweise vor der Sperrholzwand im ersten Stockwerk saß. Kreidebleich stand er in der Tür. »Sie sind doch Arzt, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Siri.
»Schnell, kommen Sie mit.« Ohne eine Antwort abzuwarten, machte er auf dem Absatz kehrt und stürzte, immer vier Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Siri wusste aus langjähriger Erfahrung, dass die zehn Sekunden, die sich mit solch übertriebener Hast gewinnen ließen, nur selten etwas bewirkten, es sei denn das vorzeitige Ableben sowohl des Arztes als auch des Patienten. Und so nahm er gemächlich eine Stufe nach der anderen. Die aufgebrachte Wache kam ihm auf halber Treppe entgegen.
»Beeilen Sie sich«, sagte der Mann. »Es geht um Leben und Tod.« Bei aller Dringlichkeit hatte er es sich nicht nehmen lassen, die Tür im ersten Stock wieder zu verriegeln, bevor er Siri holen gegangen war. Mit zitternden Händen versuchte er den Schlüssel in das Vorhängeschloss zu manövrieren. Siri war eben auf dem Treppenabsatz angekommen, als der Mann die erste Tür aufriss und über den Flur zu einer zweiten, ebenfalls verschlossenen Tür lief. Siri fragte sich, was für eine wilde Bestie solche Vorsichtsmaßnahmen erforderlich machte. Als er am ersten Zimmer vorbeikam, warf er einen Blick durch die offene Tür. Auf einem der beiden Betten lagen drei allem Anschein nach recht teure Lederkoffer. Auf dem Fußboden standen ein Tablett mit Jungpflanzen und kleine Tontöpfe mit Stecklingen.
»Hier drin«, rief die Wache. »Noch ist er am Leben.«
Auf dem einzigen Bett im Nebenzimmer lag ein Mann mittleren Alters mit pomadiertem Haar und einem schlichten, aber teuren Pyjama. Er wand sich vor Schmerzen und hatte Schaum vor dem Mund. Auf dem Boden neben dem Bett lag eine umgestürzte braune Glasflasche. Das Etikett trug eine russische Aufschrift, doch das allgemeinverständliche Totenkopfsymbol ließ an ihrem Inhalt keinen Zweifel. Siri hob die Lider des Mannes und schaute ihm in die Pupillen. Dann öffnete er ihm den Mund, um sich seine Zunge anzusehen, und schnupperte an seinem Atem.
»Nachdem die Polizisten weg waren, sind die Zimmer sauber gemacht worden. Das blöde Miststück muss den Reiniger auf dem Waschbecken stehen gelassen haben. Keine Ahnung, wie er an das Zeug gekommen ist. Er hat es sich wahrscheinlich auf dem Rückweg vom Klo geschnappt, als ich kurz nicht hingesehen habe. Blödes Arschloch. Wenn was passiert, werde ich erschossen.« Schimpfend lief der Wachposten im Zimmer auf und ab. »Krankenhaus! Wir müssen ihn ins Krankenhaus schaffen! Sie kriegen ihn doch wieder hin, Doc. Oder, Doc?«
»Hören Sie, Genosse«, sagte Siri und sah die hysterische Wache an. »Solange Sie hier herumtrampeln wie ein wild gewordener Kapitalist, kann ich gar nichts tun. Sie gehen jetzt hinunter in die Küche und sagen den Damen, sie sollen zwei Liter Wasser zum Kochen bringen und eine Handvoll Salz sowie dreißig Zentiliter Speiseöl hineingeben. Ich will Sie hier erst wiedersehen, wenn alles so weit ist.«
»Jawoll.« Die Wache verließ ihren Posten und eilte in die Küche. Der Vergiftete auf dem Bett wand sich immer noch vor Schmerzen.
»Schon gut«, sagte Siri. »Er ist weg. Sie können jetzt aufhören.«
Der Mann hielt einen Sekundenbruchteil inne, dann drang ein heiseres Knurren aus den Tiefen seiner Kehle. »Kran-ken-haus.«
»Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass das nicht in Frage kommt.«
»Ster-be.«
»Ich bitte Sie. Sie liegen ebenso wenig im Sterben wie ich. Ich sehe wahrscheinlich nicht halb so gesund aus wie Sie. Was wollten Sie mit dieser kleinen Maskerade eigentlich erreichen?«
Der Mann spuckte den restlichen Schaum aus und funkelte Siri wütend an. »Wer, zum Teufel, sind Sie?«
»Dr. Siri Paiboun.«
»Nicht zu glauben. Dass einem ausgerechnet hier ein Arzt über den Weg läuft.« Kopfschüttelnd setzte er sich auf.
»Kompliment. An Ihnen ist ein Schauspieler verloren gegangen. Ein Laie hätte wohl kaum Ihren Atem kontrolliert und den Zahnpastageruch folglich auch nicht bemerkt. Das Personal hätte Sie vermutlich auf einen Lastwagen verfrachtet und Sie in die Klinik nach Xam Neua gefahren. Trotzdem ist mir immer noch nicht ganz klar, was Sie sich davon versprochen haben.«
»Nein? Das kann ich Ihnen gern verraten. In einem Krankenhaus gibt es keine Wachleute. Ich hätte mich heimlich davonstehlen können.«
»Und wohin, wenn ich fragen darf?«
»Was weiß denn ich? Nach Süden? In einem gestohlenen Wagen?«
»Ihnen ist offensichtlich nicht bewusst, wo Sie hier sind. Es führt nur eine Straße nach Vientiane, vorbei an gut hundert Lagern der PL und der Vietnamesen. Sind Sie wirklich so lebensmüde?«
»Lieber sollen sie mich erschießen, als dass ich mich von Ihren Leuten langsam zu Tode foltern lasse.«
»Wie kommen Sie darauf, dass wir Sie zu Tode foltern wollen?«
»Ich bin doch nicht bescheuert. Ich weiß, wie es in euren Lagern zugeht. Zwangsarbeit unter primitivsten Bedingungen, keinerlei ärztliche Betreuung.«
»Ich habe dreißig Jahre unter solchen Bedingungen gelebt. Wenn ich das geschafft habe, schaffen Sie das schon lange.«
»Sie wissen anscheinend nicht, wer ich bin.«
»Ich weiß sogar sehr gut, wer Sie sind. Aber das ist keine Antwort auf meine Frage.«
Der Mann sah kopfschüttelnd aus dem Fenster. »Ich musste mich noch nie auf eigene Faust durchschlagen. Beim leisesten Schniefen wurde ich mit Medikamenten vollgepumpt. Ich habe keine natürliche Immunität, keine Kondition, kein Durchhaltevermögen.«
»Sie würden sich wundern, wie schnell sich Ihr Körper anpasst.«
»Nein. Das wäre mein sicherer Tod. Hundertprozentig. Hören Sie. Sobald er Ihren absurden Auftrag ausgeführt hat, kommt der Wachposten zurück. Was halten Sie davon, wenn Sie und ich eine kleine … Abmachung treffen?«
»Doch nicht etwa finanzieller Natur?«
»Ich verfüge über mehr Geld, als Sie sich überhaupt vorstellen können. Wenn Sie mich nach Thailand schaffen würden, könnte ich …«
»Und was sollte ich mit dem Geld anfangen?«
»Anfangen? Na, was wohl? Sich ein angenehmes Leben machen. Ihre Freiheit genießen.«
Siri lachte. »Mit Verlaub, aber in Ihrer mehr als misslichen Lage sind Sie nicht eben ein leuchtendes Beispiel für die Kombination von Reichtum und Freiheit. Trotzdem, den Versuch war es wert, mein Junge. Sie sind ganz anders als Ihr Vater.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Wir kennen uns. Wir haben eine ganze Nacht zusammen Reiswhisky getrunken und über Philosophie gesprochen. Ich bin in meinem Leben nicht allzu vielen königlichen Hoheiten begegnet, aber Ihr Vater hat mich tief beeindruckt. Im Gegensatz zu Ihnen schien er sich mit seinem Schicksal abgefunden zu haben.«
»Er ist ein Defätist.«
»Er ist ein Realist. Er war hier, nicht wahr? Und die Königin?«
»Sie wurden gestern Abend fortgebracht. Haben Sie das Zimmer gesehen, in dem sie hausen mussten? Entwürdigend. Wer weiß, was sie da draußen im Dschungel erwartet.«
»Sie haben Angst.«
»Seien Sie nicht albern.«
»Sie brauchen sich deswegen nicht zu schämen. Angst hilft uns zu überleben. Ich habe länger in Angst gelebt als in Ruhe und Frieden. Trotzdem stehe ich hier. Schlagen Sie sich diese albernen Fluchtgedanken aus dem Kopf, mein Junge. Damit helfen Sie weder sich selbst noch Ihrer Familie. Spielen Sie mit, und halten Sie sich an die Regeln. Suchen Sie sich einen hohen Baum, einen Baum, der sämtliche Staatsstreiche und Massaker der Geschichte überdauert hat. Heben Sie an seinem Fuß ein Loch aus, und begraben Sie Ihren Stolz darin. Übergeben Sie diesem majestätischem Baum Ihr ganzes königliches Erbe, und dann fügen Sie sich ihrem Willen, und werden Sie zu einem einfachen, bescheidenen Menschen. Erdulden Sie die Erniedrigungen, die sie Ihnen zufügen werden, und imponieren Sie ihnen mit Ihrer Willenskraft. Beeindrucken Sie sie mit Ihrer Demut und Ergebenheit. Denn genau das werden der König und die Königin tun.«
»Das … das kann ich nicht.«
»Natürlich können Sie das. Und es wird eine tiefere und anhaltendere Wirkung zeitigen als all die Bravourstücke und Heldentaten, all das königliche Getue, das Sie im Sinn haben. Beweisen Sie ihnen, dass Sie ein Mensch mit Charakter sind. Denn das wird sie in Verlegenheit bringen. Für einen Tyrannen gibt es wenig Unerfreulicheres als einen Mann, der sich nicht schrecken lässt.«
Siri hob die Flasche auf. Der Kronprinz starrte mutlos vor sich hin. »Warum haben sie uns getrennt?«
»Um Ihren Willen zu brechen. Sie haben doch nicht wirklich davon getrunken, oder?«
»Die Flasche war leer.«
Siri lachte. »Sehen Sie? Sie sind doch ein findiges Bürschchen. Sie würden hundert Umerziehungslager überleben.«
Der Wachposten stürzte ins Zimmer. Er hielt die mit Lappen umwickelten Griffe des dampfenden Kochtopfs fest umklammert. Das gesamte Küchenpersonal folgte ihm auf dem Fuße.
»Fertig«, sagte die Wache. »Was soll ich damit machen?«
»Kippen Sie es in die Toilette«, antwortete Siri. »Oder, noch besser, kochen Sie uns darin zum Abendessen leckeres Gemüse.«
»Was? Aber Sie haben doch …«
»Wie es scheint, habe ich ein medizinisches Wunder vollbracht und den Prinzen wieder zum Leben erweckt. Wir werden ihn wohl doch nicht in Öl sieden müssen. Er erfreut sich bester Gesundheit.«
»Danke. Danke, Doc. Vielen Dank«, murmelte der Wachposten wohl an die hundert Mal. Der Dank galt selbstredend der Rettung seiner eigenen Haut. Das Wohlergehen seines königlichen Schützlings interessierte ihn nicht die Bohne.
Bevor Siri aus dem Zimmer ging, sah er die Bambus-klui auf dem Schreibtisch. »Ah, da haben wir sie ja, die Waffe, die uns seit unserer Ankunft solche Qualen bereitet. Kennen Sie nur die eine Melodie?«, fragte er.
»Und nicht einmal die beherrsche ich richtig.«
»Wenn wir uns das nächste Mal begegnen, werden Sie die tausend Melodien des Dschungels spielen, und die Vögel des Waldes werden Sie darum beneiden. Denken Sie an meine Worte.« Er legte dem Prinzen die Hand auf die Schulter und sah ihn lächelnd an. »Grüßen Sie Ihren Vater von mir, wenn Sie ihn sehen. Er ist ein beeindruckender Mann – mit einem beeindruckenden Sohn.«