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»Du bist gerade zur rechten Zeit gekommen, Bruder«, versicherte ihm Bruder Willibrod leise.
»Zur rechten Zeit?« murmelte Eadulf verwirrt und starrte auf den Leichnam seines Kindheitsfreundes. »Wie meinst du das - zur rechten Zeit?«
»Wir begraben die sterblichen Überreste unseres lieben Bruders um Mitternacht, wie es der Brauch der Abtei vorsieht.«
»Um Mitternacht!«
Eadulf fuhr herum und schaute Bruder Willibrod entgeistert an. In seiner Botschaft hatte sein Freund ihn eindringlich gebeten, er solle an diesem Tage vor Mitternacht in der Abtei sein. Sollte Botulf gewußt haben .? Doch wohl nicht?
»Du scheinst überrascht, Bruder Eadulf«, sagte Bruder Willibrod ruhig und erwiderte Eadulfs besorgten Blick. »Ich habe gehört, daß es in vielen Ländern üblich ist, die teuren Verstorbenen um Mitternacht zu begraben. Warum siehst du so verstört aus?«
Eadulf bemühte sich, seine wirbelnden Gedanken zu beruhigen. Er wandte sich rasch wieder dem Leichnam zu, denn er wollte seine Gefühle nicht verraten, ehe er nicht Antworten gefunden hatte, und begann die Wunden mit sorgfältigem Blick zu untersuchen.
»Botulf beging doch wohl nicht Selbstmord?« Die Frage hatte sich ihm zuerst gestellt als Antwort auf das Drängen seines Freundes, er solle vor Mitternacht in Aldreds Abtei sein. Er verwarf den Gedanken jedoch im selben Moment, in dem er ihn aussprach, denn die Wunden konnte sich Bruder Botulf unmöglich selbst zugefügt haben.
Er merkte, daß sich Bruder Willibrod hinter ihm rasch bekreuzigt hatte.
»Quod avertat Deus! Das möge Gott verhüten, Bruder. Wie kommst du auf solch einen Gedanken?«
»Wann ist das passiert?«
»Irgendwann heute morgen, soweit wir das feststellen können. Seine Leiche wurde in dem kleinen Hof hinter der Kapelle entdeckt, gleich am Eingang zur Krypta. Der arme Botulf. Er wurde heute beim frühen Morgengebet vermißt, und man fand ihn bald nach der Frühmette - in der siebenten kanonischen Stunde.«
»Also gleich nach Tagesanbruch?«
»Genau, Bruder Eadulf.«
»Wer hat ihn gefunden?«
Bei dieser Frage runzelte Bruder Willibrod mißtrauisch die Stirn.
»Bruder Osred. Er ist der Schmied in unserer Gemeinschaft und ging über den kleinen Hof zu seiner Schmiede, um sein Tagewerk zu beginnen, als er auf die Leiche stieß.«
»Nach den Wunden zu schließen wurde Bruder Botulf von hinten angegriffen. Hat man den Täter ermittelt?«
»Du stellst viele Fragen, Bruder«, erwiderte der dominus mit merklichem Argwohn in der Stimme.
»Als du batest, Bruder Botulf sehen zu dürfen, nahm ich an, daß du zur Abtei kämst, weil du schon von seinem Tod gehört hättest. Aber nun scheinst du überrascht. Und all diese Fragen. Wer bist du eigentlich?«
Eadulf bewahrte Geduld. »Ich sagte dir schon, daß ich Eadulf von Seaxmund’s Ham bin und geradewegs aus Canterbury komme. Botulf ...« Er zögerte. Vielleicht wäre es besser, Botulfs Botschaft nicht zu erwähnen. »Botulf war mein Freund. Wir sind zusammen aufgewachsen. Ich wußte nichts von seinem Tod, bis du mir seinen Leichnam gezeigt hast.«
Bruder Willibrod bedachte diese Erklärung einen Moment und erkannte sie dann an. Er machte ein betroffenes Gesicht.
»Dann tut es mir leid, daß ich dich nicht auf diesen Trauerfall vorbereitet habe. Ich hatte angenommen .« Mit verlegenem Achselzucken brach er ab.
»Ich habe dich gefragt, ob man den Täter entdeckt hat«, hakte Eadulf nach. Sein scharfer Ton irritierte Bruder Willibrod.
»Daß du Bruder Botulf kanntest, entschuldigt nicht die Art deiner Fragen«, gab er aufgebracht zurück.
»Ich war auch der erbliche gerefa von Seaxmund’s Ham.« Eadulfs Ton wurde schneidend. »Ich bin Friedensrichter nach dem Gesetz Wuffas, des Sohnes von Wehha, dem ersten König der Ost-Angeln, der unser Volk vor hundert Jahren übers Meer in dieses Land führte.«
Er wollte nicht so stolz und hochfahrend klingen, doch er wußte, daß seine Worte Eindruck auf Bruder Willibrod machen würden. Eadulf hatte nicht erwähnt, daß er sein Amt als gerefa verlor, als er die Mönchstonsur annahm und Glaubensbruder wurde. Bruder Willibrod zog aber sein Wort nicht in Zweifel. Der dominus neigte den Kopf.
»Vergib meinen Mangel an Kenntnis und Höflichkeit, Bruder gerefa.« Sein Ton war nun respektvoll.
Eadulf schob das mit einer Handbewegung beiseite.
»Berichte mir, was du weißt. Wer hat Botulf getötet und warum?«
»Abt Cild hat die Untersuchung in die Hand genommen. Anscheinend hat einer unserer Brüder einen berüchtigten Geächteten beobachtet, nicht lange, nachdem der arme Bruder Botulf gefunden wurde. Der Abt ist sich sicher, daß dieser Dieb in die Abtei einbrach und von Bruder Botulf überrascht wurde. Er erschlug den armen Botulf und flüchtete.«
Eadulf kniff die Augen zusammen. »Und weiter weiß man nichts?«
»Nach den Einzelheiten mußt du Abt Cild fragen.«
Eadulf schwieg einen Moment. Dann blickte er auf den Leichnam seines Freundes hinab und seufzte leise. Er berührte Botulfs kalte Hand.
»Ich werde die Wahrheit ans Licht bringen, Bo-tulf«, flüsterte er. »Der Schuldige wird gefunden werden.« Dann sprach er laut die Worte aus dem Evangelium des Lukas: »Nunc dimittis servum tuum, Domine ... Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren .«
An der Tür der Kapelle wandte er sich an Bruder Willibrod.
»Ich werde mich vom Reiseschmutz befreien, und dann möchten Schwester Fidelma und ich mit Abt Cild sprechen.«
Bruder Willibrod wirkte plötzlich unsicher. »Ich werde sehen, ob Abt Cild dich empfängt, aber die Frau wird er nicht sehen wollen.«
Eadulf zog die Brauen drohend zusammen. »Wie meinst du das?«
»Ich sagte dir doch schon, daß der Abt nichts von gemischten Häusern oder verheirateten Mönchen und Nonnen hält. Ich weiß nicht, ob er es überhaupt gutheißt, daß ich sie in die Abtei eingelassen habe.«
Einen Moment spiegelte sich Geringschätzigkeit in Eadulfs Miene. »Dann solltest du am besten dafür sorgen, daß der Abt erfährt, daß ich sowohl gerefa als auch Abgesandter Erzbischof Theodors bin. Und meine Gefährtin ist die Schwester des Königs von Muman im Lande Eireann.« Bei diesen Worten überkam ihn ein leichtes Schuldgefühl, denn Fidelma hatte ihn ausdrücklich gebeten, ihre Herkunft nicht zu erwähnen. Geiseln zu nehmen, um Lösegeld zu erlangen, war eine nicht unübliche Praxis. Daher war es oft besser, seinen Rang nicht preiszugeben. Er überwand seine Beunruhigung und setzte scharf hinzu: »Euer Abt täte gut daran, sich zu überlegen, wessen Feindschaft er sich zuziehen will.«
Bruder Willibrod hob resigniert die Brauen. »Was du wünschst, soll geschehen, Bruder Eadulf, aber der Abt ist ein Mann von strengem Glauben und fester Überzeugung, und er läßt sich nicht von Drohungen beeindrucken ... oder von anderen Überlegungen«, fügte er rasch hinzu, um seinen Mangel an Takt zu überspielen.
Eadulf preßte einen Moment die Lippen zusammen, dann sagte er: »Nun gut. Kläre bitte, ob er mich noch vor der Beerdigung empfangen will.«
»Ich werde dir die Antwort des Abts sehr bald ins Gästehaus bringen. Ich schicke auch einen Bruder, der Feuer macht und sich um eure Bedürfnisse kümmert.«
Als Eadulf ins Gästehaus zurückkehrte, hatte sich Fidelma inzwischen gewaschen, saß aber fest in ihre Kutte gewickelt dicht am Feuer und zitterte noch etwas. Sie blickte auf, als er eintrat.
»Ich fürchte, ich kriege eine rauhe Kehle«, klagte sie. »Die Kälte ist mir bis ins Mark gedrungen.«
»Botulf ist ermordet worden«, unterbrach sie Eadulf brüsk.
Sie starrte ihn an, als verstünde sie ihn nicht.
»Heißt das, daß dein Freund, der die Botschaft geschickt hat, tot ist?«
»Er ist ermordet worden«, wiederholte Eadulf, »und die Beerdigung findet um Mitternacht statt.«
»Um Mitternacht?« fragte Fidelma zurück. »Er hatte dich gebeten, vor Mitternacht hier zu sein. Glaubst du ...?«
»Er wurde heute früh kurz vor Tagesanbruch ermordet«, erklärte ihr Eadulf. »Wie hätte er wissen können, welche Bedeutung die heutige Mitternacht hat?«
»Vielleicht hatte sie noch eine andere Bedeutung?«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Es geht nicht ums Verstehen, sondern darum, erst einmal die Tatsachen zu kennen.« Fidelma mußte plötzlich niesen. »Dieses Feuer vermag nicht einmal, meine erstarrten Glieder aufzutauen.«
Es wurde an die Tür geklopft, und ein junger Mönch trat ein. Er war fast noch ein Knabe, blond mit hellem Teint, blauen Augen und roten Lippen. Er wirkte scheu und verlegen. Er trug ein Tablett mit einem dampfenden Krug und zwei Tonbechern. Er hielt den Blick gesenkt und schaute Fidelma nicht an.
»Ich soll euch heiße Brühe bringen.« Er sprach zu Eadulf, nachdem er sich unsicher umgesehen und gleich wieder die Augen niedergeschlagen hatte. »Dann soll ich im Nebenzimmer ein Feuer für dich machen, Bruder.«
Eadulf nahm das Tablett aus den zitternden Händen des Jungen und stellte es auf den Tisch.
»Vielen Dank.« Fidelma lächelte ihn an. »Wie heißt du?«
»Ich bin Bruder Redwald, Schwester.« Die Haltung des Jungen verriet, wie verlegen es ihn machte, direkt von ihr angesprochen zu werden.
»Du brauchst dich nicht zu beunruhigen«, versicherte ihm Fidelma.
»Der Abt ...«, setzte der Junge an. Dann machte er den Mund fest zu.
»Wir haben schon gehört, daß dem Abt Frauen in der Abtei nicht willkommen sind«, antwortete Fidelma ernst. »Mach dir keine Sorgen, du wirst keinen Ärger bekommen, nur weil du deinen Dienst tust.«
Der Junge nickte rasch. »Dann gehe ich jetzt an meine Arbeit, Schwester.«
Er war bereits aus der Tür, als Eadulf ihn mit einer scharfen Frage zurückholte.
»Kanntest du Bruder Botulf?«
Der Junge wandte sich schnell um. Seine Miene war beinahe angstvoll, und einen Moment schaute er Eadulf voll ins Gesicht, dann senkte er wieder den Blick.
»Jeder kannte Bruder Botulf. Er war der Verwalter der Abtei und war schon dabei, als sie gegründet wurde. Er war einer der Begleiter des heiligen Aldred, dessen Gebeine hinter dem Hochaltar in der Kapelle ruhen. Unsere Abtei ist nach ihm benannt.«
»Kanntest du Bruder Botulf gut?«
»Bruder Botulf war nett zu mir.«
»Ist nicht jeder hier nett zu dir?« fragte Fidelma sanft.
Bruder Redwald seufzte, sah sie aber nicht an und gab keine Antwort.
»Weißt du, was mit Bruder Botulf geschah? Ich meine, wie er getötet wurde?« drängte ihn Eadulf.
Der Junge schüttelte den Kopf, ohne Eadulf anzusehen. »Sein Leichnam wurde heute früh gefunden. Es heißt, jemand sei in die Abtei eingebrochen, um etwas aus der Kapelle zu stehlen, und Bruder Botulf habe ihn entdeckt. Der Dieb hat ihn erschlagen.«
»Was wurde denn gestohlen?« erkundigte sich Fidelma .
»Gestohlen wurde nichts. Ich hörte, wie Bruder Willibrod sagte, daß Bruder Botulf den Diebstahl verhindert hat und der Mörder mit leeren Händen floh.«
»Die Abtei sieht aus wie eine Festung, in die läßt sich wohl nicht so leicht einbrechen«, bemerkte Eadulf. »Hast du gehört, wer der Dieb war?«
Der Junge verzog das Gesicht, als lehne er alle Verantwortung ab. »Es soll einer aus der Bande von Geächteten gewesen sein, die im Moor lebt. Die mögen keine Mönche. Ich hörte, wie Abt Cild ihrem Anführer die Schuld am Tod Bruder Botulfs gab und erklärte, er werde ihn bestrafen.«
»Wie heißt ihr Anführer?« fragte Eadulf.
»Sein Name ist Aldhere. Jetzt laß mich bitte an meine Arbeit gehen, Bruder.«
Eilig verließ er den Raum. Sie hörten, wie er nebenan Feuerholz aufschichtete.
Fidelma nieste zweimal.
»Reich mir das heiße Getränk, Eadulf«, bat sie sanft. »Vielleicht erwärmt mich das.«
»Irgend etwas stimmt hier nicht«, meinte Eadulf nachdenklich und gab ihr den Becher. »In dieser Abtei herrscht eine merkwürdige Stimmung, die mir nicht gefällt. Sie ist irgendwie sehr belastend. Spürst du das auch?«
Fidelma lächelte dünn. »Ich würde sagen, daß der Tod deines Freundes schon belastend genug ist.«
»Das meine ich nicht. Ich trauere um ihn, aber stärker als meine Trauer ist mein Bestreben, die Umstände seines Todes aufzuklären.«
Fidelma nippte an ihrem Getränk und schaute ihn besorgt an. »Was soll es sonst sein als ein Zufall, daß er dich aufgefordert hat, vor Mitternacht hier zu sein?«
»Vor Mitternacht«, wiederholte Eadulf mit Betonung, »und dann stelle ich fest, daß dies die Stunde ist, in der sein Leichnam zur Ruhe gebettet werden soll. Ist das ein Zufall? Warum wollte er, daß ich genau zu der Zeit hier eintreffen sollte?«
»Ein paar diskrete Erkundigungen könnten uns klüger machen«, meinte Fidelma.
Eadulf schien nicht begeistert. »Viel hängt davon ab, ob der Abt hier mir auch erlaubt, diese Erkundigungen einzuziehen. Nach Bruder Willibrods Worten glaube ich nicht, daß man uns zu einem längeren Aufenthalt einlädt.«
Fidelma mußte wieder niesen.
»Ich hoffe, ich habe mir auf dieser anstrengenden Reise keine Erkältung geholt«, murmelte sie. Dann fügte sie hinzu: »Abt Cild scheint nicht viel Nächstenliebe zu besitzen, wenn Bruder Willibrod ihn richtig beschrieben hat. Hast du schon überlegt, wie es weitergehen soll, wenn man uns zur Abreise auffordert?«
Eadulf schüttelte den Kopf. »Wir können nur nach Seaxmund’s Ham gehen, näher finden wir keine Unterkunft.«
»Nun, ehrlich gesagt, ich wäre nicht traurig, wenn wir diese Abtei verlassen, Eadulf. Ich bin nicht nur körperlich unterkühlt, ich war selten an einem Ort, der so eisig auf meine Seele wirkte.«
In diesem Moment wurde an die Tür geklopft, und der einäugige Bruder Willibrod trat ein. Er sah beunruhigt und besorgt aus.
»Abt Cild möchte dich sofort sprechen, Bruder Eadulf. Kommst du mit?«
Eadulf schaute Fidelma entschuldigend an. Sie blickte nicht auf, sondern saß zusammengekauert am Feuer und hielt den Becher in beiden Händen.
Eadulf folgte Bruder Willibrod durch die dunklen gemauerten Gänge der Abtei, bis der dominus vor einer schweren Eichentür haltmachte und vorsichtig anklopfte. Von innen kam ein barscher Befehl, Bruder Willibrod öffnete die Tür, trat beiseite und bedeutete Eadulf, er möge hineingehen. Hinter ihm schloß sich leise die Tür, und Bruder Willibrod wartete draußen.
Der Abt saß am anderen Ende eines langen Eichentischs, auf dem zwei verzierte Kerzenhalter standen, deren flackernde, zischende Talgkerzen ein eigenartiges Licht in dem düsteren Raum verbreiteten. Der Abt wirkte hochgewachsen, wie er da aufrecht in dem geschnitzten Eichensessel saß, die Handflächen auf der Tischplatte, und aus dunklen Augen vor sich hin starrte.
Der Abt hatte ein langes, blasses Gesicht mit scharfen, ausgeprägten Zügen. Die hohe Stirn wurde von langem dunklem Haar umrahmt. Es war ein Gesicht voller energischer Zielstrebigkeit, wie es Eadulf selten bei Geistlichen, häufiger bei Kriegern gesehen hatte. Die Nase war dünn und hatte einen hohen Rücken und seltsam geschwungene Nüstern. In den dunklen Augen spiegelte sich das Licht der flackernden Kerzen und ließ sie rötlich glänzen. Die Wirkung war bedrohlich. Der schmale Mund war fest und grausam.
»Man sagt mir, du seist ein Abgesandter von Theodor, dem neuen Erzbischof von Canterbury, und zugleich erblicher gerefa von Seaxmund’s Ham.«
»Ich bin Eadulf von Seaxmund’s Ham.«
»Das gewährt dir keine besonderen Vorrechte, jedenfalls nicht in meiner Abtei. Anscheinend hast du Bruder Willibrod nicht davon in Kenntnis gesetzt, daß du deinen Rang als gerefa verloren hast, als du das Mönchsgelübde abgelegt hast.«
»Vielleicht hat Bruder Willibrod zuviel vermutet. Ich habe jedenfalls den Ausdruck >ich war< benutzt«, entgegnete Eadulf lebhaft. »Und welche besonderen Vorrechte meinst du? Das verstehe ich nicht.«
»Eine Frau in diese Abtei mitzubringen. Meinen dominus zu überreden, gegen meine wichtigste Regel zu verstoßen. Unser Haus ist Frauen verschlossen.« Der Ton des Abts war scharf.
Eadulf errötete vor Zorn. »Meine Reisegefährtin ist Fidelma von Cashel, die Schwester des Königs von Muman und eine angesehene Anwältin in ihrem Land.«
»Sie ist aber nicht in ihrem Land, und dies ist meine Abtei, in der ich die Regeln bestimme.«
»Wenn du aus dem Fenster schaust, wirst du sehen, daß bei diesem Wetter unmöglich jemand seine Reise noch heute fortsetzen kann«, gab Eadulf zurück.
Der Abt ließ sich nicht beirren.
»Ihr hättet die Reise gar nicht erst antreten sollen, ohne euch zu versichern, ob ihr auch willkommen seid«, erwiderte er ebenso bestimmt.
»Entschuldige. Ich dachte, wer zu einem christlichen Haus kommt, findet auch christliche Nächstenliebe«, antwortete Eadulf spöttisch. »Hier ist mein Land und mein Volk, und der Verwalter dieser Abtei war mein Freund, mit dem ich aufgewachsen bin. Ich hatte nicht erwartet, ein christliches Haus anzutreffen, das eine unbeugsame, mitleidlose und kleinliche Regel aufstellt.«
Der Abt betrachtete ihn mit unveränderter Miene. Er ging nicht auf die Beleidigung ein.
»Du warst längere Zeit im Ausland, habe ich gehört. Du wirst feststellen, daß sich in diesem Land vieles verändert hat. Die Abtei zum Beispiel befolgt nun meine Regel, mutatis mutandis.«
»Es ist geändert, was geändert werden mußte?« machte Eadulf aus dem lateinischen Spruch eine Frage. »Also wurde das Mitleid aus diesem Hause verbannt?«
Der Abt überging den Einwurf. »Für heute nacht werde ich Christi Großzügigkeit walten lassen. Aber morgen nach der Frühmesse werdet ihr, diese Frau und du, die Abtei verlassen. Inzwischen darf sie sich nicht aus dem Zimmer entfernen, das man ihr zugewiesen hat. Du, Bruder Eadulf, darfst dem Gottesdienst in unserer Kapelle beiwohnen.«
Eadulf schluckte empört. »Ich muß dagegen protestieren, daß ...«
»Der Frau wird nicht erlaubt, länger zu bleiben und gegen meine Regel zu verstoßen. Jetzt möchte ich wissen, was dich herführt. Hast du eine Botschaft von Erzbischof Theodor für mich?«
Zähneknirschend bemühte sich Eadulf, seinen Zorn zu beherrschen.
»Nicht für dich. Nein«, erwiderte er mit boshafter Kürze.
Die unbeweglichen Züge des Abts veränderten sich nicht. Doch seine Stimme hob sich erneut.
»Wozu bist du dann hergekommen? Du hast meinen dominus glauben gemacht .«
»Ich habe ihn nichts glauben gemacht. Ich habe ihm nur gesagt, wer ich bin. Ich kam, um meinen Freund, Bruder Botulf, zu besuchen.«
Zum erstenmal weiteten sich die Augen des Abts etwas. »Und weiter nichts?«
»Sollte noch weiter etwas sein?«
Ein kurzes Schweigen trat ein. Eadulf bemerkte, daß an der Schläfe des Abts eine winzige Ader zuckte. Er fragte sich, wie es um die Nerven des Mannes stünde.
»Soll das heißen, daß du eine Botschaft aus Canterbury für meinen Verwalter hattest? Bist du aus dem Grunde hergekommen?«
»Mehr habe ich dir nicht zu sagen«, erwiderte Eadulf, der sich über das Verhör ärgerte.
»Man hat mir berichtet, daß du den Leichnam Bruder Botulfs gesehen hast. Wenn das alles ist, dann hast du deinen Zweck erreicht und kannst morgen abreisen.«
»Meinen Zweck erreicht?« Einen Moment war Eadulf sprachlos. Nur langsam gewann er seine Beherrschung zurück. Dieser Mann war wirklich unerträglich. Seine Stimme nahm nun eine eisige Härte an. »Mein Zweck ist es jetzt, festzustellen, wer meinen Freund ermordet hat, und dafür zu sorgen, daß der Schuldige vor Gericht kommt.«
Abt Cild senkte langsam die Augenlider und hob sie wieder. Das erinnerte Eadulf an einen Falken, der die Augen verhüllt, bevor er zustößt. Ein feines Lächeln schien um die schmalen Lippen zu spielen. Eadulf verglich es mit Mondlicht, das auf einem Grabstein glänzt. Die Stimme des Abts verriet kein Gefühl, nur eine versteckte Drohung lag in ihr. Eadulf erschauerte leicht, und seine Nackenhaare prickelten einen Moment.
»Ich kann dir sagen, daß der Geächtete Aldhere, der im Moor lebt, der Schuldige ist. Morgen mittag werde ich einige unserer Brüder sammeln, ins Moorland reiten und ihn jagen wie einen wilden Hund, der er ja auch ist. Wenn wir ihn fangen, hängen wir ihn. Damit ist dein Zweck erfüllt, und du wirst die Abtei verlassen, wie ich es angeordnet habe. Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt, Eadulf von Seaxmund’s Ham?« Abt Cild erhob sich lässig mit einer einzigen gleitenden Bewegung, die Eadulf an eine Schlange erinnerte, die sich nach einem Sonnenbad aufrollt.
»Wird dieser Aldhere vor Gericht gestellt?« wagte er noch zu fragen und bemühte sich, die Furcht zu unterdrücken, die der Abt anscheinend mühelos in ihm wachrief.
»Vor Gericht? Wozu das? Aldhere ist ein Mörder. Für solche Leute braucht man kein Gericht.«
»Was war sein Motiv, und welche Beweise gibt es?« forschte Eadulf, der sich nicht abweisen lassen wollte.
»Sein Motiv war Diebstahl, und der Beweis liegt darin, daß Aldhere gesehen wurde, wie er die Abtei verließ, kurz nachdem man Botulfs Leichnam entdeckt hatte.«
»Wer sah Aldhere?«
Abt Cild stieß ein verärgertes Zischen aus. »Du strapazierst meine Geduld etwas arg, Eadulf von Seax-mund’s Ham. Geh jetzt. Ich habe die Beisetzung vorzubereiten.«
Er entließ ihn mit einer Handbewegung, und trotz seiner Proteste fand sich Eadulf vor der Tür des Abts wieder, so stark wirkte Cilds Persönlichkeit.
Bruder Willibrod erwartete ihn.
»Ich denke, du wirst an der Beisetzungsfeier teilnehmen?« fragte er.
Eadulf nickte traurig.
»Ist euch klar, daß die Frau keinen Gottesdienst in der Abtei besuchen darf?« fügte der dominus hinzu. »Ich habe strenge Anweisung vom Abt.«
Eadulf war noch voller Zorn über das Gespräch mit Abt Cild und ging nicht auf die Frage ein.
»Welche Beweise liegen gegen diesen Aldhere vor?« wollte er wissen. »Er wurde in der Nähe der Abtei beobachtet, aber was bringt ihn mit dem Tod Botulfs in Verbindung?«
Bruder Willibrod mußte sich erst auf den Wechsel des Themas einstellen, dann zuckte er die Achseln.
»Zweifelst du an Abts Cilds Wort, daß er gesehen wurde?«
»Bisher habe ich nichts gehört, was mich an Abts Cilds Wort glauben oder zweifeln ließe. Ich habe keinen Zweifel daran, daß er Aldhere hängen lassen will. Doch bevor ein Mensch sein Leben verwirkt hat, ist es üblich, Beweise für seine Vergehen zu verlangen. Der Abt erklärt mir, sein Motiv sei Diebstahl gewesen, aber wie ich höre, wurde nichts gestohlen. Jemand soll gesehen haben, wie Aldhere die Abtei verließ, doch niemand sagt mir, wer das war. Vielleicht Bruder Os-red? Der nach deinen Worten den Leichnam Botulfs gefunden hat?«
Bruder Willibrod lächelte düster. »Du warst zu lange im Ausland, Bruder. Du hast vergessen, daß wir hier unter Tieren leben. Du tötest oder du wirst getötet. Wenn jemand das Land oder die Frau eines anderen begehrt und er ist stark, dann nimmt er sich, was er will. Der Schwache ist immer der Verlierer.«
»Der Glaube hat doch unsere heidnischen Sitten gebessert«, wandte Eadulf ein.
»Nur so weit, wie wir es erlaubt haben. Einigen ist es unmöglich, sich zu ändern. Naturam expelles furca tamen usque recurret.«
»Treib die Natur mit der Forke hinaus: Stets kehret sie wieder«, übersetzte Eadulf, um zu beweisen, daß er verstanden hatte.
»Unser Glaube mag sich ändern, aber nicht unsere Sitten.«
»Ihr sollt aber doch Christus nachfolgen.«
»Das können wir nur, wenn wir lange genug auf dieser Erde bleiben. Gesetzlose wie Aldhere wollen nicht, daß die Abtei überlebt. Er ist ein tollwütiger Hund.«
»Also hat der Hund einen schlechten Ruf, und deshalb wird er gehängt? Seine Schuld oder Unschuld spielt dabei keine Rolle?«
»Wenn er dieser Tat nicht schuldig ist, dann irgendeiner anderen. Was gibt es da für einen Unterschied?«
Eadulf war daran gelegen, daß der Mörder seines Freundes gefunden und bestraft und daß gegen jeden Verdächtigen nach dem Gesetz verfahren würde. Er gelobte sich, daß er, falls der Abt wirklich am nächsten Tag eine Verfolgerschar ins Moorland führte, dabei wäre, um dafür zu sorgen, daß der Gerechtigkeit Genüge getan würde. Der Gerechtigkeit, nicht der blindwütigen Rache.
»Und mit solcher Logik gelangen wir ins Paradies?« entgegnete er scharf. »Komm, dominus, ich möchte den sprechen, der anscheinend der einzige Zeuge im Fall des Mordes an Bruder Botulf ist. Die Angelegenheit ist zu ernst für eine Behandlung nach Vorurteil. Eine Fehlentscheidung würde ein schlechtes Licht auf die Abtei werfen und auf jeden, der dazu beigetragen hat, die Gerechtigkeit zu verhindern.«
Bruder Willibrod zögerte einen Moment, dann gab er nach.
»Bruder Wigstan war derjenige, der Aldhere sah. Er wird heute abend bei der Beerdigung sein. Findest du jetzt den Weg zum Gästehaus allein?«
Eadulf nickte, und Bruder Willibrod wandte sich abrupt um und eilte davon.
Als Eadulf zum Gästehaus zurückkehrte, ging er sofort in Fidelmas Zimmer und fand sie mitten in einem Hustenanfall. Er brachte ihr Wasser, und sie schaute ihn aus geröteten Augen an.
»Was gäbe ich für ein gutes irisches Schwitzbad«, murmelte sie. »Eine rauhe Kehle, Niesen und Husten, und alles wegen dieses fürchterlichen Klimas. So kaltes Wetter habe ich noch nirgends erlebt.«
»Das kommt daher, weil das Land so niedrig liegt«, erklärte ihr Eadulf. »Nichts schützt uns vor dem eisigen Nordwind von der See her. Keine Berge halten ihn auf.«
»Und das führt nun dazu, daß ich erkältet bin.«
Eadulf hatte an der großen irischen Hochschule von Tuaim Brecain Medizin studiert und kramte schon in einer seiner Taschen.
»Solange wir ein Feuer haben und folglich Wasser heiß machen können, ist nicht alles verloren.« Er lächelte zuversichtlich. »Ich bereite dir einen Aufguß von Holunderblüten und Geißblatt und rühre etwas Honig hinein, den ich bei mir habe. Bald bist du wieder gesund.«
Während Eadulf die Medizin mischte, berichtete er ihr von seiner Begegnung mit Abt Cild. Fidelma hörte aufmerksam zu und stellte ein paar Fragen, um einige Punkte zu klären.
»Er scheint ganz so zu sein, wie Bruder Willibrod ihn beschrieben hat«, meinte sie am Ende seiner Erzählung.
»Er bringt Schande über den Glauben.«
»Er bringt Schande nur über sich selbst«, antwortete Fidelma. »Ein Mann von so schäbiger Arroganz zieht allein sich selbst Verachtung zu, nicht dem Glauben. Hoffen wir, daß ich morgen früh so weit gesund bin, daß wir abreisen können. Heute abend bleibe ich hier im Zimmer. Es tut mir leid, daß ich am Begräbnis deines Freundes nicht teilnehmen kann, Eadulf.«
Eadulf zuckte die Achseln. Er ersparte es sich, ihr mitzuteilen, daß man sie sowieso nicht in die Kapelle gelassen hätte.
»Du kannst Botulf nicht mehr helfen. Jetzt ist es wichtiger, daß du wieder gesund wirst. Ich habe genug von diesem Aufguß hergestellt, damit du die ganze Nacht davon trinken kannst. Nimm nur kleine Schluk-ke. Denk daran.« Mit einem zerstreuten Lächeln wandte er sich zur Tür.
»Ich werd’s mir merken«, rief ihm Fidelma nach. »Und sei vorsichtig mit deinen Fragen, Eadulf. Die Brüder in diesem Hause sind anscheinend leicht zu verprellen.«
Als Eadulf das Gästehaus verließ, begann in der Ferne eine Glocke zum Angelus zu läuten. Er schritt rascher aus, den dunklen, mit Steinplatten belegten Gang entlang, und versuchte sich an den Weg zur Kapelle zu erinnern. Es war eisig kalt, und durch die Bögen, die sich zum Hof hin öffneten, sah er, daß der Schnee noch immer schräg vom schwarzen Nachthimmel fiel. Durch mehrere überdachte Gänge ge-langte er zu einem kleineren Hof, den ein Kreuzgang umgab. An Eadulfs Seite hing am Ende eine Sturmlaterne, die eine Tür beleuchtete. Eine ähnliche Laterne erblickte er über einer Tür auf der anderen Seite. Im offenen Hof lag der Schnee sehr dicht. Er merkte, daß dies der kleine Hof hinter der Kapelle war, wo man den Leichnam von Bruder Botulf gefunden hatte. Er hielt inne. Eine der Türen mußte in die Krypta führen.
Er stand an einem der Pfeiler und überlegte, wie er am besten zur anderen Seite der Kapelle, wo die Haupttüren waren, gelangen könnte, als er auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes im Schatten des Kreuzganges eine Bewegung bemerkte. Eine schlanke Gestalt in einem langen Mantel trat aus einer dunklen Nische und schritt rasch und leise den Gang entlang. Erstaunt sah er zu. In diese Umgebung schien die Gestalt nicht zu passen. Sie blieb an der Tür mit der Laterne kurz stehen und blickte sich forschend um, ob sie nicht beobachtet würde. Eadulfs Augen weiteten sich.
Das schwache Licht ließ ihn das Gesicht einer jungen Frau erkennen. Selbst über den Hof hinweg empfing Eadulf den Eindruck von zarter Schönheit, blassem Teint - zu blassem? - und blondem Haar. Die Gestalt war nicht wie eine Nonne gekleidet, sondern trug ein feines rotes Kleid und Schmuck aus Silber und glitzernden Edelsteinen.
Dann verschwand sie schnell und lautlos in der Tür.
Eadulf fragte sich, wer die junge Frau wohl war und was sie in einer Abtei tat, die angeblich Männern vor-behalten war, die sich zu einem Leben des Glaubens im Zölibat verpflichtet hatten. Frauen hatten hier doch wohl keinen Zutritt?
Als Eadulf die Kapelle betrat, hatte der Abt bereits mit dem Gedenkgottesdienst für die Seele Bruder Bo-tulfs begonnen. Er sprach schon den Segen, und Eadulf mußte auf seine Fragen verzichten.
»Möge der Segen des Lichts dich begleiten, des äußeren Lichts und des inneren Lichts ...«
Mehr als dreißig Brüder hatten sich in der Kapelle versammelt. Eadulf setzte sich auf eine Bank im Hintergrund; er wollte nicht auffallen.
Er blickte sich um. Die meisten Mönche waren jung und anscheinend kräftig gebaut. Einige hatten harte Gesichter und schienen eher in einer Schlachtordnung am Platze, mehr an den Umgang mit Schwert und Schild gewohnt als an den mit Kruzifix und Weihwasser.
Auf die Gebete folgte ein Lied. Eadulf kannte es nicht und sang deshalb nicht mit.
Abt Cild ging nach vorn und setzte gerade zu einer Lobrede an, als die beiden großen hölzernen Türen der Kapelle krachend aufflogen.
Wie alle Brüder fuhr Eadulf überrascht herum.
Ein hochgewachsener Mann stand breitbeinig im Türrahmen mit einem blanken Schwert in der Hand und seinem Schild verteidigungsbereit am anderen Arm. Daß er ein Krieger war, war nicht zu verkennen, aber welcher Art von Krieger oder wer, das war nicht so leicht festzustellen. Er trug einen glänzenden Helm mit Kopf und Schwingen einer Gans als Helmzier. Der Schnabel der Gans war warnend geöffnet, der Hals flach gebogen, und die Schwingen waren an beiden Seiten des Helms nach hinten gelegt. Es war ein furchterregendes Bild. Eadulf erinnerte sich dunkel, daß bei manchen Völkern die Gans ein Symbol der Schlacht darstellte. Dies schien hier auch der Fall zu sein, denn das Visier des Helms war geschlossen, und nur die hellen Augen des Kriegers funkelten im Kerzenschein der Kapelle mit drohender Feindseligkeit.
Ein langer schwarzer Pelzmantel hüllte ihn ein, doch darunter sah Eadulf einen Brustharnisch schimmern. Der Arm mit dem dräuenden Schwert war muskulös. Lange Sekunden hindurch herrschte absolute Stille in der Kapelle. Dann sprach der Mann, und seine Stimme dröhnte durch das ganze Gebäude. Sein Sächsisch klang schwerfällig und hatte einen fremden Akzent.
»Erkenne mich, Cild, Abt von Aldreds Abtei. Sieh mich an und erkenne mich.«