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Die Kriminalromane um Schwester Fidelma spielen hauptsächlich in Irland in der Mitte des siebenten Jahrhunderts. In diesem Buch jedoch befinden sich Fidelma und der Gefährte ihrer Abenteuer, der angelsächsische Bruder Eadulf, auf dem Wege nach Eadulfs Geburtsort Seaxmund’s Ham im Lande des Südvolks (heute Saxmundham in Suffolk), im Königreich der Ost-Angeln (East Anglia) im späteren England.
Dabei ist zu bedenken, daß East Anglia und das Königreich der Ost-Sachsen (Essex) südlich davon erst wenige Jahrzehnte vor Fidelmas Besuch, der im Dezember des Jahres 666 stattfindet, von irischen Missionaren zum Christentum bekehrt worden waren.
Im Jahre 653 wurde König Sigebert der Ost-Sachsen von Finan, dem irischen Bischof von Lindisfarne, getauft. Finan entsandte einen seiner Brüder, Cedd, zu den Ost-Sachsen. Cedd sollte auf der berühmten Synode von Whitby im Jahre 664 die keltische Kirche vertreten. Er baute eine Kirche in Lastingham und starb bald danach dort an der Gelben Pest. König Sigebert und seine Ost-Sachsen fielen in ihren heidnischen Glauben zurück, doch Eata, der nächste Bischof von Lindisfarne, schickte einen weiteren irischen Missionar, der sie erneut bekehren sollte.
Einige Jahre zuvor hatte im Königreich East Anglia ein Prinz aus königlichem Hause, der auch Sigebert hieß, nach Gallien fliehen müssen, um nicht von einem ehrgeizigen Vetter getötet zu werden, der nach der Krone trachtete. In Gallien lernte er ungefähr in den Jahren 610-612 den berühmten irischen Missionar Columbanus (um 540 bis 6i5) kennen, der Mönchskloster in Annegray, Luxeuil und Fontaine eingerichtet hatte und danach das Kloster Bobbio in Italien gründete, das als Vorbild für die Abtei in Umberto Ecos »Der Name der Rose« gedient haben soll.
Sigebert kam später nach East Anglia zurück, nachdem ihn Columbanus zum Christentum bekehrt hatte. Zwischen 631 und 634 holte er Missionare in sein Königreich. Unter ihnen befand sich ein Burgunder namens Felix (gest. 648), der seine Abtei in Dunwich errichtete, während eine Gruppe irischer Missionare unter der Leitung von Fursa (575-648, bei den Angeln als Fursey bekannt) ihre Abtei in Burghcastle erbauten. Fursa wurde von seinen Brüdern Foillan und Ul-tan und vielen weiteren irischen Mönchen begleitet. Zu ihnen gehörten auch Gobban und Diciul. Letzterer führte die erste christliche Mission zu den SüdSachsen (Sussex) und gründete 645 seine Kirche in Bosham.
Fidelmas Gefährte Eadulf hatte die Würde eines ge-refa, eines Ortsrichters, in Seaxmund’s Ham geerbt, ehe er von diesen irischen Missionaren bekehrt wurde und seine religiöse Unterweisung in einer irischen Einrichtung erhielt.
Nach der Entscheidung, die auf der berühmten Synode von Whitby im Jahre 664 fiel (siehe auch »Nur der Tod bringt Vergebung«), erkannten die meisten angelsächsischen Königreiche dem Einfluß der römischen Kirche ein Übergewicht über die ursprünglichen keltischen Auffassungen vom Christentum zu. Doch in der Zeit, in der diese Geschichte spielt, im Dezember 666, war das Christentum dort noch sehr neu, und die alten heidnischen Gebräuche starben nur langsam aus. Die Ost-Angeln und Ost-Sachsen waren erst knapp eine Generation zuvor von der Verehrung ihrer Götter und Göttinnen abgebracht worden - von Tyr, Wotan, Thunor und Frig. Die Macht der alten Götter war so groß, daß sich einige ihrer Namen noch heute in den Bezeichnungen der Wochentage wiederfinden. Das Osterfest ist nach der Fruchtbarkeitsgöttin Eostre benannt, und Weihnachten fiel mit dem heidnischen angelsächsischen Julfest zusammen.
Schwester Fidelma ist nicht nur eine Nonne, die früher der Gemeinschaft der heiligen Brigitta von Kildare angehörte. Sie ist auch eine anerkannte dalaigh, eine Anwältin an den Gerichten des alten Irlands.
Zu Fidelmas Zeit bestand Irland aus fünf Hauptprovinzen, in denen Könige herrschten. Selbst das heutige irische Wort für Provinz lautet cüige, wörtlich: ein Fünftel. Vier dieser Provinzkönige - von Ulaidh (Ulster), von Connacht, von Muman (Munster) und von Laigin (Leinster) - erkannten mit Einschränkungen die Oberhoheit des Ard Ri oder Großkönigs an, der in Tara residierte, in der »königlichen« fünften Provinz von Midhe (Meath), deren Name »mittlere Provinz« bedeutet. Innerhalb dieser Provinzkönigreiche war die Macht unter Kleinkönigreichen und Stammesgebieten aufgeteilt.
Ein solcher Zusammenhalt bestand zwischen den sich ständig bekriegenden Königreichen der Angelsachsen noch nicht. Zur Zeit von Fidelmas Besuch gab es ungefähr zehn oder elf dieser Königreiche, die kleinen mitgerechnet. Drei davon waren die hauptsächlichen Anwärter auf die Macht: Northumbria, Mercia und Wessex. Jedes strebte danach, seinen König zum Bretwalda, zum »Herrscher Britanniens« zu machen. Eine zusammenhängende Einheit, die als England zu erkennen war, bildete sich erst drei Jahrhunderte nach Fidelmas Zeit heraus.
Wir sollten uns vor Augen halten, aus welcher kulturellen Perspektive Fidelma die angelsächsischen Königreiche betrachtete, und begreifen, daß sie im Rechtssystem ihres Landes Anwältin sein konnte -was in Bruder Eadulfs Heimatland unmöglich war.
Die Primogenitur, das Erbrecht des ältesten Sohnes oder der ältesten Tochter, war Irland fremd. Das Königtum vom geringsten Stammesfürsten bis zum Großkönig war nur zum Teil erblich und überwiegend ein Wahlamt. Jeder Herrscher mußte sich seiner Stellung würdig erweisen und wurde von den derbf-hine seiner Sippe gewählt, von der mindestens drei Generationen mit einem gemeinsamen Stammvater versammelt sein mußten. Wenn ein Herrscher nicht dem Wohl seines Volkes diente, wurde er angeklagt und abgesetzt. Deshalb ähnelte das monarchische System des alten Irlands mehr einer heutigen Republik als den feudalen Monarchien, die sich im Mittelalter in Europa entwickelten.
Im Irland des siebenten Jahrhunderts gab es ein wohldurchdachtes Rechtssystem, das das Gesetz der Fenechus, der Landbebauer, genannt wurde, doch besser bekannt ist als das Gesetz der Brehons, abgeleitet von dem Wort breitheamh für Richter. Nach der Überlieferung wurden diese Gesetze zuerst im Jahre 714 v. Chr. auf Befehl des Großkönigs Ollamh Fodhla zusammengefaßt. Im Jahre 438 berief der Großkönig Laoghaire eine Kommission von neun Gelehrten, die die Gesetze prüfen, überarbeiten und in die neue lateinische Schrift übertragen sollte. Dieser Kommission gehörte auch Patrick an, der später zum Schutzheiligen Irlands wurde. Nach drei Jahren legte die Kommission den geschriebenen Gesetzestext vor, die erste bekannte Kodifizierung.
Die ältesten vollständig erhaltenen Texte der alten Gesetze Irlands finden sich in einem Manuskript aus dem elften Jahrhundert, das in der Royal Irish Academy in Dublin aufbewahrt wird. Erst im siebzehnten Jahrhundert gelang es der englischen Kolonialverwaltung in Irland schließlich, die Anwendung der Gesetze der Brehons zu unterdrücken. Selbst der Besitz eines irischen Gesetzbuchs wurde bestraft, oft mit dem Tode oder der Verbannung.
Das Rechtssystem war nicht statisch. Alle drei Jahre kamen die Rechtsgelehrten und Richter beim Feis Teamhrach (Fest von Tara) zusammen und prüften und verbesserten die Gesetze entsprechend der sich verändernden Gesellschaft und ihrer Bedürfnisse.
Diese Gesetze wiesen der Frau eine einzigartige Stellung zu. Die irischen Gesetze gaben den Frauen mehr Rechte und größeren Schutz als irgendein anderes westliches Gesetzeswerk bis in die jüngste Zeit. Frauen konnten sich gleichberechtigt mit den Männern um jedes Amt bewerben und jeden Beruf ergreifen, und sie taten es auch. Sie konnten politische Führer werden, Krieger in Schlachten befehligen, Ärzte, Friedensrichter, Dichter, Handwerker, Anwälte und Richter werden. Wir kennen die Namen vieler Richterinnen aus Fidelmas Zeit: Brig Briugaid und Äine In-gine Iugaire zum Beispiel und Dari, die nicht nur Richterin war, sondern auch einen berühmten Gesetzestext verfaßte, der im sechsten Jahrhundert aufgezeichnet wurde.
Die Gesetze schützten die Frauen vor sexueller Belästigung, vor Diskriminierung und vor Vergewaltigung. Sie konnten sich auf gleichem Rechtsfuß gesetzlich von ihren Ehemännern scheiden lassen und dabei einen Teil des Vermögens des Mannes als Abfindung verlangen. Sie konnten persönliches Eigentum erben und hatten Anspruch auf Krankengeld, wenn sie zu Hause lagen oder im Krankenhaus. Im alten Irland gab es die ersten Krankenhäuser, die in Europa bekannt sind. Aus heutiger Sicht verkörperten die Gesetze der Brehons eine beinahe ideale Gesellschaft.
Diesen Hintergrund und seinen starken Gegensatz zu den Nachbarländern Irlands sollte man sich vor Augen halten, um Fidelmas Rolle in diesen Geschichten zu verstehen.
Fidelma ging zum Studium an die weltliche Hochschule des Brehon Morann von Tara. Nach acht Jahren erlangte sie den Grad eines anruth, den zweithöchsten, den die weltlichen oder kirchlichen Hochschulen des alten Irlands zu vergeben hatten. Der höchste Grad hieß ollamh, und das ist noch heute das irische Wort für Professor. Fidelma hatte sowohl das Strafrecht Senchus Mor als auch das Zivilrecht Leab-har Acaill studiert. Dadurch wurde sie dalaigh, Anwältin bei Gericht.
In jener Zeit gehörten die meisten Vertreter der geistigen Berufe den neuen christlichen Klöstern an, so wie in den Jahrhunderten davor alle Vertreter der geistigen Berufe Druiden waren. Fidelma trat in die geistliche Gemeinschaft in Kildare ein, die im späten fünften Jahrhundert von der heiligen Brigitta gegründet worden war. Zum Zeitpunkt der Handlung dieser Geschichte hatte Fidelma jedoch Kildare bereits enttäuscht verlassen. Die Gründe dafür sind in der Kurzgeschichte »Hemlock at Vespers« beschrieben.
Während das siebente Jahrhundert in Europa zum »finsteren Mittelalter« gezählt wird, gilt es in Irland als ein Zeitalter der »goldenen Aufklärung«. Aus allen Ländern Europas strömten Studierende an die irischen Hochschulen, um sich dort ausbilden zu lassen, unter ihnen auch die Söhne vieler angelsächsischer Könige. An der großen kirchlichen Hochschule in Durrow sind zu dieser Zeit Studenten aus nicht weniger als achtzehn Nationen verzeichnet. Zur selben Zeit brachen männliche und weibliche Missionare aus Irland auf, um das heidnische Europa zum Christentum zu bekehren. Sie gründeten Kirchen, Klöster und Zentren der Gelehrsamkeit bis nach Kiew in der Ukraine im Osten, den Färöer-Inseln im Norden und Tarent in Süditalien im Süden. Irland war der Inbegriff von Bildung und Wissenschaft.
Die Kirche, die wir heute die keltische nennen, lag jedoch in einem ständigen Streit über Fragen der Liturgie und der Riten mit der Kirche in Rom. Die römische Kirche hatte sich im vierten Jahrhundert reformiert, die Festlegung des Osterfests und Teile ihrer Liturgie geändert. Die keltische Kirche und die Orthodoxe Kirche des Ostens behaupteten ihre Unabhängigkeit von Rom in solchen Fragen. Zu Fidelmas Zeit wurde die keltische Kirche Irlands von dieser Auseinandersetzung stark beansprucht, so daß man unmöglich über kirchliche Angelegenheiten schreiben kann, ohne auf diesen geistlichen Streit einzugehen.
Eine Gemeinsamkeit sowohl der keltischen wie der römischen Kirche bestand darin, daß das Zölibat nicht allgemein üblich war. Es gab zwar in den Kirchen immer Asketen, die die körperliche Liebe zur Verehrung der Gottheit vergeistigten, und auf dem Konzil von Nicäa im Jahre 325 hatte die Westkirche Heiraten von Geistlichen verurteilt, aber nicht verboten. Das Zölibat in der römischen Kirche leitete sich hauptsächlich von den Bräuchen der heidnischen Prieste-rinnen der Vesta und der Priester der Diana her.
Im fünften Jahrhundert hatte Rom den Geistlichen im Range eines Abts oder Bischofs untersagt, mit ihren Ehefrauen zu schlafen, und bald danach die Heirat gänzlich verboten. Den niederen Geistlichen riet Rom von der Heirat ab, verbot sie ihnen aber nicht.
Erst der Reformpapst Leo IX. (1049-1054) unternahm ernsthaft den Versuch, den Klerikern der westlichen Länder das allgemeine Zölibat aufzuzwingen. Es dauerte Jahrhunderte, bis die keltische Kirche ihren Widerstand gegen das Zölibat aufgab und sich der römischen Kirche fügte, während in der östlichen Orthodoxen Kirche die Priester unterhalb des Ranges von Abt und Bischof bis heute das Recht zur Heirat haben.
Das Wissen um die freie Einstellung der keltischen Kirche zu geschlechtlichen Beziehungen ist wesentlich für das Verständnis des Hintergrunds der Fidelma-Romane. Die Verurteilung der »Sünde des Fleisches« blieb der keltischen Kirche noch lange fremd, nachdem sie in der römischen bereits zum Dogma geworden war. Zu Fidelmas Zeit lebten beide Geschlechter in Abteien und Klöstern zusammen, die als conhospi-tae oder Doppelhäuser bekannt waren, und erzogen ihre Kinder im Dienste Christi.
Fidelmas eigenes Kloster der heiligen Brigitta war zu ihrer Zeit solch eine Gemeinschaft beider Geschlechter. Als Brigitta sie in Kildare (Cill Dara = die Kirche der Eichen) gründete, lud sie einen Bischof namens Conlaed ein, sich mit ihr zusammenzutun. Ihre erste erhaltene Biographie wurde 650, fünfzig Jahre nach ihrem Tode und zu Fidelmas Lebzeiten, von einem Mönch in Kildare mit Namen Cogitosus geschrieben, der keinen Zweifel daran läßt, daß es auch nach ihrem Tode weiterhin eine gemischte Gemeinschaft war.
Zum Beweis für die gleichberechtigte Stellung der Frauen wäre noch darauf hinzuweisen, daß in der keltischen Kirche jener Zeit Frauen auch Priester werden konnten. Brigitta selbst wurde von Patricks Neffen Mel zur Bischöfin geweiht, und sie war nicht die einzige. Rom protestierte im sechsten Jahrhundert schriftlich gegen die keltische Praxis, Frauen die heilige Messe zelebrieren zu lassen.
Im Unterschied zur römischen Kirche verfügte die irische Kirche über kein System von »Beichtvätern«, Geistlichen, denen die »Sünden« gebeichtet werden mußten und die dann die Vollmacht besaßen, von diesen Sünden in Christi Namen loszusprechen. Statt dessen wählte man sich einen anam chara, einen »Seelenfreund«, einen Kleriker oder Laien, mit dem man seine emotionalen und geistigen Probleme besprach.
Damit sich der Leser leichter zurechtfindet, habe ich eine Liste der Hauptpersonen beigefügt. Die Handlung spielt im Dezember 666. Es war der neue irische christliche Monat Nollaig, nach dem lateinischen natalicia - Geburtsfest - benannt, während nur wenige Jahre zuvor die Iren ihn noch als Medonach Gemrid - als Mittwinter - bezeichnet hatten.
Schwester Fidelma von Cashel, eine dalaigh oder Anwältin bei Gericht im Irland des siebenten Jahrhunderts
Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham, ein angelsächsischer Mönch aus dem Lande des Südvolks
IN CYNRICS GASTHAUS
Cynric, der Gastwirt
»Der verrückte« Mul, ein Bauer
IN ALDREDS ABTEI
ABT CILD
Bruder Botulf, ein Freund Eadulfs
Bruder Willibrod, der Verwalter
Bruder Osred, der Schmied
Bruder Higbald, der Apotheker
Bruder Redwald, ein junger Mönch
Bruder Wigstan
Bruder Beornwulf
IM MOORLAND
Aldhere, ein Geächteter
Bertha, eine Fränkin, seine Frau
Wiglaf, einer aus seiner Schar
Lioba, ein Bauernmädchen aus der Gegend
AUF DER LANDSTRASSE
Dagobert, ein fränkischer Kaufmann
Dado, sein Begleiter
IN TUNSTALL
Bruder Laisre
Bruder Tola
Gadra, Fürst von Maigh Eo
Garb, sein Sohn
Sigeric, Oberhofmeister Ealdwulfs, des Königs von Ost-Angeln
Werferth, Befehlshaber seiner Leibwache