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Als Eadulf das Zimmer des Abts verließ, kam ihm auf dem Korridor ein hochgewachsener blonder Mönch entgegen. Er hatte ein angenehmes Gesicht, mochte etwa dreißig Jahre alt sein, und sein flachsgelbes Haar hing in krausen Locken von seiner corona spina herab, der Tonsur des heiligen Petrus. Er besaß einen hellen Teint, leuchtende Augen und ein freundliches Lächeln. Seine aufrechte Haltung verriet einen Stolz, wie er sich für einen Mönch kaum ziemte.
»Guten Morgen, Bruder«, sagte er fröhlich und blieb vor Eadulf stehen. »Ich nehme an, du bist Bruder Eadulf, der Gefährte von Schwester Fidelma?«
Eadulf verneigte sich leicht. »Du kennst mich, Bruder, doch ich kenne dich nicht.«
»Ich bin der Apotheker der Abtei. Mein Name ist Higbald.«
Eadulfs Spannung wich, und er erwiderte das Lächeln. »Hast du Schwester Fidelma schon untersucht?«
»Ja. Sie hat Fieber, weil sie zu sehr der harten Witterung ausgesetzt war. Du hast ihr schon alle nötigen Arzneien verordnet. Mehr könnte ich auch nicht für sie tun. Die Schwester erzählte mir, du seist an einer der medizinischen Hochschulen in Eireann ausgebildet worden? Die genießen einen guten Ruf.«
»Ich habe in Tuaim Brecain studiert«, bestätigte Eadulf. »Aber sag mir, was du uns empfiehlst, Bruder Higbald. Abt Cild möchte, daß wir die Abtei sofort verlassen.«
Bruder Higbald lachte freundlich. »Bei diesem unwirtlichen Wetter? Der Schneefall hat zwar aufgehört, und die Sonne steht hoch am Himmel, aber die Luft ist eisig. Es ist so kalt, daß jeder mittelgroße Teich zufriert. Das ist kein Reisewetter. In ihrem Zustand wäre das sehr unklug. Das werde ich dem Abt auch sagen.«
Eadulf seufzte erleichtert. »Vielen Dank, Bruder Higbald. Ich fürchte, Abts Cilds Gastfreundschaft gegenüber Fidelma läßt sehr zu wünschen übrig.«
Bruder Higbald schaute ihn mitfühlend an und nahm seinen Arm.
»Gehen wir ein paar Schritte, Bruder Eadulf.«
Er führte Eadulf den Korridor entlang und hinaus auf einen überdachten Gang an der Seite des Mittelhofes, des Haupthofes, um den sich die Gebäude der Abtei gruppierten. Es hatte aufgehört zu schneien, wie Bruder Higbald gesagt hatte, doch die Luft war kalt, und der Schnee lag hoch. Es war trockener, feiner Schnee, den die Windstöße umherwirbelten.
Bruder Higbald schlug einen vertraulichen Ton an.
»Ich werde natürlich dafür sorgen, daß dem Abt die Situation klar wird. Aber verurteile ihn nicht wegen seiner starren Haltung. Er hat viel durchgemacht. Es ist eben seine Art, sich zu schützen.«
»Ich verstehe, daß es ihm nicht gut geht«, gab Eadulf zu. »Ich war gestern abend in der Kapelle dabei.«
Bruder Higbald verzog das Gesicht. »Ach, du meinst den ziemlich dramatischen Auftritt des irischen Kriegers? Dem liegen anscheinend imponierende Gesten.«
»Du kennst ihn also?«
»Kennen ist vielleicht zuviel gesagt. Ich habe ihn gerade zweimal gesehen.«
»Und wann war das?«
»Das erstemal, als er in die Abtei kam, um mit Abt Cild zu sprechen. Das zweitemal gestern abend. Beide Male verlief sein Erscheinen dramatisch.«
»Dramatisch? Wann kam er denn das erstemal in die Abtei?«
»Du bist neugierig, Bruder Eadulf.« Bruder Hig-balds Miene verriet Mißtrauen, aber auch Belustigung.
»Das bin ich von Natur aus«, erklärte Eadulf. »Ich war erblicher gerefa in Seaxmund’s Ham, bevor ich für den Glauben auf Reisen ging.«
Bruder Higbalds Lächeln wurde noch breiter.
»Was, ein gerefa? Ein juristischer und ein medizinischer Verstand, und beide im Dienste des Glaubens. Eine außerordentliche Verbindung, Bruder. Also dieser Krieger Garb erschien vor neun Tagen in der Abtei. Ich war gerade beim Abt, als er auf eine ähnlich dramatische Weise zur Tür hereinkam. Unter Bewachung eines seiner Krieger wurde ich aus dem Zimmer geleitet. Ich weiß nicht, was zwischen ihm und dem Abt gesprochen wurde. Jedenfalls ging Garb im Zorn weg. Abt Cild war mehrere Tage lang verstört. Von dem Tag an, glaube ich, wechselten seine Launen noch stärker.«
Eadulf betrachtete Bruder Higbald mit einigem Zweifel. »Willst du damit sagen, daß der Abt ein ganz anderer Mensch war, bevor Garb zum erstenmal hier auftauchte?«
Bruder Higbald lachte in sich hinein. »Wenn du meinst, daß er vorher heiter und gutmütig und leichtlebig war, dann muß ich dich enttäuschen, das war er absolut nicht. Solche Gaben wie Güte und Humor hat die Natur unserem Abt nicht verliehen. Seine Stimmung schwankte immer extrem - so wie du es auch jetzt an ihm beobachten kannst. Ich würde sagen, seitdem hat er Angst bekommen. Soviel ich weiß, war er stets mißtrauisch und unberechenbar im Umgang mit Menschen.«
»Garbs Mordanklage ist eine sehr schwere Beschuldigung«, erwiderte Eadulf.
»Zugegeben, aber wie kann hier eine solche Anklage nach einem fremden Gesetz erhoben werden?«
»Nach unserem Recht geht das nicht«, gab Eadulf zu. »Nach dem Gesetz der Brehons ist es möglich, weil Cild in Connacht unter diesem Gesetz geheiratet hat. Folglich ist es, wie ich gehört habe, ein ernster Fall.«
»Das Schicksal hat dem Abt einen grausamen Schlag versetzt.«
»Grausam?« fragte Eadulf überrascht. »In welcher Hinsicht?«
»Mit Bruder Botulfs Tod. Wäre er noch am Leben, könnte er Abt Cild gegen diese Anschuldigungen verteidigen.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ich weiß nur, daß Bruder Botulf die ganze Geschichte von der Ehefrau des Abts kannte und ihren Tod miterlebte.«
»Wann ist sie gestorben?« Eadulf verbarg seine Enttäuschung darüber, daß seine Theorie, Cild halte seine Frau vor der Welt versteckt, so schnell geplatzt war.
Bruder Higbald schüttelte den Kopf. »Ich sollte nicht über den Abt tratschen.«
»Ich erwarte nicht von dir, daß du tratschst«, erwiderte Eadulf rasch. »Ich wollte nur eine Antwort auf eine Frage. Ein Datum oder eine Zeit.«
»Gelgeis muß schon ein paar Monate vor meinem Eintritt in diese Gemeinschaft gestorben sein. Als ich gegen Ende des Sommers herkam, hatte Cild die Abtei bereits als eine Bruderschaft von Mönchen eingerichtet, in der keine Frau unsere Meditationen stören durfte. Aber es gibt hier noch ein paar Mönche, die sie kannten. Der arme Bruder Botulf natürlich und Bruder Willibrod. Ach ja, der junge Redwald auch. Nach dem, was ich hörte, war Gelgeis nicht sehr beliebt.«
»War die Hinwendung des Abts zum Zölibat einfach eine Reaktion auf den Tod seiner Frau?«
»Wer weiß schon, was die Menschen zu ihren Taten treibt?« meinte Bruder Higbald achselzuckend. »Leid kann manches auslösen.«
»Ist es sicher, daß die Frau des Abts tot ist?« fragte Eadulf aus einer plötzlichen Eingebung heraus.
»Natürlich. Was veranlaßt dich zu solch einer Frage?« Der Apotheker schien belustigt.
»Ich überlegte, wer wohl die Dame sein könnte, die gegenwärtig als Gast in der Abtei weilt?«
Bruder Higbalds Miene verriet leichte Verwirrung. »Ich nehme an, du meinst nicht deine Gefährtin ...?«
»Nein, ich meine eine schlanke, blonde, reich gekleidete Dame, die ich gestern abend im Kreuzgang nahe der Kapelle gesehen habe.«
Der Apotheker wurde ernst. »Wahrhaftig, Bruder, soviel ich weiß, gibt es keine Frau in der Abtei außer deiner Gefährtin.«
»Ich habe sie aber gesehen«, wiederholte Eadulf fest.
»Und du würdest sie wiedererkennen?« fragte Bruder Higbald rasch.
Eadulf zögerte und zuckte die Achseln. »Ich bin mir nicht sicher.«
»Würde es uns nicht bekannt sein, wenn es hier eine Frau gäbe?«
Eadulf entschied sich, die Sache nicht weiter zu verfolgen.
»Weiß jemand, wie Abt Cilds Frau ums Leben kam?« fragte er. »Könnte Garbs Anschuldigung auf Wahrheit beruhen? Abt Cild verhält sich so, als habe er etwas zu verheimlichen.«
Bruder Higbald schüttelte rasch den Kopf. »Um ihren Tod gibt es kein Geheimnis. Sie geriet ins Moor und versank darin. Mein Freund, auch wenn du mal gerefa warst, würde ich dir raten, daß du, sobald deine Gefährtin sich erholt hat, weiterreist und keine Fragen mehr stellst. Es wäre unklug, sich auf die Seite Garbs zu stellen und nach einem Geheimnis zu forschen, wo es keins gibt. Wenn Abt Cild sich gegenüber Garb nicht verantworten will, ist das schließlich seine Sache, oder nicht?«
Eadulf erwiderte den festen, immer noch leicht belustigten Blick des Apothekers. Doch in dessen Lächeln lag ein seltsamer Ernst.
»Ein Geheimnis gibt es hier doch, Bruder Hig-bald.« Eadulf ließ sich nicht beirren. »Botulf war mein Jugendfreund. Ich werde nicht ruhen, bis ich herausgefunden habe, wer ihn getötet hat. Ich lasse nicht gern ungelöste Fragen hinter mir zurück. Und Drohungen beeindrucken mich auch dann nicht, wenn sie sehr diplomatisch formuliert sind.«
Der Apotheker seufzte ergeben. »Es sollte sich nicht wie eine Drohung anhören. Mich geht es nichts an. Ich wollte dir nur zu verstehen geben, daß Abt Cild ein launenhafter Mensch ist. Er sagt, Botulfs Mörder sei .«
»Ich weiß, was Abt Cild sagt. Ein Geächteter? Ein Dieb aus dem Moorland? Nur, weil Bruder Wigstan behauptet, er habe einen Geächteten namens Aldhere in der Nähe der Abtei gesehen, kurz nachdem die Leiche Botulfs entdeckt wurde? Übrigens, als Apotheker hast du doch wohl den Leichnam Botulfs untersucht, nachdem man ihn aufgefunden hatte?«
»Ja. Ich war in der Kapelle und wurde geholt. Der Leichnam lag im Hof gleich daneben. Es war offensichtlich, daß Botulf mehrmals mit einer Streitaxt am Kopf getroffen wurde.«
»Mit einer Streitaxt? Wie kommst du darauf?«
»Ich habe genug Verwundungen auf dem Schlachtfeld gesehen, um den Typ von Verletzung zu erkennen, den eine solche Waffe verursacht.«
»Und zu welchem Schluß kamst du?«
»Daß er erschlagen wurde.«
»Doch welchen Grund hat Garb, den Abt zu beschuldigen, die Tat käme ihm sehr gelegen? Wenn Bo-tulf den Tod Gelgeis’ zu bezeugen vermochte, kann man daraus folgern, daß er getötet wurde, weil er etwas wußte?«
Bruder Higbald zuckte die Achseln. »Es steht mir nicht zu, dazu etwas zu sagen, Bruder. Ich möchte dir nur nahelegen, dich hier nicht unnötig lange aufzuhalten. Ich werde dem Abt berichten, daß die Schwester noch einige Zeit braucht, um sich von dem Fieber zu erholen, doch danach .«
Er zog eine Schulter hoch und ließ sie wie verabschiedend wieder sinken.
Eadulf schaute ihm gedankenvoll nach, als er wegging. Dann wandte er sich dem Gästehaus zu und suchte Fidelma auf.
»Wie ich höre, dürfen wir hierbleiben, bis ich wieder reisefähig bin«, begrüßte sie ihn zwischen Hustenanfällen. »Du hast deine Bitte beim Abt anscheinend sehr diplomatisch vorgebracht.«
Eadulf grinste breit. »Diplomatisch? Na, nicht unbedingt. Abt Cild besitzt ein sehr eigenartiges Temperament.«
»Hast du mehr über das troscud in Erfahrung bringen können?« Fidelma unterbrach sich und deutete auf den Seitentisch. »Gib mir noch etwas von deiner scheußlichen Brühe, Eadulf. Sie schmeckt furchtbar, aber ich glaube, sie lindert wirklich die Entzündung in Hals und Brust.«
Eadulf reichte ihr den Becher.
»Ich habe es versucht«, antwortete er. »Ich meine, hier lauert ein größeres Geheimnis, als man auf den ersten Blick erkennt.«
So ausführlich wie möglich gab er seine Gespräche mit dem Abt und mit Bruder Higbald wieder.
»Ich wüßte nicht, daß du diese fremde Frau schon einmal erwähnt hättest«, bemerkte Fidelma stirnrunzelnd. »Aber wenn eine Frau im Kloster ist, warum leugnen sie es?«
Eadulf zuckte die Achseln. »Zunächst hielt ich das nicht für wichtig. Erst als Abt Cild mich darüber belehrte, daß Frauen in seiner Abtei nichts zu suchen hätten, habe ich ihm das vorgehalten.«
»Und du sagst, es war keine Nonne?«
»Nein. Sie war gut gekleidet und offensichtlich jemand von Rang und Wohlstand, aber jedenfalls keine Angehörige der Abtei.«
»Wie kamst du darauf, daß sie die Frau des Abts sein könnte?«
»Das war nur so eine Idee von mir. Es würde seine Reaktion auf Garbs Anschuldigungen erklären.«
»Diese Beweisführung hat mehrere Schwachpunkte, Eadulf. Ist sie noch am Leben, warum sagt er das dann Garb und seinem Vater nicht und verhindert damit die öffentliche Anklage gegen sich? Du sagst, Bruder Hig-bald leugnete die Existenz dieser Frau in der Abtei?«
»Das tat er, aber man muß ihm nicht notwendigerweise Glauben schenken.«
»Kann auch sein, daß er und die anderen Mitglieder der Gemeinschaft einfach nichts von ihrer Anwesenheit wissen. Möglicherweise kommt und geht sie heimlich.«
»Vielleicht eine Geliebte?«
»Du weißt nicht genug für solche voreiligen Vermutungen, Eadulf.« Fidelma seufzte. »Und jetzt muß ich eine Weile ruhen. Stell mehr Fragen und zieh weniger Schlußfolgerungen.« Sie nahm noch einen Schluck von dem Kräutertrank und rollte sich auf die Seite.
Eadulf ging leise hinaus.
Draußen traf er Bruder Willibrod. Er stand mit einem anderen Mönch zusammen, einem breitschultrigen jungen Mann. Der dominus sah weniger besorgt aus als zuvor und begrüßte Eadulf.
»Wie ich höre, ist alles in Ordnung. Es ist nicht die Gelbe Pest, sondern ein Fieberanfall. Abt Cild hat mir gesagt, daß ihr noch ein paar Tage bleiben könnt, bis Schwester Fidelma sich erholt hat. Kann man etwas zu ihrer Genesung tun?«
Eadulf schüttelte den Kopf. »Sie braucht Ruhe und Wärme, und vielleicht kann ihr jemand zum Mittag eine klare Brühe bringen?«
»Das soll geschehen. Ich werde Bruder Redwald damit beauftragen. Übrigens, dies ist Bruder Wigstan. Du wolltest ihn sprechen.«
Eadulf schaute den jungen Mann an. »Ich hörte, du hättest diesen Geächteten, diesen Aldhere gesehen?«
Bruder Wigstan nickte langsam. »Ich kehrte gestern am frühen Morgen in die Abtei zurück. Ich beeilte mich, um zum Gesang des Morgengebets zurechtzukommen ...«
»Wo warst du gewesen?« unterbrach ihn Eadulf.
»Ich kam von der Küste zurück und brachte Fisch in die Abtei. Als ich mit meinem Karren auf der nahen Straße fuhr, sah ich jemand wegreiten. Ich könnte schwören, daß es Aldhere war.«
Eadulf runzelte leicht die Stirn. »Sehr sicher klingst du nicht.«
»Ich bin mir sicher. Es war bei dem kleinen Gehölz seitlich von der Abtei, da habe ich ihn gesehen.«
»Da du ihn erkannt hast, mußt du ihm früher schon begegnet sein?«
»Ich bin auf meinen Fahrten zur Küste schon zweimal von ihm beraubt worden«, erklärte Bruder Wigstan verbittert. »Ich kenne ihn.«
»Und jedes Mal ließ er dich unversehrt ziehen? Anscheinend ist er nicht so ein verkommener Schurke, wie man ihn mir beschrieben hat.«
»Ist das alles, Bruder?«
Eadulf nickte zerstreut.
Als Bruder Wigstan gegangen war, wandte er sich an Bruder Willibrod.
»Und auf solch eine Beobachtung hin soll ein Mensch getötet werden?« fragte er zweifelnd. »Das ist doch wohl kaum ein Beweis. Ich habe noch eine Bitte an dich.«
»Nämlich?« fragte der dominus vorsichtig.
»Ich sagte dir schon, daß ich ein guter Freund von Bruder Botulf war. Ich würde gern seine persönlichen Habseligkeiten sehen.«
»Die Brüder in Christo besitzen keine persönlichen Habseligkeiten«, korrigierte ihn Bruder Willibrod schroff. »Kennst du nicht die Regeln der Didache?«
Die Didache oder »Die Lehre der zwölf Apostel« war ein Buch über die Ordnung der Kirche und des kirchlichen Lebens, das man der frühesten christlichen Gemeinschaft zuschrieb. Eadulf hatte es nie gelesen oder bewußt seine Regeln befolgt. Er schüttelte den Kopf.
»Die Didache sagt«, zitierte der dominus mit sonorer Stimme: »>Teile alles mit deinem Bruder. Sage nie: Das ist persönliches Eigentum. Wenn du am Unvergänglichen teilhast, solltest du um so eher bereit sein, vergängliche Dinge zu teilen.««
»Ich habe diese Lehre schon von anderen Kirchenvätern gehört«, gestand Eadulf. »Soll das die Regel sein, die ihr hier befolgt?«
»Wir geben uns Mühe, uns an die wahren Regeln des Glaubens zu halten«, erwiderte Bruder Willibrod steif.
»Dennoch würde ich gern einen Blick in die Zelle meines guten Freundes werfen.«
»Ich weiß nicht, ob sie schon freigegeben ist.«
»Darf ich darum bitten?«
Bruder Willibrod zuckte plötzlich die Achseln, als sei es ihm gleich. »Na gut. Ein Moment der Besinnung ist zulässig. Komm mit.« Er drehte sich um und ging voran durch die Abtei, an dem Schlafsaal und dem Speisesaal vorbei. »Als Verwalter der Abtei hatte Bruder Botulf sein Zimmer hier«, erklärte er, wies auf eine Tür und trat beiseite.
Bruder Eadulf betrat den kleinen Raum.
Drinnen befand sich kaum etwas. Eine Kutte und ein Mantel hingen noch an den Holzpflöcken an der Wand, ebenso eine Buchtasche. Darunter sah Eadulf ein Paar abgetragener Sandalen auf dem Boden. Das Bett bestand aus einer einzigen Strohmatratze auf einem Holzgestell, und darauf lagen mehrere sauber gefaltete Decken. Auf dem kleinen Tisch waren eine Kerze und eine Zunderbüchse. Dann gab es noch einen Becher, einen Krug und einen Waschzuber.
»Wie du siehst, Bruder Eadulf«, bemerkte der dominus von der Tür her, »Bruder Botulf besaß so gut wie nichts.«
Eadulf nickte. »Ich finde das traurig. Ein Leben ist vorüber, und nichts ist geblieben als die Erinnerungen der paar Menschen, die ihn kannten. Die Erinnerungen verlöschen bald, und alles ist verflogen wie Rauch im Wind.«
»Besitztümer sind ein Ärgernis, sie führen die Menschen in Versuchung«, erwiderte Bruder Willibrod steinern. »Hat nicht der heilige Basil der Große erklärt, daß Eigentum Diebstahl sei? Wir Glaubensmänner müssen alle persönlichen Sachen abschaffen. Im Glauben sind wir alle gleich.«
Eadulf seufzte resigniert. »Ich meine, es war Aristoteles, der sagte, es seien nicht die Besitztümer, sondern die Wünsche der Menschen, die gleichgemacht werden müßten.«
Er wandte sich der Tasche zu, die an der Wand hing. Darin befand sich ein kleines Buch mit Bibelzitaten in lateinischer Sprache. Als Eadulf es herausnahm, erblickte er ein zusammengeknülltes Stück Papier am Boden der Tasche. Er zog es so heimlich hervor, daß Bruder Willibrod nicht bemerkte, wie er es im Ärmel seiner Kutte verschwinden ließ.
»Ich muß dieses Buch ins scriptorium zurückbringen«, sagte Bruder Willibrod und streckte die Hand danach aus.
»War es nicht Botulfs Buch?« fragte Eadulf.
»Hier ist alles gemeinsames Eigentum«, erwiderte Bruder Willibrod.
Eadulf sah zu, wie der dominus das Buch wieder in die Tasche steckte und diese vom Pflock nahm. Eadulf benutzte die Gelegenheit, das Stück Papier in den kleinen sacculus zu tun, den er am Gürtel trug. Bruder Willibrod wandte sich wieder zu ihm um.
»Hast du genug gesehen?«
Eadulf neigte zustimmend den Kopf. Als sie über den Haupthof zurückgingen, fragte er: »Sag mir, Bruder Willibrod, als dominus der Abtei kennst du doch jeden, der hier kommt und geht, nicht wahr?«
Bruder Willibrod sah ihn neugierig an. »Wie meinst du das?«
»Ich meine, du kennst hier doch auch alle Besucher?«
»Wenn du mich wegen der Eindringlinge von gestern abend fragst, so habe ich dir doch schon erklärt, daß die fremden Krieger über die Mauern geklettert sind und ...«
»Danach frage ich nicht. Ich möchte wissen, wer die Frau ist, die gestern abend in der Abtei war. Und damit meine ich nicht meine Gefährtin.«
Bruder Willibrod blickte ihn mit empörter Miene an.
»Bist du verrückt? Eine Frau hier in der Abtei? Unmöglich!«
»Nicht unmöglich. Ich sah sie in dem Hof neben der Kapelle. Eine schlanke Frau, blond, in einem roten Kleid und mit Juwelen geschmückt.«
Bruder Willibrod trat einen großen Schritt zurück. Verblüffung huschte über sein Gesicht. Dann erstarrte es zu einer Maske.
»Es gab keine solche Frau in der Abtei, weder gestern abend noch sonst irgendwann.« Er drehte sich um und ging so schnell weg, daß Eadulf ihm nur überrascht nachschauen konnte.
Während er noch dastand, kam der junge Bruder Redwald mit zwei Eimern Wasser für die Gästezimmer um die Ecke.
»Guten Morgen, Bruder Eadulf«, grüßte er unsicher. »Kann ich irgend etwas für dich oder für Schwester Fidelma tun?«
»Vielen Dank«, antwortete Eadulf düster. »Ich glaube, alles Nötige wird schon getan.« Er wollte bereits weitergehen, da fiel ihm etwas ein, und er fuhr fort: »Du könntest mir sagen, wo ich Bruder Osred finde. Ich wollte gestern abend mit ihm sprechen, bekam aber keine Gelegenheit dazu.«
»Bruder Osred? Der Schmied?« Bruder Redwald kniff nachdenklich die Lippen zusammen. »Ich glaube, der ist mit den andern fort.«
Eadulf runzelte die Stirn. »Fort mit den andern? Was soll das heißen?«
»Vor kurzer Zeit hat Abt Cild eine kleine Schar von Brüdern hinausgeführt. Sie wollen ins Moorland und den Geächteten Aldhere aufspüren.«
»Was?« Eadulf fiel ein, daß er sich gelobt hatte, Cild zu begleiten, um dafür zu sorgen, daß so etwas wie Gerechtigkeit geübt würde, falls der Abt den Geächteten ergreifen sollte. Im nächsten Augenblick rannte Eadulf hinter Bruder Willibrod her.