177827.fb2 Vor dem Tod sind alle gleich - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 11

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Kapitel 9

Fidelma bewegte sich in ihrem unruhigen Schlaf.

Sie träumte. Im Traum sah sie den Leichnam des Mönchs am Ende des straffen Seils am hölzernen Galgen pendeln. Dahinter stand eine Gruppe von kapuzentragenden Gestalten, die den Toten auslachten und verhöhnten. Sie versuchte mit ausgestreckten Händen die hängende Gestalt zu erreichen, doch etwas drückte sie zurück. Hände hielten sie fest. Sie wollte sehen, wer es war, und drehte sich um. Hinter ihr erschien das Gesicht ihres alten Mentors und Lehrers, des Bre-hons Morann.

»Warum?« schrie sie ihn an. »Warum?«

»Das Auge verbirgt, was es nicht sehen will«, lächelte der Alte rätselvoll.

Sie wandte sich ab und wieder der hängenden männlichen Gestalt zu.

Es gab ein krachendes Geräusch. Zuerst glaubte sie, der Galgen breche zusammen, das Holz berste und splittere.

Dann merkte sie, daß sie wach geworden war und der krachende Lärm tatsächlich vor ihrem Zimmer entstand. Schwere Schritte polterten die Treppe des Gasthauses zum Gelben Berg hinauf. Sie hatte kaum Zeit, sich im Bett aufzurichten, als die Tür schon ohne weiteres aufgerissen wurde.

Bischof Forbassach stürmte herein, eine Laterne in der Hand. Hinter ihm drängten sich ein halbes Dutzend Männer mit gezogenen Schwertern, darunter eine bekannte, mächtige Gestalt. Es war Bruder Cett.

Bevor sie noch ganz bei Sinnen war, begann Bischof Forbassach mit hochgehaltener Laterne ihr kleines Zimmer abzusuchen, kniete sich hin und spähte unter das Bett.

Einer der Männer drückte ihr wortlos drohend die Schwertspitze auf die Schulter.

Fidelma war entsetzt und verwirrt, dann starrte sie mit wachsender Empörung die Männer an.

»Was soll das heißen?« fragte sie.

Plötzlich gab es ein Handgemenge vor der Tür. Einige Männer kamen ihren Kameraden draußen zu Hilfe, dann wurden Dego und Enda, die Arme auf den Rücken gedreht, hereingeschleppt. Sie waren anscheinend bei dem Lärm mit gezogenen Schwertern herbeigeeilt und von der Übermacht überwältigt worden. Nun standen sie, zwangsweise vornübergebeugt, zwischen Forbassachs Männern.

»Was hat dieser frevelhafte Überfall zu bedeuten, Forbassach?« fragte Fidelma kalt, ihr eisiger Ton verdeckte ihre kochende Empörung. Sie ignorierte die drohende Schwertspitze an ihrer Brust. »Hast du völlig den Verstand verloren?«

Der Bischof hatte in alle Ecken geschaut, nun wandte er sich ihr zu, die Laterne immer noch in der Hand. Sein Gesicht war eine Maske offener Feindseligkeit.

»Wo ist er?« knurrte er.

Fidelma starrte ihn mit gleichem Abscheu an.

»Wo ist wer? Du wirst dieses unbegründete Eindringen sehr genau zu erklären haben, Brehon von Laigin. Weißt du, was du tust? Du brichst alle Gesetze des ...«

»Halt den Mund, Frau!« brummte der Mann mit dem Schwert an ihrer Brust und unterstrich den Befehl mit einem leichten Zustoßen.

Fidelma spürte den Einstich. Sie sah den Krieger nicht an, sondern hielt den Blick auf Forbassach gerichtet.

»Sag deinem Raufbold, wer ich bin, Forbassach, und denke du auch daran. Wenn das Blut der Schwester des Königs Colgü fließt, die außerdem noch dalaigh bei Gericht ist, dann bedeutet das Blut um Blut. Du kennst das Gesetz. Es gibt einige Dinge, die durch nichts zu entschuldigen sind. Du hast die Grenzen meiner Geduld überschritten.«

Bischof Forbassach stutzte bei der eisigen Wut in ihrer Stimme. Er hatte Mühe, sein eigenes Temperament zu zügeln, und brauchte eine ganze Weile dazu.

»Du kannst dein Schwert einstecken«, sagte er gepreßt zu dem Mann. Dann wandte er sich wieder an Fidelma. »Ich frage dich noch einmal, wo ist er?«

Fidelma betrachtete die einschüchternde Gestalt des Brehons von Laigin mit kühler Neugier.

»Und ich frage dich noch einmal, wen meinst du damit?«

»Du weißt ganz genau, daß ich den Angelsachsen meine.«

Überrascht erfaßte Fidelma, was sich hinter dieser Frage verbarg, zwang sich aber dazu, ihre Gefühle nicht zu zeigen.

Bischof Forbassach verzog ärgerlich das Gesicht.

»Tu doch nicht so, als wüßtest du nicht, daß Bruder Eadulf entkommen ist.«

Fidelmas Blick wich seinem nicht aus.

»Ich tue nicht so. Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«

Der Bischof drehte sich zu seinem kleinen Heer um.

»Ihr bleibt hier«, befahl er denen, die Fidelmas Gefährten im Griff hatten. »Haltet die beiden fest. Ihr anderen durchsucht dieses Gasthaus, und zwar gründlich, auch die Nebengebäude. Seht nach, ob Pferde fehlen.«

Fidelma sah, daß Lassar mit verstörtem Gesicht hinter den Männern auftauchte. Sie hätte sie gern beruhigt. Doch ihr eigenes Herz schlug schneller. Sie durfte nicht zulassen, daß Forbassach die Lage beherrschte.

Da erhob sich eine dünne, jammernde Männerstimme über dem Wirrwarr.

»Was soll’n der Lärm? Dis is’n Gasthaus, un ich hab für ‘n gutes Bett un ‘nen ruhigen Schlaf bezahlt.«

Ein kleiner Mann schob sich durch die Menge an der Tür. Er war offensichtlich aus trunkenem Schlaf gerissen worden, sein Haar war zerzaust, ein rasch umgenommener Mantel deckte seine Blöße.

Verärgert über die Unterbrechung, wandte sich Bischof Forbassach um.

»Was hier passiert, geht dich nichts an, Gabran. Scher dich dahin, wo du hingehörst!«

Der kleine Mann trat noch einen Schritt vor und baute sich auf wie ein Terrier vor einem Jagdhund. Kurzsichtig blinzelte er den Bischof an und erkannte ihn. Verwirrt und Entschuldigungen murmelnd, zog er sich zurück.

»Du behauptest also, der Angelsachse wäre nicht hier?« fragte Forbassach nun Fidelma.

Fidelmas Augen glänzten vor Freude.

»Ich behaupte gar nichts; ich sage dir, daß er nicht hier ist. Anscheinend ist er entkommen?«

Bischof Forbassach beantwortete ihre Frage mit einem Hohnlächeln. »Als ob du das nicht wüßtest.«

»Ich weiß es nicht.«

»Er ist nicht in seiner Zelle in der Abtei. Er ist entkommen, und Bruder Cett wurde von den Leuten bewußtlos geschlagen, die ihm bei seiner Flucht halfen.«

Fidelma atmete tief durch, als er ihre Schlußfolgerung bestätigte. Es war ein Atemzug voll Hoffnung. Sie warf Forbassach einen scharfen Blick zu.

»Beschuldigst du mich, ihm bei seinem Entkommen geholfen zu haben? Ich bin eine dalaigh und habe mich an die Gesetze der fünf Königreiche zu halten. Ich wußte nichts von alledem, bis du es mir eben ge-sagt hast. Warum brichst du mitten in der Nacht gewaltsam in mein Zimmer ein und bedrohst mich und meine Gefährten?«

»Aus naheliegenden Gründen. Der Angelsachse hat keinen Versuch gemacht zu fliehen, bis du herkamst, und es war klar, daß er nicht aus eigener Kraft entkommen konnte.«

»Auf meinen Eid als dalaigh, Forbassach, ich bin an dieser Angelegenheit nicht beteiligt. Das hättest du auch von mir erfahren können, ohne so dramatisch einzudringen und überflüssige Gewalt anzuwenden. Im übrigen brauchst du diese Gewalt auch nicht weiter gegen meine Gefährten auszuüben.«

Bischof Forbassach drehte sich zu seinen Leuten um, die Dego und Enda noch immer schmerzhaft vorgebeugt hielten.

»Laßt sie los«, befahl er widerwillig.

Die Männer lösten ihren Griff, und die Krieger aus Cashel richteten sich auf. Forbassach gab ihnen einen Moment, um Atem zu schöpfen.

»Nun, wenn ich deinem Wort glauben soll, daß du die Hand nicht im Spiel hattest, vielleicht haben dann deine Männer an deiner Stelle gehandelt. Los, rede!« Er wies auf Dego.

Die Augen des Kriegers zogen sich zusammen, und er hätte wohl den hochmütigen Brehon angegriffen, wenn nicht der muskulöse Bruder Cett daneben gestanden hätte.

»Ich weiß nichts von dieser Flucht, Brehon von Laigin«, antwortete er in gemessenem Ton, in dem aber nichts von der üblichen Achtung vor dem Rang eines Brehons zu spüren war.

In Bischof Forbassachs Gesicht spiegelte sich sein Zorn.

»Und du?« fuhr er Enda an.

»Ich befand mich im Bett, bis deine Raufbolde mich aus dem Schlaf rissen, als sie die Schwester meines Königs überfielen«, erwiderte er trotzig. »Ich kam ihr zu Hilfe. Für die Folgen dieses Überfalls wirst du später noch einstehen müssen.«

»Vielleicht können wir dich dazu bringen, dein Gedächtnis noch einmal zu überprüfen«, erklärte der Bischof mit einem unangenehmen Lächeln.

»Das ist ein Verbrechen, Forbassach!« rief Fidelma, entsetzt über diese Andeutung. »Du wirst dich nicht an meinen Männern vergreifen. Denke daran, es sind erprobte Krieger meines Bruders, des Königs von Cashel.«

»Besser, wir vergreifen uns an ihnen als an dir, Frau«, mischte sich der grimmige Bruder Cett ein.

»Es fließt Blut zwischen Cashel und Fearna, wenn du die Sache ausarten läßt, Bischof Forbassach!« warnte ihn Fidelma scharf. »Das weißt du, auch wenn es deine Raufbolde nicht wissen.«

»Ich kann mich dafür verbürgen, daß diese beiden Krieger das Gasthaus in dieser Nacht nicht verlassen haben, Lord Bischof.«

Die Unterbrechung kam von einem Mann, der vor der Tür des Zimmers stand und sich jetzt hereindrängte.

Fidelma erkannte Mel, den Befehlshaber der Palastwache.

Bischof Forbassach sah ihn überrascht an.

»Woher willst du das so genau wissen, Mel?« fragte er.

»Weil dieses Gasthaus meiner Schwester gehört, wie du weißt, und ich habe hier übernachtet. Mein Bett steht in dem Zimmer neben dem, in dem diese Männer schlafen. Ich habe einen leichten Schlaf, und ich kann bestätigen, daß sie sich nicht geregt haben, bis deine Männer hier hereinstürmten.«

»Du hast lange gebraucht, bis du mir das mitteiltest«, bemerkte Forbassach. »Wenn du einen so leichten Schlaf hast, warum kommst du dann erst jetzt zu mir?«

»Weil deine Männer das Gasthaus meiner Schwester durchsuchten, und ich hielt es für klüger, mitzugehen und aufzupassen, daß sie nicht zu eifrig nachsuchten und dabei ihr Eigentum beschädigten.«

Der Bischof schien einen Moment nicht zu wissen, wie er sich weiter verhalten sollte. Das unerwartete Eingreifen des Kriegers von Laigin ließ ihm offensichtlich wenig Spielraum. Er stand noch unentschlossen da, als einer seiner Männer herbeieilte.

»Das Gasthaus und alle Nebengebäude sind abgesucht. Es gibt keine Spur von dem Angelsachsen. Es gibt überhaupt keine Spur.«

»Bist du sicher? Habt ihr überall gründlich nachgesehen?«

»Überall, Forbassach«, erwiderte der Mann. »Viel-leicht hat sich der Angelsachse auf eins der Flußschiffe geschlichen, die zum Loch Garman fahren, und will dort ein Schiff zurück zu seinem Land erreichen?«

Mit zornig zusammengepreßten Lippen wandte sich Bischof Forbassach wieder an Fidelma. Sie beschloß, den Vorteil zu nutzen.

»Meine Gefährten und ich werden deine Entschuldigung für dieses unberechtigte Eindringen annehmen, Forbassach. Du hast jedoch die Grenzen des Gastrechts weit überschritten. Ich nehme deine Entschuldigung nur an, weil es klar ist, daß du unter ziemlichem Druck gehandelt hast.«

Bischof Forbassachs Miene verdunkelte sich vor Zorn, und er schien zu einem neuen verbalen Angriff anzusetzen. Doch dann zögerte er und winkte seinen Leuten, sich zu entfernen. Seine funkelnden Augen blieben auf Fidelmas eiskalten Blick gerichtet.

»Ich warne dich, Fidelma von Cashel.« Er sprach langsam, als habe er Mühe, seine Gedanken in Worte zu fassen. »Die Flucht des Angelsachsen ist eine ernste Angelegenheit. Es ist bekannt, daß du mit ihm befreundet bist. Du bist hergereist, um ihn zu verteidigen. Daß er in diesem Augenblick entkommen ist, dürfte kein Zufall sein. Du und deine Gefährten, ihr habt uns überlistet und ihn vor uns verstecken können. Zweifellos habt ihr gewußt, daß wir hier zuerst suchen würden. Ich warne dich, Fidelma, das wird dein Verderben sein. Wenn du das Gesetz in die eigenen Hände nimmst, wirst du nie wieder als Anwältin tätig sein dürfen.« Er lachte kurz auf. »Und das komische daran ist, Fidelma, daß ich tatsächlich die Hinrichtung des Angelsachsen um eine Woche aufschieben wollte, um die Besorgnisse König Fianamails zu beschwichtigen, damit wir Antworten auf die schlauen Fragen finden könnten, die du gestellt hast. Die Flucht des Angelsachsen ist nun ein klares Eingeständnis seiner Schuld. Sobald er wieder eingefangen ist, wird er gehängt. Weitere Berufungen gibt es nicht mehr.«

Fidelma begegnete Bischof Forbassachs düsterem Blick mit Gelassenheit.

»Du beschuldigst mich zu Unrecht, ich hätte Bruder Eadulfs Flucht begünstigt, Forbassach. Im Unterschied zu einigen Leuten in diesem Königreich habe ich mich streng an die Gesetze der fünf Königreiche gehalten und nicht meinen Glauben an sie mit dem an andere Gesetze vertauscht. Denke daran, Forbassach. Auch würde ich seine Flucht nicht als Eingeständnis seiner Schuld werten. Jeder Unschuldige hat das Recht zur Selbstverteidigung. Man kann seine Flucht ebensogut als eine Verteidigung gegen einen Justizmord verstehen.«

Der Bischof wollte etwas antworten, überlegte es sich jedoch anders und verließ den Raum ohne ein weiteres Wort.

Dego trat mit besorgtem Gesicht näher.

»Geht es dir gut, Lady? Du bist nicht verletzt?«

Fidelma schüttelte den Kopf. Sie berührte die Schulter, in die die Schwertspitze des Kriegers eingedrungen war.

»Nur ein Kratzer, mehr nicht. Reich mir die Kutte, Enda«, bat sie ruhig, erhielt sie und schwang sich aus dem Bett. Sie sah die beiden jungen Krieger eindringlich an.

»Jetzt, da wir allein sind, sagt mir die Wahrheit. Hat einer von euch etwas mit Eadulfs Flucht zu tun?« Sie stellte die Frage rasch, fast atemlos.

Dego antwortete sofort mit einer verneinenden Geste. »Ich schwöre es, Lady.« Dann lächelte er schief. »Wären wir auf den Gedanken gekommen, hätten wir es uns vielleicht überlegt und mitgemacht.«

Enda stimmte ihm ernsthaft zu. »So war es wirklich, Lady. Wir kamen nicht auf die Idee, und jetzt, wo jemand anders es ausgeführt hat, schämen wir uns ein bißchen.«

Fidelma verzog tadelnd das Gesicht. Ihr Herz gab ihnen recht, doch ihr Verstand nicht.

»Ihr müßtet euch schämen, wenn ihr das Recht gebrochen hättet«, ermahnte sie sie.

»Nicht das Recht gebrochen, Lady«, beharrte Enda, »es nur ein wenig gebogen, um Zeit zu gewinnen, bis Brehon Barran eintrifft.«

Sie schaute auf, als Lassar eintrat, gefolgt von ihrem Bruder Mel. Sie hatten sich anscheinend vergewissert, daß Bischof Forbassach und seine Männer das Gasthaus verlassen hatten.

»Das ist eine schlimme Sache, Schwester«, sprudelte Lassar aufgeregt los. »Es ist heutzutage schwierig genug, ein Gasthaus zu führen, aber wenn ich den Bischof, der zugleich Brehon ist, die Äbtissin und den König alle zusammen geärgert habe, dann habe ich keine Hoffnung, daß ich weitermachen kann, überhaupt keine Hoffnung.«

Mel legte seiner Schwester tröstend den Arm um die Schulter.

»Es ist schon eine schlimme Sache, Lady«, wiederholte er verlegen. »Wir möchten dich ganz offen und ehrlich fragen, ob ihr an dieser Angelegenheit beteiligt seid.«

»Nein, das sind wir nicht«, versicherte ihnen Fidelma. »Sollen wir aus dem Gasthaus ausziehen?«

»Verzeih uns, Lady. Für meine Schwester ist das alles natürlich sehr belastend. Es wäre ungerecht, euch aus dem Gasthaus zu verweisen, wenn es keine Gründe dafür gibt.«

Lassar schluchzte und betupfte ihre Augen mit dem Ende ihres Halstuchs.

»Ihr könnt gern hier bleiben. Ich meinte nur ...«

»Und es ist richtig, daß du uns deine Lage erklärst«, unterbrach sie Fidelma. »Ich kann dir versprechen, wenn unser Aufenthalt hier deinen Lebensunterhalt gefährdet, ziehen wir aus. Wenn es dir recht ist, daß wir bleiben, bleiben wir auch. Wir haben nichts getan, was nach den Gesetzen dieses Landes unrecht wäre, trotz allem Verdacht, den Bischof Forbassach hegt. Das kann ich dir versichern.«

»Wir vertrauen deinem Wort, Schwester.«

»Dann können wir im Augenblick nichts weiter tun als versuchen, für den Rest der Nacht noch etwas Schlaf zu finden.«

Lassar und ihr Bruder verließen das Zimmer, doch Fidelma gab Dego und Enda ein Zeichen zurückzubleiben.

»Nachdem wir nun sicher sind, daß niemand von uns an der Flucht beteiligt ist, ergibt sich daraus ein Problem«, flüsterte sie.

Dego nickte »Wenn wir Eadulf nicht geholfen haben zu entkommen, wer tat es dann und zu welchem Zweck?« fragte er.

»Zu welchem Zweck?« wiederholte Enda verdutzt.

Fidelma lächelte dem jungen Krieger anerkennend zu.

»Dego hat den springenden Punkt erkannt. Mir ist aufgefallen, daß mehrere Personen, die an diesen Ereignissen beteiligt waren, verschwunden sind - die wichtigsten Zeugen in der Abtei. Könnte es wohl sein, daß man Eadulf auf dieselbe Weise hat >verschwinden< lassen?«

Diese Möglichkeit beunruhigte sie, doch man mußte sich ihr stellen, so weit hergeholt sie auch schien, denn nach reiflicher Überlegung wirkte sie nicht weiter hergeholt als andere bisher unerklärliche Vorkommnisse in diesem Fall. Schweigend dachten alle drei darüber nach.

»Nun, jetzt mitten in der Nacht können wir wenig tun«, gab Fidelma widerwillig zu. »Klar ist aber, daß wir Eadulf finden müssen, bevor Bischof Forbassach und seine Leute ihn finden.«

Als Fidelma allein war, wußte sie nicht, ob sie sich dem Gefühl ungeheurer Erleichterung hingeben sollte, mit dem sie zuerst auf die Nachricht reagiert hatte, daß Eadulf dem Galgen entgangen war, oder der nagenden Verzweiflung, der Furcht, daß er einem noch schlimmeren Schicksal verfallen sein könnte. Sie konnte nicht wieder einschlafen. So schlecht stand es doch wohl nicht? Sie war überzeugt gewesen, daß Eadulf an diesem Morgen dem Tod entgegengehe. Jetzt war er entkommen. Hatte Brehon Morann es zu zynisch formuliert, als er ihr einmal erklärte, wenn die Dinge sich zu bessern scheinen, dann sei das ein Zeichen, daß man etwas übersehen habe? Was hatte sie übersehen?

Vergeblich versuchte sie mit Hilfe der Kunst des dercad in den Schlaf zu gelangen, doch ihre Gedanken wurden verdunkelt von der neuen Angst um Eadulf. Es dämmerte schon, als sie endlich in den Schlaf der Erschöpfung fiel. Aus diesem Schlaf erwachte sie ohne die Erinnerung an Träume, aber mit dem Gefühl, daß nicht alles in Ordnung sei.

Eadulf war in dieser Nacht nicht zu Bett gegangen. Da er wußte, daß dies wahrscheinlich seine letzte Nacht auf Erden sein werde, erschien ihm der Gedanke an Schlaf einigermaßen sinnlos. Er saß auf dem Bett, dem einzigen bequemen Platz in der Zelle, und starrte durch die Gitter des Fensters auf das kleine Stück nachtblauen Himmel. Er versuchte seine herumirrenden, von Panik erfaßten Gedanken in einen klaren Zusammenhang zu bringen, doch sie rebellierten dagegen. Es stimmte nicht, was die Weisen behaupteten, daß ein unmittelbar vom Tode bedrohter Mensch sich stärker konzentrieren könne. Seine Gedanken fuhren hierhin und dorthin. Sie sprangen in seine Kindheit zurück, zu der Begegnung mit Fidelma in Whitby und später noch einmal in Rom und danach zu seiner Reise ins Königreich Muman. Sein Gemüt erging sich in Erinnerungen, bittersüßen Erinnerungen.

Das Geräusch war gedämpft. Ein Knurren. Ein schwerer Fall. Er stand auf und blickte zur Tür, da wurden die Riegel zurückgeschoben.

Eine dunkle Gestalt stand im Türrahmen. Sie trug eine Mönchskutte.

»Es ... es kann doch noch nicht Zeit sein«, protestierte Eadulf entsetzt. »Es dämmert ja nicht einmal.«

Die Gestalt winkte ihm in der Dunkelheit. »Komm«, flüsterte sie dringend.

»Was ist los?« Eadulfs Ton war abweisend.

»Komm und rede nicht«, beharrte die Gestalt.

Widerwillig schritt Eadulf zur Tür.

»Du darfst auf keinen Fall etwas sagen. Folge uns einfach«, befahl die verhüllte Gestalt. »Wir sind hier, um dir zu helfen.«

Er merkte, daß zwei weitere Männer im Gang standen. Einer hielt eine Kerze. Der andere schleppte die reglose Gestalt Bruder Cetts in die Zelle, die Eadulf verließ. Dessen Herz schlug schneller, als er begriff, was sich da abspielte.

Rasch ging er zu ihnen, sein Widerstand erlosch. Die Zellentür wurde geschlossen und verriegelt.

»Zieh die Kapuze über, Bruder«, flüsterte eine der vermummten Gestalten. »Und den Kopf runter.«

Er gehorchte sofort.

Die kleine Schar marschierte rasch den Gang entlang und die Treppe hinunter. Eadulf folgte ihnen bereitwillig durch ein Wirrwarr von Gängen. Sie wurden von niemandem gehindert, und dann waren sie plötzlich durch das Ufertor und außerhalb der Mauern der Abtei. Dort hielt ein anderer Mann die Zügel mehrerer Pferde. Wortlos half der Anführer Eadulf in den Sattel, und die anderen saßen zugleich auf. Dann trabten sie alle an dem im Mondlicht silbern glänzenden Fluß entlang und ließen die Tore der Abtei rasch hinter sich.

Sie erreichten eine Baumgruppe, und der Anführer ließ sie halten. Lauschend hob er den Kopf.

»Nichts von Verfolgern zu hören«, murmelte er. »Aber wir müssen wachsam sein. Von jetzt an reiten wir schneller.«

»Wer seid ihr?« fragte Eadulf. »Ist Fidelma unter euch?«

»Fidelma? Die dalaigh aus Cashel?« Der Sprecher lachte leise. »Spar dir deine Fragen noch eine Weile, Angelsachse. Kannst du mithalten, wenn wir zum Galopp übergehen?«

»Ich kann reiten«, erwiderte Eadulf steif, weiter rätselnd, wer diese Männer waren, wenn Fidelma sie nicht geschickt hatte.

»Dann los, wir reiten!«

Der Anführer stieß seinem Pferd die Hacken in die Weichen, und das Tier schoß vorwärts. Die anderen Pferde setzten sofort nach. Eadulf spürte den ermunternden Hauch des kalten Nachtwinds auf den Wangen, der ihm die Kapuze aus dem Gesicht warf und das Haar zerzauste. Zum erstenmal seit Wochen verspürte er Leichtigkeit und Erregung. Er war frei, und nur die Elemente umspülten und liebkosten seinen Körper.

Er verlor alles Zeitgefühl, während der Reitertrupp die Straße am Fluß entlangdonnerte, in die Wälder abbog, sich auf einem schmalen Weg durch Buschland und über freie Flächen schlängelte, Bruchland und kleine Hügel überquerte. Es war ein stürmischer, verwirrender Ritt, und schließlich jagten sie über gerodetes Land und hinauf zu einem Berggipfel, auf dem sich eine alte Erdfestung erhob. Ihre Gräben und Wälle mußten noch aus uralten Zeiten stammen. Auf den Wällen hatte man Befestigungen aus mächtigen Holzstämmen errichtet. Das Tor stand offen, und der Reitertrupp brauste mit unverminderter Schnelligkeit auf einer Holzbrücke über den Wall und in die Burg hinein.

Drinnen hielten sie so plötzlich an, daß ein paar Pferde sich unwillig aufbäumten und ausschlugen. Dann glitten die Männer aus den Sätteln, und fackeltragende Gestalten eilten herbei und führten die schaumbedeckten Tiere in die Ställe.

Einen Augenblick stand Eadulf da, ganz außer Atem, und betrachtete neugierig seine Begleiter.

Sie hatten jetzt ihre Kapuzen abgestreift, und im Licht der Fackeln und Lampen erkannte Eadulf, daß es keine Mönche waren. Sie alle sahen wie Krieger aus.

»Seid ihr Krieger aus Cashel?« fragte er, als er wieder zu Atem gekommen war. Gelächter antwortete ihm, dann verschwanden sie in der Dunkelheit, und Eadulf blieb allein mit ihrem Anführer zurück.

Im Schein einer nahen Fackel erblickte Eadulf nun einen älteren Mann mit langwallendem Silberhaar. Dieser trat einen Schritt näher und schüttelte lächelnd den Kopf.

»Wir sind nicht aus Cashel, Angelsachse. Wir sind Männer aus Laigin.«

Das stürzte Eadulf in völlige Verwirrung. »Das verstehe ich nicht. Warum habt ihr mich hierhergebracht? Wo sind wir überhaupt? Geschah es denn nicht auf Anweisung Fidelmas von Cashel?«

Der Alte lachte leise. »Glaubst du denn, eine dalaigh würde so sehr gegen das Gesetz verstoßen, daß sie dich aus dem Rachen der Hölle risse, Angelsachse?« fragte er belustigt.

»Dann kommt ihr also nicht von Fidelma? Ich verstehe gar nichts mehr . Laßt ihr mich frei, damit ich in mein Heimatland weiterreisen kann?«

Der Alte wies auf die Wälle der Festung, in die er Eadulf gebracht hatte.

»Diese Wälle umgrenzen dein neues Gefängnis, Angelsachse. Ich halte zwar nichts davon, für ein Leben ein anderes zu nehmen, aber ich glaube daran, daß unsere einheimischen Gesetze befolgt werden müssen. Ich beuge mich den römischen Bußgesetzen nicht, für mich gelten die Gesetze der Brehons.«

Das verwirrte Eadulf mehr denn je. »Wer bist du und wie heißt dieser Ort?«

»Ich heiße Coba und bin der bo-aire von Cam Eo-laing. Siehst du diese Wälle? Es sind die Wälle meiner Burg. Sie sind die Grenzen deines maighin digona

Den Ausdruck hatte Eadulf noch nie gehört und sagte das auch.

»Das maighin digona ist eine Freistätte, die das Gesetz vorsieht. Innerhalb dieser Wälle habe ich das Recht, jedem Fremden Schutz zu gewähren, der vor ungerechter Bestrafung oder Verfolgung flieht. Ich habe dich rechtswirksam vor den gewaltsamen Nachstellungen deiner Verfolger gerettet.«

Eadulf holte tief Atem. »Ich glaube, jetzt verstehe ich.«

Der Alte sah ihn scharf an. »Ich hoffe, du verstehst das. Ich gewähre dir diesen Schutz nur so lange, bis du vor einen höherrangigen Richter gerufen wirst und ein Verfahren nach unseren einheimischen Gesetzen erhältst. Ich muß dich warnen: Diese Freistätte ist nicht unverletzlich, denn wenn du nach unseren Gesetzen schuldig bist, entgehst du der Gerechtigkeit nicht. Wenn du von hier flüchtest, bevor du erneut vor Gericht stehst, trifft mich deine Strafe. Ich darf Gewalt abwenden, aber nicht die Gerechtigkeit behindern. Außerhalb dieser Wälle erwartet dich nichts als der Tod, wenn du diesen Ort verläßt, bevor du ein neues Urteil bekommen hast.«

»Dafür bin ich dankbar«, seufzte Eadulf. »Denn ich bin wirklich unschuldig und hoffe, daß sich das auch beweisen läßt.«

»Ob du unschuldig bist oder nicht, das geht mich nichts an, Angelsachse«, erklärte der Alte streng. »Ich glaube einfach an unsere Gesetze und werde dafür sorgen, daß du nach unseren Gesetzen gerichtet wirst. Wenn du flüchtest, macht mich das Gesetz als den, der dir Schutz gewährte, für dein ursprüngliches Vergehen verantwortlich, und ich muß die Strafe selbst auf mich nehmen. Deshalb werde ich nicht zulassen, daß du dich dem Gesetz entziehst. Verstehst du, was ich meine, Angelsachse?«

»Ja«, sagte Eadulf ruhig. »Du drückst dich ganz klar aus.«

»Dann preise Gott dafür, daß diese Morgendämmerung«, und damit wies der Alte auf den sich rötenden Osthimmel, »nicht deine letzte ist, sondern lediglich den ersten Tag deines restlichen Lebens ankündigt.«