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Herr Geung hatte die bewaldeten Berghänge hinter sich gelassen und kam zum ersten Mal auf seiner Wanderung in ein Tal voller Reisfelder. Die Reisstoppeln knirschten unter seinen Füßen. Alles schien vertrocknet und tot. Die Politik hatte das Land buchstäblich ausgedörrt. Seit der Revolution mussten die Pathet Lao Monat für Monat die schmerzliche Erfahrung machen, dass es in der Praxis weitaus schwieriger war, ein Land zu regieren, als es in der Theorie ausgesehen hatte. Zehn Jahre lang hatten sie in den Höhlen von Houaphan davon geträumt, an die Macht zu gelangen. Doch da nur wenige Kader wirklich glaubten, dass dieser Traum eines Tages in Erfüllung gehen würde, hatten sie weder konkrete Pläne für die Zukunft entwickelt noch Ideen, wie sie die Massen für sich gewinnen könnten. Nichts war einem gelungenen Volksaufstand abträglicher als die Existenz echter Menschen und der Druck, deren überzogene Ansprüche zu befriedigen.
Das laotische Volk des Jahres 1977 wurde allmählich unruhig. Es hatte den neuen Machthabern ein Jahr Zeit gegeben, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, doch die Erfolge blieben aus. Manche Leute verstiegen sich sogar zu der Behauptung, die Kommunisten seien nicht besser als die Royalisten. Im Politbüro hatte der blinde Rausch des Sieges einer ungesunden Paranoia Platz gemacht, und die daraus resultierenden Maßnahmen stießen in der Bevölkerung auf zunehmenden Widerstand. Feste wurden entweder abgesagt oder aber strengen Auflagen unterworfen, um Massenaufläufe zu verhindern. Religion, Kultur und Aberglaube waren verpönt, wodurch sich die Zahl der feierlichen Anlässe beträchtlich reduzierte. Dr. Siri meinte, ebenso gut könne man den Leuten gestatten, eine Brille zu tragen, die Verwendung von Brillengläsern jedoch unter Strafe stellen.
Auch das Raketenfest im Mai war dieser Regelung zum Opfer gefallen, denn Horden aufgebrachter Dorfbewohner, die noch dazu mit Unmengen von Schwarzpulver hantierten, konnten die Behörden unter keinen Umständen dulden. Die Regierung verbot Versammlungen innerhalb geschlossener Ortschaften und verbannte sämtliche Feierlichkeiten auf abgelegene Felder, die sowohl von Uniformierten als auch von schlecht getarnten Soldaten in Zivil überwacht wurden. Weiblichen Geistermedien, eigentlich unabdingbar für das Fest, hatte man die Teilnahme streng untersagt. Alkohol und laute Musik waren tabu, und bei Einbruch der Dunkelheit mussten die Festlichkeiten beendet sein. Die Pulvermenge, mit denen die Bambusrohre gefüllt werden durften, war so gering, dass viele selbstgebaute Raketen kaum vom Start wegkamen. Sie schraubten sich torkelnd ein paar Meter in die Höhe, bevor sie verglühten und zur Erde stürzten. Jubelrufe waren kaum zu hören, dafür umso häufiger die panischen Schreie von Zuschauern, die Hals über Kopf das Weite suchten.
Nicht nur stieß das Debakel den enttäuschten Dorfbewohnern sauer auf, es hatte noch viel weitreichendere Folgen. Das Raketenfest war ein Fruchtbarkeitsritus. Der ohrenbetäubende Lärm und die ausgelassene Fröhlichkeit sollten die Götter der Wollust aus ihrem einjährigen Schlummer reißen. Die Geistermedien mahnten die derart unsanft geweckten höheren Wesen, dass es an der Zeit sei, den Regen zu schicken und die Felder zu begrünen. Die phallischen Raketen sollten sie zu einer himmlischen Orgie animieren, auf dass ihre Lendensäfte das Land befruchteten und reiche Ernte brachten.
Das war der feste Glaube der Dorfbewohner. In den kalten Sozialistenherzen der neuen Machthaber war für solch mythologischen Unfug naturgemäß kein Platz. Die marxistisch-leninistische Lehre hatte keine Zeit für Märchen. Buddhismus und Animismus waren Sünden wider das rationale Denken, und dem kommunistischen System ging Logik über alles. Sie würden schon sehen, diese Einfaltspinsel. Im Mai würde wie immer der Regen kommen und den Glauben des Volkes an die sozialistische Ordnung stärken.
Die müden Feierlichkeiten zum 1. Mai trafen auf denselben gebremsten Enthusiasmus wie das Raketenfest. Aus Mai wurde Juni, und die Fruchtbarkeitsgötter lagen immer noch in tiefem Schlummer. Kein Wölkchen trübte den Himmel, die Reisfelder verdorrten, und im Erdboden taten sich tiefe Risse auf. Als der Juli kam, hatten die Leute keinen Zweifel mehr, dass diese noch nie da gewesene Dürre auf das Konto der neuen Regierung ging. Der Sozialismus war schlecht fürs Wetter. So viel war selbst dem schlichtesten aller schlichten Gemüter klar. Sämtliche Versuche der Regierung, den Widerstand in der Bevölkerung zu brechen, hatten das genaue Gegenteil bewirkt.
Herr Geung wusste von all dem weiter nichts, als dass die Reisstoppeln unter seinen Füßen knirschten, doch in seinen neuen Stiefeln kam er gut voran. Sie hatten dem Mann der alten Dame gehört, der in seiner Urne damit vermutlich wenig anfangen konnte. Ihrem Sohn waren sie zu klein, Geung hingegen passten sie wie angegossen, und er trug sie voller Stolz. Sie hatte ihm ein großes Paket Trockenproviant mitgegeben und ihn mit einer stinkenden Salbe eingerieben, die ihm die bösartigen, mit dem Dengue-Bazillus infizierten Stechmücken vom Leibe halten sollte, die das Land unsicher machten.
»W… wir sollen der St… St… Straße folgen«, erklärte er Dtui, die neben ihm her ging. »A… aber so, dass uns k… keiner sieht.« Beim Frühstück hatte die alte Frau ihm seine Geschichte aus der Nase gezogen und ihn gewarnt, dass die Soldaten, denen er entwischt war, todsicher nach ihm suchen würden.
»Bleib in der Nähe der Straße, aber pass auf, dass dich niemand sieht«, hatte sie ihm eingeschärft. »Wenn von hinten ein Auto kommt, das nicht grün ist wie ein Militärfahrzeug, lass dich mitnehmen. Halte dich von allem fern, was grün ist. Kapiert?«
Die Worte hatten sich in sein Gedächtnis eingebrannt, doch ganz begriffen hatte er sie nicht. »Von hinten« fand er besonders verwirrend, denn was hinter ihm lag, hing schließlich davon ab, in welche Richtung er sich drehte. Und da er ständig durch das Laub der Bäume spähte, war entlang der Straße praktisch alles grün.
Geung war den ganzen Tag marschiert. Er musste schnellstmöglich ins Leichenschauhaus zurück, und das hielt ihn auf den Beinen. Er ächzte. Er keuchte. Sämtliche Knochen taten ihm weh. Seine Angst kam und ging, und der Boden schwankte unter ihm, als ritte er auf dem Rücken eines Drachen nach Vientiane. Doch als er einen lauten Knall hörte und sah, wie ein Blutfleck an seinem Hemd erschien, blieb er erstaunlich ruhig.
»Eine Sch… Sch… Schusswunde«, sagte er, als würde er einem Pathologen seinen Zustand schildern. Er rührte sich nicht von der Stelle und sah zu, wie der rote Fleck sich in ein Land verwandelte, eines der Länder in Dtuis Atlas, in dem angeblich Millionen von Menschen lebten. Was mussten das für klitzekleine Menschen sein. Fasziniert beobachtete Geung, wie der Fleck die ungefähren Umrisse der UdSSR annahm. Dann wurde er leichenblass und fiel zu Boden wie ein Zaunpfahl.
Chaos. Panik. Immer neue Notfälle und Katastrophen. Bald schon schälten sich drei Kategorien von Notfällen heraus: Alles-stehen-und-liegen-lassen-Notfälle, Tun-wasman-kann-Notfälle und Abwarten-und-Tee-trinken-Notfälle. Auch für Katastrophen gab es eine Bewertungsskala: unvermeidlich, wir-haben-alles-Menschenmögliche-getan, meine Schuld/Ihre Schuld. Darüber hinaus galt es, gottgleiche Entscheidungen zu treffen, etwa welcher Patient am ehesten den Tod verdiente. Am Nachmittag ihres zweiten Tages fragte sich Dtui allen Ernstes, ob ihr Herz verkümmert war. Sie spürte nichts mehr. Sie nahm die Menschen nicht mehr als Menschen wahr. Und den Tod nicht mehr als Tragödie. Ihre Patienten waren keine Hufschmiede oder Hausfrauen mehr, sondern nur noch Prozentsätze. »Mit ein wenig Geschick und ein wenig medikamentöser Unterstützung hat diese Patientin – nennen wir sie Nummer sieben – eine vierzigprozentige Überlebenschance.«
Wenn sie ordentliche Arbeit leisten wollte, durfte sie keinen Anteil nehmen, und diese Erkenntnis fand sie ebenso verblüffend wie betrüblich. Ihr wurde klar, dass Dr. Siri nach all den Jahren als Feldchirurg vermutlich schon lange in Prozentsätzen dachte. Es hatte ihn nicht gefühllos werden lassen, nur nachdenklich, philosophisch. Wenn er einen Patienten verlor, war das leichter zu ertragen, wenn die Chancen ohnehin schlecht standen. Daran wollte sich Dtui bei Kilometer 8 ein Beispiel nehmen.
Gegen Abend ließ der Andrang langsam nach. Zwei hatten sie den Hang hinaufschicken müssen. Drei hatten sie stabilisiert. Dtui war vom Adrenalin derart berauscht, dass sie wie auf einem fliegenden Teppich dahinschwebte. Obwohl sie todmüde war, hätte sie nicht einmal ein Hieb mit dem Vorschlaghammer in Schlaf versetzen können. Sie durchstreifte die Krankensäle mit stierem Blick, wie ein großer, unerschrockener Eisbär. Sie nötigte Patienten, am Leben zu bleiben, und befahl Medikamenten zu wirken. In einer Ecke des Saals suchte Meej, der Hmong-Pfleger, den stäbchendürren Arm eines Patienten vergeblich nach einer Vene ab. Meej war ein stämmmiger, gut aussehender Mann von Mitte zwanzig. Wie Dtui hatte er stets ein Lächeln auf den Lippen.
Dtui massierte den Arm des Patienten, bis sich ein schwacher bläulicher Schatten unter der Haut abzeichnete. Sie rammte die Nadel hinein. In Sekundenschnelle hing der Patient an seinem Tropf, und sie lotste den Pfleger nach draußen.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte sie.
»Wie erschlagen«, gestand er.
»Da geht’s Ihnen wie mir. Zählen Sie nur diejenigen, die Sie retten konnten. So mache ich das. Vergessen Sie die anderen. Sie wären so oder so gestorben.«
»Ist gut. Danke.«
»Ich hätte da eine Frage zu Frau Duaning.«
»Ist sie tot?«
»Sie ist schwach, aber noch am Leben. Ich habe mich über das Blut an ihren Füßen gewundert.«
»Ach, das. Das ist ein alter Aberglaube. Wenn jemand schwer krank ist, bestreichen die Verwandten seine Füße mit Blut.«
»Körperlich oder geistig?«
»Sowohl als auch. Es soll die bösen Geister fernhalten.«
»Aber das Blut erscheint von selbst.«
Meej lachte. »Nein.«
»Sie wissen anscheinend mehr als ich.«
»Das junge Mädchen ist seit vorgestern hier. Ich weiß nicht, ob sie eine Verwandte ist oder nur ein Mädchen aus dem Dorf, das sich um die alte Dame kümmert. Eines schönen Tages ist Frau Duaning einfach verschwunden. Nachdem die Kleine sie hier gefunden hatte, lief sie davon und kam ein paar Stunden später mit drei Schweinen und einer Machete wieder.«
»Und warum habe ich sie dann noch nicht gesehen?«
»Die weiße Medizin ist ihr nicht ganz geheuer. Sie hält sich hinter dem Haus versteckt. Offenbar besteht ihre einzige Aufgabe darin, die Füße der alten Frau in Blut zu baden, bis es vorbei ist.«
»Weiß sie, was ihr fehlt?«
»Sie hat nichts gesagt.«
»Wissen Sie, wo sie ist?«
»Ja.«
»Würden Sie mich zu ihr bringen?«
»Äh …«
»Was denn?«
»Könnten Sie vorher vielleicht Ihre weiße Uniform ausziehen? Sonst hält die Kleine Sie für einen Geist.«
Dtui sah an sich hinunter, betrachtete die einzige Schwesterntracht, die sie mitgebracht hatte, und musste lächeln. Weiß konnte man sie eigentlich nicht mehr nennen. »Gibt es hier oben so dicke Geister? Na schön. Bringen Sie das Mädchen in Frau Wunderlichs Zimmer, und ich ziehe derweil mein Geisterkostüm aus.« Sie streifte einen grünen OP-Kittel über ihre Uniform.
Zehn Minuten später schob Meej ein etwa zehnjähriges Mädchen in das kleine Krankenzimmer, in dem außer Frau Wunderlich nur drei schwer sedierte Patienten lagen. Das Mädchen hatte ein Marmeladenglas mit frischem Blut im Arm. Dtui lächelte, doch beim Anblick ihrer gleichmäßigen weißen Zähne wich die Kleine zurück. »Sprichst du Laotisch?«, fragte Dtui.
Das Mädchen sah zu Meej. »Nein«, sagte er.
»Würden Sie sie dann bitte fragen, warum sie nach Hause gelaufen ist und die Opferschweine geholt hat?«
Er tat wie geheißen. Dtui fiel auf, dass die Fragen ebenso lang waren wie die Antworten kurz. »Sie sagt, die Frau ist besessen.«
»Wie kommt sie darauf?«
Das Mädchen zeigte auf den Mund der Frau, die mit schwacher Stimme die ewig gleiche Litanei herunterbetete. »Das«, sagte sie.
»Was, das?«
Frau Wunderlich sagte immer wieder dieselben Worte vor sich hin, in tadellosem nordlaotischen Dialekt.
»Sie sagt, die alte Frau spricht kein Laotisch. Nicht ein einziges Wort.« Dtui zog erstaunt die Augenbrauen hoch und stieß einen leisen Pfiff aus. »Aha.«
»Und das ist noch nicht alles«, sagte Meej.
»Noch seltsamer kann es wohl kaum werden.«
»Doch, Schwester Dtui. Sie sagt, die Stimme, mit der die Alte spricht – diese Stimme gehört nicht Frau Duaning. Jemand anders spricht durch sie.«
Als Genosse Lit am späten Nachmittag im Gästehaus eintraf, saß Dr. Siri auf der Veranda. »Wohlsein, Genosse Doktor.« Sie gaben sich die Hand. »Ich habe von der wundersamen Heilung unseres … Hausgastes gehört.«
»Auf die stille Post ist offenbar Verlass.«
»Ich möchte Ihnen danken. Wenn etwas passiert wäre, hätten wir die größten Schwierigkeiten bekommen.«
»Nicht der Rede wert.«
»Trotzdem lässt die Partei ihren aufrichtigen Dank übermitteln, und …«
»Heraus damit.«
»Wir wären Ihnen überaus dankbar, wenn Sie die Identität unserer Gäste vertraulich behandeln würden.«
»Mist, ich wollte sie gerade im Staatsrundfunk verkünden. Wem, zum Teufel, sollte ich wohl davon erzählen?«
»Vor allem wäre es mir lieb« – er senkte die Stimme -, »wenn Sie Ihrer Assistentin gegenüber Stillschweigen bewahren könnten.«
»Warum? Gilt sie jetzt schon als Sicherheitsrisiko?«
»Nicht … nein, sie … Bitte.«
»Ich werde mein Möglichstes tun. Haben Sie Neuigkeiten für mich?«
»Mehr, als ich erwartet hatte«, sagte der groß gewachsene Mann und nahm dem Doktor gegenüber Platz. Siri schenkte ihm aus der Thermoskanne eine Tasse Tee ein und ließ sie abkühlen.
»Ich habe soeben mit der Einwanderungspolizei in Hanoi gesprochen. Ich hatte gestern dort angerufen und die Namen Ihrer kubanischen Pfleger durchgegeben. Die Kollegen mussten sich durch riesige Aktenberge wühlen. Sie wissen ja, wie das ist. Wie es scheint, saß keiner der beiden Männer in der gebuchten Maschine. Genauer gesagt, gibt es nicht den geringsten Hinweis darauf, dass sie das Land überhaupt verlassen haben.«
»Aber sie wurden nach Hanoi gebracht?«
»Ja. Dort sind sie auch angekommen. Sie hatten eine Militäreskorte. Ich habe mit dem Fahrer gesprochen. Er erinnert sich genau.«
»Dann dürfen wir also annehmen, dass sie auf der Stelle kehrtgemacht und den Rückweg angetreten haben?«
»Ich weiß nicht. Wenn ja, müsste es jemandem aufgefallen sein. Ich habe meine Leute angewiesen, sich ein wenig umzuhören.«
»Gibt es etwas Neues über den vietnamesischen Oberst?«
»Sein Name war Ha Hung. Ich fürchte, die Ermittlungen haben sich totgelaufen – im wahrsten Sinne des Wortes. Drei Monate, bevor der Betonweg gegossen wurde, kam der Oberst ums Leben.«
»Unter welchen Umständen?«
»Ein Hinterhalt der Hmong.«
»Und was wurde aus seiner Tochter?«
»Keine Ahnung. Angeblich ging die Familie nach dem Tod ihres alten Herrn nach Vietnam zurück. Was die Suche nicht eben leichter macht.«
»Würden Sie es trotzdem probieren? Mir zuliebe?«
»Aber sicher. Sonst noch was?«
»Dr. Santiago wollte auf dem Weg zum Krankenhaus bei Kilometer 8 rasch hier vorbeischauen. Ich habe ihn gebeten, einen Blick auf unsere Mumie zu werfen. Vielleicht erkennt er den Mann ja wieder.«
»Hmm. Nach allem, was von ihm noch übrig ist, wird ihn wohl auch der große Dr. Santiago nicht identifizieren können. Er ist vermutlich ohnehin zu sehr damit beschäftigt, blutjungen Mädchen nachzusteigen, die ohne Weiteres seine Enkelinnen sein könnten.« Siri bemerkte den hasserfüllten Unterton durchaus, doch sein Interesse war zu gering, um der Sache auf den Grund zu gehen. Lit blickte sich um. »Mir ist aufgefallen, dass Schwester Dtui nicht an unseren letzten beiden Lagebesprechungen teilgenommen hat. Das hängt doch hoffentlich nicht damit zusammen, dass ich ihr neulich den Kopf gewaschen habe?«
»Ich will es mal so sagen, mein Junge. Man mag einen Gibbon domestizieren können, indem man ihm immer wieder mit dem Hammer auf den Schädel schlägt, Menschen hingegen reagieren auf eine Gehirnerschütterung im Allgemeinen allergisch.«
»Zu meinen Aufgaben gehören auch Bildung und Erziehung.«
»Man haut den Leuten eine Philosophie nicht um die Ohren, junger Mann. Man macht sie nach und nach damit vertraut.«
»Sie meinen, ich habe das nötige Feingefühl vermissen lassen?«
»Ich sage das nur ungern, aber Sie scheinen mir ein treuer Anhänger der Knüppel-aus-dem-Sack-Methode zu sein. Lassen Sie es künftig etwas ruhiger angehen, dann stellt sich der Erfolg von selbst ein.«
»War Schwester Dtui verärgert? Ist sie deshalb nicht hier?«
»Dtui hat ein weitaus dickeres Fell, als Sie glauben. Nein, sie hilft bei Kilometer 8 aus, bis die kubanischen Ärzte eintreffen.«
»Sie ist eine bemerkenswerte Frau.«
Siri war erstaunt. »Ich dachte, Sie könnten sie nicht leiden.«
»Im Gegenteil, Doktor. Ich war von Anfang an mehr als beeindruckt. Zugegeben, es mangelt ihr an Disziplin, aber …«
Siri wartete darauf, dass auf das »aber« etwas folgen würde, aber es blieb folgenlos. »Ich werde es ihr ausrichten, wenn ich sie heute Nachmittag sehe.«
»Sie fahren hinaus zu Kilometer 8?«
»Mit Dr. Santiago. Ich möchte mir das Quartier der Kubaner ansehen und mich ein wenig umhören.«
»Und wenn Sie etwas Neues in Erfahrung bringen, geben Sie mir umgehend Bescheid?«
»Selbstverständlich.«
»Die Zentralregierung war alles andere als erfreut, als sie hörte, dass es sich bei dem Opfer eventuell um einen Kubaner handelt. Die kubanische Delegation möchte den Fall so schnell wie möglich klären. Zu dem Konzert wird auch ein Politbüromitglied aus Havanna anreisen. Bis dahin sähe ich den Täter gern hinter Gittern. Am besten schaue ich heute Abend noch einmal vorbei, dann können Sie mir berichten, was Sie herausgefunden haben.«
»Eigentlich wollte ich über Nacht dortbleiben.«
»Warum?«
»Ach, ich wollte Schwester Dtui ein wenig zur Hand gehen, außerdem kann ich dort vielleicht endlich mal wieder ruhig schlafen. Seit ich hier bin, werde ich jede Nacht von dieser verfluchten Diskothek geweckt.«
Lit lachte. »Doktor, wir sind in Vieng Xai.«
»Und?«
»Und seit die Parteiführung nach Vientiane umgezogen ist, schwingt hier niemand mehr das Tanzbein. Darum ist das Konzert nächste Woche ja so ein Großereignis.«
»Genosse Lit. Ich höre die Musik. Ich spüre die Vibrationen der Lautsprecher.«
»Vielleicht ist es ein Radio oder Plattenspieler. Was für Musik ist es denn?«
»Dieser nervtötende amerikanische Mist. Zu dem sie in den Nachtclubs der Hotels früher herumgehopst sind.«
»Ich werde mich darum kümmern, Doktor. Wir wollen schließlich nicht, dass unsere Jugend sich von dekadentem Westpop korrumpieren lässt. Aber glauben Sie mir, Dr. Siri, in Vieng Xai hat es noch nie eine Diskothek gegeben, und wenn es nach mir geht, wird das auch so bleiben.«
Wie es sich für einen tollkühnen Helden gehört, hielt Dr. Santiago mit quietschenden Bremsen vor Kilometer 8 und entstieg seinem gelben Jeep in eine dichte Staubwolke gehüllt. Die erschöpften Schwestern und Pfleger kamen aus dem Haus und nahmen ihn mit einem Seufzer der Erleichterung in Empfang. Nur Dtui kannte den kleinen weißhaarigen Mann auf dem Beifahrersitz. Während sich das übrige Personal um Santiago scharte, schlenderte sie zu Dr. Siri.
Sie sah reichlich mitgenommen aus. »Na, wie läuft’s, Schwester?«, fragte er lächelnd.
Sie stieß ein verzweifeltes Lachen hervor. »Seit wie vielen Jahren machen Sie das schon?«
Siri kletterte aus dem Jeep und wischte sich mit einem alten Handtuch den Staub aus dem Gesicht. »Ab dem siebzehnten Jahr wird es allmählich leichter.«
»Heute ist mein zweiter Tag, und ich bin ein Wrack.«
Auf dem Weg in die Station fasste Siri die Ereignisse der vergangenen beiden Tage kurz zusammen. »Santiago ist sich anscheinend ziemlich sicher, dass es sich bei dem Toten um Odon, den kleineren der beiden Pfleger, handelt.«
»Haben Sie ihn nach den parallelen Narben gefragt?«
»Ich habe sie ihm gezeigt, und er machte ein – wie soll ich sagen? – nicht direkt ängstliches, aber doch recht finsteres Gesicht. Sie dürfen nicht vergessen, dass wir uns nicht verständigen können, darum freue ich mich schon auf Ihre Übersetzung. Und jetzt frisch ans Werk. Was liegt an?«
Siri und Santiago waren ein erstklassiges Gespann. Dtui folgte ihnen auf ihrem Rundgang und assistierte ihnen bei vier Operationen. Bei ihnen sah alles so leicht, so einfach aus. Gegen acht waren sämtliche Patienten versorgt, und das Personal saß um einen großen Tisch und aß gebratenen Lemur mit Klebreis. Da Santiago über den Mord erst sprechen wollte, wenn die drei allein waren, erzählte Dtui ihnen einstweilen die Geschichte von Frau Wunderlich. Die beiden Chirurgen fanden den Fall so faszinierend, dass sie in Frau Duanings Zimmer gingen, kaum dass sie den letzten Bissen verschlungen hatten. Der Anblick der totenbleichen alten Dame betrübte Dtui über die Maßen. Sie sprach noch immer mit geliehener Stimme, doch da sie kaum Luft bekam, brachte sie die Worte nur schwer über die Lippen. Um überhaupt etwas verstehen zu können, mussten sich die drei über sie beugen. Ihr Atem stank nach Fäulnis und Zerfall.
Santiago wollte wissen, was sie sagte.
»Sie sagt: ›Bald ist’s zu spät‹«, übersetzte Dtui.
»Was meint sie damit?«, fragte Siri.
»Dass sie es nicht mehr lange machen wird, nehme ich an.«
Aber das hielt Siri für eher unwahrscheinlich. Das Amulett um seinen Hals lag warm an seiner Brust. Es schien zu vibrieren, als würde es eine Art Funkspruch empfangen. Allmählich wusste der Doktor die Signale zu deuten. Er nahm die Hand der alten Frau in die eine und das Amulett in die andere Hand. Sofort bestürmte ihn eine wahre Flut fremder Bilder.
»Dtui, merken Sie sich alles, was ich sage«, rief er und schilderte ihr, was er sah. »Büsche, brusthoch. Ich falle. Tropfendes Wasser. Beton. Ringsum ist alles dunkel. Eine Tür, eine schwere, grüne Stahltür, die sich nicht bewegen lässt. Hände. Kleine weiße Hände. Meine eigenen, als würde ich auf sie hinunterblicken. Sie sind voller Blut.«
Und dann, als habe jemand die Leitung gekappt, sah er plötzlich nichts mehr. Er öffnete die Augen. Die alte Dame war verstummt. Er wusste, dass sie tot war. »Was habe ich gesagt?«, fragte er Dtui.
»Wissen Sie das denn nicht mehr?«
»Ich habe keinen Schimmer.«
Dtui gab seine Worte so getreu wie möglich wieder und übersetzte sie Santiago, der sich zu fragen schien, was er da gerade miterlebt hatte. Dtui wollte wissen, ob ihm Siris Schilderungen irgendwie bekannt vorkämen. Er zuckte die Achseln und entgegnete, Büsche und Wasser gebe es schließlich überall.
»Gut. Fangen wir mit den Büschen an.« Siri fackelte nicht lange und nahm die Sache in die Hand. »Gibt es unter den Schwestern und Pflegern jemanden, der in dieser Gegend aufgewachsen ist?« Nach kurzer Beratung kamen sie auf Nang, eine nervöse Krankenschwester, die von Zeit zu Zeit immer noch in Ohnmacht fiel, wenn sie Blut sah. Sie war sichtlich erleichtert, endlich einmal nicht über Chirurgie sprechen zu müssen. Siri interessierte sich für Obst. Er hatte sie zwar nicht bei sich, konnte die Beere, auf die er in seinem Zimmer im Gästehaus getreten war, jedoch recht genau beschreiben. Die anderen sahen ratlos drein, während sie auf den Namen zu kommen versuchte.
»Sie meinen Affeneierpflaumen«, sagte das Mädchen schließlich.
»Und wo findet man die?«, fragte Siri.
»Überall, wenn man weiß, wo man suchen muss. Sie wachsen auf den Karsten. Da sie auf dem Markt einen guten Preis erzielen, sind sie bei den Dorfbewohnern heiß begehrt. Der eine oder andere ist beim Sammeln von Affeneierpflaumen schon auf eine Mine getreten und in die Luft geflogen.«
»Findet man sie auch in dieser Gegend?«
»Aber ja, zu bestimmten Jahreszeiten. Hier in den Bergen bei Kilometer 8 wachsen die Büsche überall.«
»Hätten Sie wohl die Güte, uns zu verraten, worum es geht, Doc?«, fragte Dtui.
»Hinweise«, antwortete Siri. »Wir dürfen keinen Hinweis außer Acht lassen. Wie zum Beispiel die grüne Tür. Fragen Sie Santiago doch noch mal, ob er sich an irgendwelche grünen Türen erinnert.«
Sie gehorchte und konnte förmlich zusehen, wie der Kubaner sämtliche Türen seines Lebens Revue passieren ließ. Schließlich fragte er, ob die Tür auch wirklich grün und nicht blau gewesen sei. Da Siri an seine Vision keinerlei Erinnerung mehr hatte, konnte er die Farbe auch nicht bestätigen.
»Angenommen, sie wäre blau«, fragte Dtui. »Würde das denn eine große Rolle spielen?«
Durchaus, meinte Santiago. Die Bombenschutztüren im alten Lazarett seien aus schwerem Stahl, und sie seien blau.
»Und wo ist das alte Lazarett?«
Er zeigte aus dem Fenster, auf den schwarzen Umriss des Berges. Er hob sich gegen das dunkle Blau des Himmels ab und hockte da wie ein riesenhafter Rabe.
Sie übersetzte für Siri, der das Lazarett gut kannte. Nach dem Umzug in die neuen Gebäude waren die Höhlen versiegelt worden. Es führte kein Weg hinein. Die bombensicheren Türen waren fest verriegelt, um zu verhindern, dass neugierige Kinder aus der Mittelschule am Fuß des Hügels hineingelangten und sich darin verliefen. Plötzlich schien alles zusammenzupassen: die Beeren, die Türen, das Wasser und der Beton.
»Wer hat den Schlüssel?«, fragte er.
Santiago ging mit ihnen in die Verwaltung, schloss die Schreibtischschublade auf und kramte in einem Wust von Schlüsseln, bis er den zum Vorhängeschloss am Haupteingang des alten Lazaretts gefunden hatte. Aus dem Vorratsschrank holte er eine Machete und drei batteriebetriebene Stirnlampen; auf diese Weise hatten sie die Hände frei. Er ging voran, und sie folgten ihm den überwucherten Pfad entlang, der zum nächstgelegenen Eingang führte. Die gut zwanzig Zentimeter starke Tür war seit Jahren nicht geöffnet worden. Die drei mussten mit vereinten Kräften ziehen, um sie so weit zu bewegen, dass sie sich durch den schmalen Spalt zwängen konnten.
Als sie eintraten, schlug ihnen ein modriger Gestank entgegen. Unkraut verstopfte die Lüftungsschächte, und die Luft ringsum war alt und abgestanden. Die Geschichten der Menschen, die hier ihr Leben gelassen hatten, waren dem Gemäuer auf ewig eingeschrieben. Doch tief in der pechschwarzen Finsternis nahm Siri noch etwas anderes wahr – den frischen Geruch des Todes. Kurz darauf bemerkte ihn auch Dtui. Sie und Siri schalteten ihre Stirnlampen ein, und die drei Lichtstrahlen wanderten hin und her über zwölfhundert Quadratmeter kalten, grauen Steins. Die beiden alten Ärzte hatten unzählige Stunden in dieser verborgenen Halle zugebracht, und so verwunderte sie allein die Totenstille, das Fehlen jeglicher Geräusche – nirgends scharrte eine Ratte, nirgends zirpte eine Fledermaus. Als habe die Natur es nicht gewagt, die verlassene Höhle zu erobern.
Dtui hingegen kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus und fragte sich, wie es den Ingenieuren in Kriegszeiten, im Sperrfeuer der Bomben gelungen war, diese unglaubliche Leistung zu vollbringen. Durch Kanäle im Zementfußboden gelangte Quellwasser aus den umliegenden Bergen in die Höhle. Links und rechts der Haupthalle lagen Operationssäle, Büroräume und ausgeklügelte Latrinen, durch die das Abwasser nach außen abgeleitet wurde. Da plötzlich erfasste der Lichtstrahl ihrer Lampe eine Gestalt auf dem Betonfußboden. Eine Leiche mit verrenkten Gliedern. Als sie näher kamen, erkannten sie, dass es sich um eine Frau von Anfang zwanzig handelte. Ihrem Zustand nach zu urteilen war sie bereits seit über vierundzwanzig Stunden tot.
Direkt über ihr baumelte Unkraut aus einem Lüftungsschacht, einem kreisrunden Loch von etwa zwei Metern Durchmesser. Siri wusste, dass der Schacht an einer Stelle in der Felswand endete, die aus der Vogelperspektive nicht zu sehen war; von dort wurde mittels einer Pumpe Frischluft ins Berginnere geleitet. Die Pumpe gab es längst nicht mehr, und zurückgeblieben war nichts weiter als ein Loch, ein nahezu unsichtbares Loch, in das die nichtsahnende Frau vermutlich beim Beerensammeln gestürzt war.
Santiago beugte sich über die Leiche und nahm die Tote in Augenschein. Als er zu sprechen begann, dolmetschte Dtui.
»Der Doktor ist schwer beeindruckt. Er würde gern wissen, wie Sie die Frau gefunden haben. Er bedauert allerdings, dass Sie Frau Panoy nicht mehr helfen können.«
»Nein«, sagte Siri und ließ seinen Lichtstrahl durch die Höhle wandern. »Das ist nicht Panoy. Zwar hat der Geist dieser Frau durch die alte Hmong zu uns gesprochen, aber dabei ging es gewiss nicht um sie selbst. Auf diese Art und Weise kann man nur kommunizieren, wenn man schon tot ist. Es muss also noch jemand anders hier sein.«
Dtui gab Siris Einwand an Santiago weiter, und zu dritt setzten sie ihre Suche fort. Das Wasser in dem alten Aquädukt war ins Dorf am Fuß des Berges umgeleitet worden. Durch die verbliebenen Kanäle floss immer noch ein schmales Wasserrinnsal. An einigen Stellen waren sie fast einen Meter tief, und dort stieß Santiago auf Panoy. Er rief ihren Namen und ließ sich neben ihr in den Kanal hinab. Sie war etwa vier Jahre alt. Sie war schwer verletzt und vom Hunger geschwächt, aber wie durch ein Wunder noch am Leben.
»Ich glaube, wir können sie retten«, rief Santiago den anderen zu. Er kletterte mit dem Mädchen im Arm aus dem Wassergraben und hastete auf die blaue Tür zu. Dtui und Siri konnten kaum Schritt halten. Im Eingang blieben sie stehen und sahen dem alten Kubaner nach, der die Böschung hinab auf das Krankenhaus zueilte. Dtui legte Siri lächelnd den Arm um die Schulter.
»Gute Arbeit, Dr. Siri. Und wie sollen wir Santiago das alles erklären?«
»Obwohl ich für eine gute Lüge stets zu haben bin, fürchte ich, wir werden ihm die Wahrheit sagen müssen.«
»Meinen Sie wirklich? Lügen wäre vermutlich einfacher.«
»Ach, ich glaube kaum, dass der hagere alte Löwe sonderlich erstaunt sein wird. Ich habe das dumpfe Gefühl, dass ihm all das nicht gerade neu ist.«
Sie wandte den Kopf, und der Strahl ihrer Lampe bohrte sich in die Stahltür. »Sagen Sie. Was ist das Ihrer Meinung nach für eine Farbe, Doc?«
»Grün.«
»Sie sind farbenblind, nicht wahr?«
»Wenn das kein Grün ist, muss ich wohl farbenblind sein. Mir graut bei der Vorstellung, was Frau Wunderlich mir noch alles vererbt hat.«
Panoy erwies sich als erstaunlich zäh. Gegen ihre gebrochenen Rippen ließ sich wenig machen, doch sie richteten ihr beide Arme und ein Fußgelenk, nähten zwei tiefe Schnittwunden und hängten sie an einen Tropf, der ihr die verlorene Energie nach und nach zurückgeben würde. Meej blieb bei ihr und überprüfte im Lauf der Nacht immer wieder ihre Vitalfunktionen.
Siri, Santiago und Dtui saßen in ihre Jacken gehüllt unter dem nachtschwarzen Himmel. Es war zwar kalt, aber nicht so unangenehm, dass sie ein Feuer hätten machen müssen. Der Reiswhisky kurbelte ihren Kreislauf an. Siri sah schweigend zu, wie Dtui mit Hilfe ihres zerlesenen Wörterbuches und einer Taschenlampe Siris Verbindungen zur Geisterwelt zu erklären versuchte. Sie erzählte Santiago von dem tausend Jahre alten Schamanen namens Yeh Ming, der in Siris Körper hauste. Sie erklärte ihm, besagter Geist warte geduldig darauf, dass Siri friedlich eines natürlichen Todes starb, damit er sich aus dem Schamanengeschäft zurückziehen konnte. Sie erzählte ihm von den dreiunddreißig Zähnen und den Träumen und dem weißen Talisman, der Siri zur Abwehr böser Geister diente. Währenddessen achtete Siri auf die Reaktionen seines alten Freundes. Sie waren nicht leicht zu deuten, denn Santiago schien sämtliche Informationen erst einmal fein säuberlich in eigens dafür vorgesehene Schubladen seines Gehirns zu sortieren. Als Dtui fertig war, sah der Kubaner Siri mitleidig an. Er nahm die ewige Zigarette aus dem Mund und ließ seinen Kopf in einer Rauchwolke verschwinden. Dann blitzte so etwas wie Bewunderung auf in seinen Augen, und er fing schallend an zu lachen. Er füllte ihre Gläser nach und klopfte seinen beiden Kollegen auf den Rücken, als sei das die beste Nachricht, die er seit Langem erhalten habe.
Siri war von Neuem zur Untätigkeit verdammt, als Santiago seinerseits zu einer Geschichte anhob. Dtui unterbrach ihn mehrmals, um die eine oder andere Frage zu stellen, machte hier ein schockiertes, da ein fasziniertes Gesicht und hob am Ende seufzend die Augenbrauen. Dann herrschte Schweigen.
»Was? Was ist?«, fragte Siri nervös, weil er sich übergangen fühlte.
»Ach, hallo, Doc. Sie hier?«, sagte Dtui lächelnd. »Tut mir leid, aber ich bin todmüde und …«
»Schwester Chundee Vongheuan, wenn Sie mir nicht auf der Stelle …«
Sie kicherte. »Kleiner Scherz am Rande, Doc. Keine Panik.« Sie trank einen Schluck Whisky, machte es sich auf ihrem Stuhl bequem, so gut es ging, und begann mit Santiagos Geschichte. »Jetzt, wo er weiß, was Sie für ein sonderbarer Kauz sind, rückt der alte Knabe endlich damit heraus, was hier oben wirklich passiert ist. Wie es aussieht, steckte in den beiden Pflegern doch ein wenig mehr, als wir dachten. Er hatte Angst, wenn er Ihnen davon erzählt, halten Sie ihn womöglich für verrückt, darum freut es ihn umso mehr, dass wir jetzt drei Spinner sind.«
Santiago sah Dtui grinsend an, als würde er die Geschichte, die er ihr soeben erzählt hatte, ein zweites Mal genießen. Er kippte einen Schluck Whisky wie ein Feuerspucker, der gleich einen mächtigen Flammenstrahl ausstoßen wird.
»Wie es scheint«, begann Dtui, »haben auch die Kubaner Schamanen und enge Verbindungen zur Geisterwelt. Es gibt große Kulte und kleine Kulte. Viele Priester dieser Kulte sind Schwindler und Betrüger. Aber einige von ihnen sprechen tatsächlich mit den Geistern.«
»Glaubt Dr. Santiago das im Ernst?«, fragte Siri.
Wieder lachte Santiago, als Dtui ihm die Frage übersetzte.
»Ja, er glaubt fest an die Geisterwelt. Er sagt, er habe einfach zu viel gesehen und erlebt, wofür es keine wissenschaftliche Erklärung gibt. Er sagt, wenn Sie möchten, nimmt er sich gern zwei Wochen Zeit und erklärt Ihnen die Riten von Palo und – wie hieß das noch gleich, Santería?« Sie sah zu Santiago; der nickte. »Das muss aber nicht sein, oder?«
»Nicht unbedingt.«
»Gut. Dann kommen wir zur Sache: Er hat die beiden Kubaner nämlich nicht etwa nach Hause geschickt, weil sie mit den Mädchen aus dem Dorf geschäkert hätten. Das war nichts weiter als eine Ausrede für die Behörden in Havanna. Die Gründe waren andere. Da er mit ihrer Arbeit sehr zufrieden war, handelte es sich offenbar um etwas Ernstes, sonst hätte er wohl kaum aus freien Stücken auf zwei erfahrene Assistenten verzichtet.«
Sie verstummte.
»Und was war der wahre Grund?«
»Das wollte er mir nicht verraten.«
»Was?«
»Er sagt, er will uns morgen früh zu ihrer Höhle führen, damit wir uns selbst ein Bild machen können. Frustrierend, nicht?«
»Und wie.«
Kein Schmollen und kein Flehen hätte den Kubaner zum Einlenken bewegen können.
Sie leerten ihren Schlummertrunk und zogen sich zu ihren Schlafplätzen in den Klassenzimmern der nahe gelegenen Mittelschule zurück.
Für Siri hatte man zwei Steppdecken im Raum der 2. Klasse ausgebreitet. Jemand hatte mit Kreide WILLKOMMEN, BESUCHER an die Tafel geschrieben. Doch als er sich dem Zimmer jetzt näherte, bemerkte er, dass die Tür offen stand und sonderbare Geräusche in den Korridor drangen. Pulte wurden verrückt. Irgendetwas fiel zu Boden und zerbrach. Ein tiefes Schnauben und Prusten, das unmöglich von einem Menschen stammen konnte. Er wollte eben Hilfe holen, als ihm einfiel, dass er keine Ahnung hatte, wofür – oder wogegen – er Hilfe brauchte. Er schloss die Finger um das Amulett und marschierte festen Schrittes zur Tür.
Im Schein der kleinen orangefarbenen Kerze, die ihm jemand auf das Lehrerpult gestellt hatte, bot sich ihm ein bizarrer Anblick. Fünf Büffel drängten sich in dem kleinen Raum und wetteiferten um einen Platz vorn an der Tafel. Ein Tier hatte sich dagegen gelehnt, und jetzt prangte der Schriftzug wie ein Brandzeichen auf seiner Flanke. Zwei hatten bereits einen Ehrenplatz ergattert und lagen links und rechts von Siris Steppdecke auf dem nackten Lehmfußboden wie zwei riesige Umarmungskissen. Als er das Klassenzimmer betrat, sahen alle zu ihm auf und lächelten. Soweit Tiere ohne Vorderzähne zum Lächeln in der Lage sind.