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Auch nach ihrer Rückkehr ins Gasthaus zum Gelben Berg dachte Fidelma über Abt Noe nach. Sie war erstaunt, daß er es sich nicht angelegen sein ließ, zu dieser Zeit in Fearna zu bleiben. Sie hatte erwartet, daß er sowohl als Abt als auch als geistlicher Berater Fiana-mails eine größere Rolle in dem Geschehen spielen würde. Eadulf hatte ihr erzählt, daß er an der ersten Verhandlung teilgenommen hatte. Abgesehen von seiner angeblichen Unterstützung für die Übernahme der Bußgesetze war er jedoch bei den darauffolgenden Ereignissen nicht mehr in Erscheinung getreten.
Warum sich Fidelmas Gedanken gerade mit Abt Noe beschäftigten, konnte sie eigentlich nicht sagen. Nach dem wenigen, was sie von dem reizbaren Abt wußte, überraschte es sie, daß er die Leitung seiner früheren Abtei einer Frau übertragen hatte, die die Gesetze des Landes ändern wollte. Ihrer Erinnerung nach hatte Abt Noe das Rechtssystem der Fenechus unterstützt. Doch aus früherer Erfahrung mit ihm wußte sie auch, daß er verschlagen war und die Intrige liebte. Sie fragte sich, ob er nicht vielleicht eine größere Rolle bei diesen geheimnisvollen Vorgängen spielte.
Sie saß im Hauptraum des Gasthauses und grübelte darüber nach. Später wandten sich ihre Gedanken wieder dem Verschwinden Eadulfs aus der Abtei zu. Sie blieb vorsichtshalber bei dem Wort »Verschwinden«, denn sie traute weder Forbassach noch der Äbtissin. War er wirklich geflohen? Zu viele Menschen schienen »verschwunden« zu sein, die wichtige Zeugen der Ereignisse waren. Plötzlich erschauerte sie. Was meinte sie damit? Daß Eadulf einfach verschwunden war wie die anderen auch?
Die Wärme des Feuers und die gestörte Nachtruhe ließen sie schläfrig werden. Ehe sie es recht merkte, war sie eingenickt.
Sie wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als die Tür aufging und dieses Geräusch sie weckte. Enda trat ein, er schien mit sich zufrieden. Sie unterdrückte ein Gähnen, reckte sich und begrüßte ihn.
»Nun, Enda?«
Der junge Krieger kam sofort zu ihr und setzte sich. Er blickte sich rasch sichernd um und sagte dann leise: »Ich bin der Äbtissin gefolgt, ohne daß sie mich bemerkte. Sie ritt nach Norden ...«
»Nach Norden?«
»Ja, aber nur fünf oder sechs Kilometer. Dann bog sie zu den Bergen ab. Dort liegt eine Siedlung namens Raheen. Sie steuerte auf eine kleine Hütte zu und wurde von einer Frau begrüßt. Beide schienen eng befreundet.«
Fragend zog Fidelma eine Braue hoch. »Befreundet?«
»Sie umarmten sich. Anschließend gingen die Äbtissin und die Frau in die Hütte. Ich wartete ungefähr eine Stunde, dann kam die Äbtissin wieder heraus.«
Da erst begriff Fidelma, daß der Nachmittag zum größten Teil vergangen war. Sie hatte mehrere Stunden geschlafen.
»Sprich weiter«, sagte sie und bemühte sich, ihren Ärger über die vertane Zeit zu unterdrücken. »Was dann?«
»Während sie dort war, kam unser Freund Forbas-sach hinzu. Die Frau ließ die beiden eine Weile allein in der Hütte. Schließlich entfernte sich Forbassach und kurze Zeit danach auch Fainder. Sie ritt zurück nach Fearna, deshalb machte ich mir nicht die Mühe, ihr zu folgen.«
»Was tatest du statt dessen?«
»Ich dachte, du würdest wissen wollen, wer die Frau war, deren Hütte sie aufsuchten.« Fidelma lächelte anerkennend. »Du lernst schnell, Enda. Wir werden noch einen dalaigh aus dir machen.«
Der junge Mann schüttelte den Kopf, er nahm ihre scherzhafte Bemerkung ernst.
»Ich bin ein Krieger und der Sohn eines Kriegers, und wenn ich zum Krieger zu alt bin, gehe ich auf meinen Bauernhof.«
»Hast du herausbekommen, wer die Frau war?«
»Ich entschied mich, nicht direkt zu ihrer Hütte zu reiten, sondern mich bei den Leuten in der Gegend zu erkundigen. Mir wurde gesagt, sie heiße Deog.«
»Deog? Hast du noch mehr erfahren?«
»Nur, daß sie seit kurzem Witwe ist. Ihr Mann hieß Daig.«
Fidelma schwieg einen Moment. »Bist du sicher, daß das sein Name war?«
»Den Namen hat man mir genannt, Lady.«
»Wenn sie seit kurzem Witwe ist, muß es derselbe Mann sein.«
Enda sah sie unsicher an. »Ich fürchte, ich verstehe dich nicht.«
Fidelma nahm sich nicht die Zeit, ihm das zu erklären. Warum besuchten Äbtissin Fainder und Bischof Forbassach die Witwe des ertrunkenen Wachmanns? Fainder hatte Fidelma gegenüber so getan, als kenne sie den Mann kaum, weshalb sollte sie sich also um seine Witwe kümmern? Nicht nur das, sondern nach Endas Bericht sollten sie sogar befreundet sein. Hier lag ein weiteres Geheimnis.
»Du hast vermutlich nicht gefragt, ob die Äbtissin diese Deog häufig aufsucht, nicht wahr?«
Enda schüttelte den Kopf. »Ich wollte nicht zuviel Aufmerksamkeit erregen«, erklärte er. »Deshalb habe ich nicht so viele Fragen gestellt.«
Damit hatte sich Enda richtig verhalten, fand Fidelma. Zu viele Fragen machten die Leute mißtrauisch.
»Wie weit von hier entfernt wohnt diese Frau, was denkst du?«
»Weniger als eine Stunde, wenn man schnell reitet, Lady.«
»In ein paar Stunden wird es dunkel«, überlegte Fidelma nach einem Blick zum Himmel. »Trotzdem, meine ich, sollte ich mit Deog reden.«
»Ich kenne den Weg jetzt, Lady«, sagte Enda eifrig. »Wir können ohne Schwierigkeiten dorthin reiten und auch in der Dunkelheit zurückkehren.«
»Dann machen wir das doch«, entschied Fidelma. »Wo ist Dego?«
»Ich glaube, er ist im Stall und reibt die Pferde trocken. Soll ich ihn holen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Je eher wir aufbrechen, desto besser. Wir gehen zu ihm.«
Dego war wirklich dabei, Endas Pferd nach seinem Ritt trockenzureiben. Er blickte auf, als sie eintraten. Er schien etwas unsicher, als er Fidelma begrüßte.
»Ich kam kurz nach dem Mittag ins Gasthaus zurück, Lady«, sagte er, »wie du angeordnet hattest. Ich sah aber, wie du am Feuer saßest und fest schliefst. Ich dachte, du brauchtest den Schlaf mehr als meine Meldung, daß ich sowieso nichts Neues erfahren hatte. Ich hoffe, es war richtig, daß ich dich weiterschlafen ließ.«
Einen Moment wußte Fidelma nicht, wovon er redete, dann fiel ihr ein, daß sie gesagt hatte, sie würde ihn nach ihrer Rückkehr aus der Abtei im Gasthaus treffen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Beim Anblick seiner besorgten Miene lächelte sie entschuldigend.
»Du hast richtig gehandelt, Dego. Nach dem Schlaf geht es mir besser. Enda und ich reiten jetzt aus, es kann mehrere Stunden dauern.«
»Soll ich mitkommen?«
»Das ist nicht nötig. Enda weiß, wohin wir wollen. Solange wir fort sind, sollte einer hierbleiben, falls Bruder Eadulf mit uns Verbindung aufnehmen will.«
Dego half ihr mit ihrem Pferd, während Enda seinem Tier den Sattel erneut auflegte.
»Wo seid ihr«, fragte Dego, »für den Fall, daß sich irgend etwas ereignet?«
»Wir besuchen eine Frau namens Deog. Sie wohnt in einem Ort, der Raheen heißt und ungefähr sechs Kilometer nördlich von hier liegt. Aber verrate das niemandem.«
»Natürlich nicht, Lady.«
Sie saßen auf und trabten rasch durch die Straßen von Fearna. Enda ritt voran an den hochragenden grauen Mauern der düsteren Abteigebäude entlang zum Fluß und folgte dessen Windungen nordwärts. An einer Gabel wählte er den Weg, der in sanfter Steigung über einen Hügel und durch ein kleines Gehölz führte.
Hier ließ Fidelma halten. Sie ritt zurück zum Rand der Bäume und Büsche, von wo aus sie den Weg hinter ihnen überblicken konnte, und wartete schweigend, im Sattel vorgebeugt und vom Blattwerk geschützt.
Enda brauchte nicht zu fragen, warum sie das tat. Wenn ihnen jemand folgte, mußte er von dieser Stelle aus bald zu sehen sein. Nach längerer Zeit stieß Fidelma einen Seufzer der Erleichterung aus. Sie lächelte Enda zu.
»Meine Befürchtungen waren wohl grundlos. Im Augenblick verfolgt uns niemand.«
Wortlos wendete Enda sein Pferd und ritt weiter durch das Wäldchen und dann durch bebaute Felder auf einen dichteren Forst zu, der die höheren Berge vor ihnen bedeckte.
»Wie heißt der große Berg dort vor uns, Enda?« fragte Fidelma, als sie sich auf dem Anstieg befanden.
»Nach dem ist das Gasthaus unserer Wirtin benannt, es ist der Gelbe Berg. Wir wenden uns gleich weiter nach Osten und umrunden die Flanke des Berges, bevor wir wieder die nördliche Richtung nach Raheen einschlagen. Es liegt am Eingang eines Tals, und der Weg dorthin ist nicht mehr lang.«
Nach kurzer Zeit, als sich der klare Herbsthimmel bewölkte und es dunkelte, also am späten Nachmittag, hielt Enda an. Sie befanden sich am Anfang eines Tals, das sich nach Süden zum Fluß hin erstreckte. Über den Berghang verstreut standen mehrere Hütten, aus denen dunkler Rauch aufstieg. Es war offensichtlich eine Bauernsiedlung.
Enda wies hinüber. »Siehst du die Hütte dort drüben, Lady?«
Fidelmas Blick folgte seiner ausgestreckten Hand.
Eine kleine Hütte klebte am Steilhang des Berges. Sie zeugte nicht von Armut, aber auch nicht von Reichtum oder Rang. Sie war aus grauem Granit gebaut, und das schwere Reetdach mußte dringend repariert werden.
»Ich sehe sie.«
»Das ist die Hütte von Deog, die Äbtissin Fainder und Bischof Forbassach aufsuchten.«
»Nun gut. Wir werden sehen, was Deog zu unseren Nachforschungen beisteuern kann.«
Fidelma trieb ihr Pferd an, und gefolgt von Enda, ritt sie direkt auf die Hütte zu, die er ihr gezeigt hatte.
Die Bewohnerin der Hütte hatte sie offensichtlich gehört, denn als sie absaßen und ihre Pferde an den niedrigen Zaun banden, der einen Gemüsegarten vor der Hütte umgrenzte, öffnete sich die Tür, und sie trat heraus. Ein großer Hund schoß an ihr vorbei und auf Fidelma und Enda zu, aber ein scharfer Befehl der Frau hielt ihn zurück. Sie hatte noch nicht das mittlere Alter erreicht, doch Kummer und Sorgen hatten ihr Gesicht so gezeichnet, daß sie auf den ersten Blick älter erschien als ihre Jahre. Ihre Augen waren hell, wohl eher grau als blau. Sie war einfach gekleidet wie eine Bäuerin, und ihr Äußeres war das eines Menschen, der jedem Wetter trotzt. Ihr Gesicht kam Fidelma merkwürdig bekannt vor. Aber Fidelmas musternder Blick war nur kurz gewesen und hatte auch den Hund eingeschlossen, der zwar alt, doch zur Verteidigung seiner Herrin bereit war.
Die Frau trat besorgt näher, als sie Fidelmas ansichtig wurde.
»Kommst du von Fainder?« fragte sie sofort, wohl weil Fidelma wie eine Nonne gekleidet war.
Die Beunruhigung in ihrer Stimme überraschte Fidelma.
»Wieso denkst du das?« parierte sie.
Die Frau kniff die Augen zusammen. »Du bist Nonne. Wenn dich Fainder nicht hergeschickt hat, wer bist du dann?«
»Ich heiße Fidelma. Fidelma von Cashel.«
Die Miene der Frau verschloß sich unverkennbar, ihre Lippen wurden schmal. »So?«
»Anscheinend hast du meinen Namen schon gehört«, bemerkte Fidelma, die das richtig einschätzte.
»Man hat von dir gesprochen.«
»Dann weißt du auch, daß ich eine dalaigh bin.«
»Das weiß ich.«
»Es wird dunkel und kühl. Dürfen wir in deine Hütte kommen und uns ein Weilchen mit dir unterhalten?«
Die Frau zögerte etwas, nickte dann aber einladend.
»Kommt rein, obwohl ich nicht weiß, worüber wir zu reden hätten.«
Sie ging voran in den einzigen großen Wohnraum der Hütte. Da der Hund keine Gefahr witterte, lief er vorneweg. Im Kamin am anderen Ende des Raums prasselte ein Holzfeuer. Der alte Hund streckte sich davor aus, den Kopf auf den Pfoten, aber die halbgeschlossenen Augen wachsam auf sie gerichtet.
»Setzt euch«, lud die Frau sie ein.
Sie warteten, bis sie sich am Feuer niedergelassen hatte, dann nahm Fidelma ihr gegenüber Platz, und Enda hockte sich unbequem auf einen Schemel an der Tür.
»Na, worüber willst du mit mir sprechen?«
»Ich habe gehört, du heißt Deog?« begann Fidelma.
»Das leugne ich nicht, denn es stimmt«, erwiderte die Frau.
»Und Daig war der Name deines Ehemanns?«
»Möge der gütige Gott seiner Seele gnädig sein, ja, so hieß er. Was hattest du mit ihm zu tun?«
»Er gehörte zur Wache an den Kais von Fearna, glaube ich?«
»Er war sogar Hauptmann der Wache, nachdem Mel zur königlichen Wache aufgerückt war. Hauptmann der Wache, aber er hatte nicht lange was davon.« Sie schluckte, und ihre Stimme brach.
»Ich fühle deinen Kummer mit, Deog, aber ich brauche Antwort auf ein paar Fragen.«
Die Frau nahm sich mit Mühe zusammen. »Ich hab schon gehört, daß du Fragen stellst. Du sollst eine Freundin des Angelsachsen sein.«
»Was weißt du über ... über den Angelsachsen?«
»Ich weiß nur, daß er angeklagt und verurteilt wurde, weil er ein armes junges Ding umgebracht hat.«
»Weiter nichts? Nicht, ob er schuldig oder unschuldig war?«
»Wie soll er denn unschuldig sein, wenn ihn der Brehon von Laigin verurteilt hat?«
»Er ist aber unschuldig«, antwortete Fidelma kurz. »Es gab zu viele Todesfälle an den Kais bei der Abtei, als daß es alles Zufall sein könnte. Erzähl mir zum Beispiel vom Tod deines Ehemanns.«
Einen Augenblick blieb das Gesicht der Frau regungslos, und ihre hellen Augen suchten in Fidelmas Miene nach einem verborgenen Sinn ihrer Worte. Dann sagte sie: »Er war ein guter Mann.«
»Das bezweifle ich nicht«, erwiderte Fidelma.
»Man sagte mir, er sei ertrunken.«
»Man?«
»Bischof Forbassach.«
»Das hat dir Forbassach selbst gesagt? Du bewegst dich in hochgestellten Kreisen, Deog. Was genau hat Bischof Forbassach zu dir gesagt?«
»Daß Daig während der Nachtwache auf den Holzplanken des Kais ausgerutscht und in den Fluß gefallen ist. Dabei ist er mit dem Kopf auf dem Kai aufgeschlagen und wurde bewußtlos. Am nächsten Morgen fand ihn ein Schiffer von der Cag. Es hieß, er wäre ...« Sie schluckte und fuhr fort: »Er wäre ertrunken, weil er bewußtlos war.«
Fidelma beugte sich leicht vor. »Und gab es Zeugen dafür?«
Deog schaute sie verständnislos an. »Zeugen? Wäre jemand in der Nähe gewesen, wäre er nicht ertrunken.«
»Woher weiß man das dann so genau?«
»Bischof Forbassach hat mir gesagt, so müßte es gewesen sein, denn das wäre die einzige Erklärung, die mit den Tatsachen in Übereinstimmung zu bringen wäre.« Sie sprach die Worte wie eine Formel aus, und es war klar, daß sie wiederholte, was der Brehon ihr erzählt hatte.
»Aber was hältst du davon?«
»So muß es wohl gewesen sein.«
»Hat Daig mit dir über das gesprochen, was an den Kais passiert ist? Zum Beispiel über den Tod des Schiffers?«
»Fainder hat mir erzählt, daß sie den armen Ibar für das Verbrechen hingerichtet haben.«
Fidelma runzelte die Stirn. »Den armen Ibar? Kanntest du den Bruder?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kenne seine Familie. Es sind Schmiede an den tieferen Hängen des Gelben Berges. Daig hat mir erzählt, wie er ihn überführt hat.«
»Wie war das? Was genau hat Daig dir erzählt?« fragte Fidelma eifrig.
»Warum soll ich dir sagen, was Daig mir über den Mord erzählt hat?« Deog schaute Fidelma verwundert an. »Hat dir Fainder das nicht berichtet? Sogar Bischof Forbassach wollte die Einzelheiten nicht wissen.«
»Tu mir den Gefallen«, lächelte Fidelma. »Ich möchte es gern hören, und wenn du kannst, halte dich so genau an die Worte deines Mannes wie möglich.«
»Na, Daig hat mir erzählt, daß er gegen Mitternacht auf seinem Kontrollgang nahe dem Kai bei der Abtei war, als er einen Schrei hörte. Daig trug eine Fackel, also hob er sie hoch, antwortete mit einem Ruf und lief in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Dann hörte er eilige Schritte auf den Brettern des Kais. Er fand eine zusammengesunkene Gestalt. Es war die Leiche eines Mannes, eines Schiffers. Daig erkannte ihn, er gehörte zur Besatzung von Gabrans Schiff, das am Kai vertäut war. Dem Mann war der Schädel eingeschlagen worden, und eine Holzkeule lag gleich daneben.«
»Eine Keule?«
»Daig erklärte mir, er hielt es für eine dieser Holzstaken, die man auf Schiffen benutzt.«
»Ein Belegnagel?«
Deog zuckte die Achseln. »Damit weiß ich nicht Bescheid, aber ich glaube, das war der Ausdruck, den er gebrauchte.«
»Sprich weiter.«
»Er erzählte mir, daß der Schiffer zweifelsfrei tot war, deshalb ließ er die Leiche liegen und rannte den Schritten nach. Aber er merkte bald, daß die Nacht den Schuldigen verbarg, und so kehrte er zu der Leiche zurück .«
»Hat er dir gesagt, wohin die Schritte liefen? Zum Beispiel auf das Tor der Abtei zu?«
Deog bedachte die Frage gründlich.
»Ich glaube nicht, daß es die Richtung auf das Abteitor war, denn er sagte, die Nacht hätte das Geräusch der Schritte verschluckt. Am Tor der Abtei brennen nachts gewöhnlich zwei Fackeln. Wenn der Täter zum Tor gerannt wäre, hätte Daig ihn im Fackelschein sehen müssen.«
»Zwei Fackeln brennen dort?« Fidelma schwieg einen Moment. »Woher weißt du das?«
»Das hat mir Fainder gesagt.«
Fidelma zögerte etwas, beschloß aber, sich nicht ablenken zu lassen.
»Darauf kommen wir später zurück. Fahr fort mit dem, was dir Daig erzählt hat.«
»Na, er ging zurück zur Leiche des Schiffers und schlug Alarm. Damit weckte er einen anderen Matrosen von Gabrans Schiff aus dem Schlaf, und der erklärte Daig, Gabran befinde sich im Gasthaus zum Gelben Berg, und als er den Toten zuletzt gesehen habe, sei der ebenfalls dort gewesen. Der Mann war anscheinend dorthin gegangen, um Geld einzutreiben, das Gabran ihm schuldete. Daraufhin eilte Daig zum Gasthaus und fand Gabran auch. Der hatte schwer getrunken, deshalb dauerte es seine Zeit, bis die Lage geklärt werden konnte. Lassar, die Wirtin, sagte zu Daig, der Schiffer sei zu Gabran gekommen und es habe einen Streit gegeben. Aber Gabran habe ihn ausgezahlt, und danach seien sie wieder Freunde gewesen. Der Schiffer trank eine Weile und wanderte dann zum Schiff zurück. Inzwischen war Lassar schlafen gegangen, weil es schon spät war, wachte aber auf, als Daig ankam und Gabran verhörte.«
Die Frau hielt in ihrer Erzählung inne.
»Ist es wirklich das, was du hören willst, Schwester?« fragte sie zweifelnd. »Bischof Forbassach meinte, das alles sei unwichtig.«
»Sprich weiter, Deog. Was hat dir Daig sonst noch erzählt?«
»Gabran bestätigte, daß er dem Mann gerade den Lohn ausgezahlt hatte, den er ihm schuldete.«
»Hat er gesagt, worum es bei dem Streit ging?«
»Der hatte mit dem Geld zu tun. Daig meinte, das wäre nicht wichtig. Dagegen war es wichtig, daß man bei dem Schiffer kein Geld fand. Und dann war da noch etwas. Als Gabran hörte, daß das Geld fehlte, fragte er nach einer Goldkette, die der Mann gewöhnlich um den Hals trug. Die war auch weg.«
»Ich nehme an, weder das Geld noch die Kette wurden bei der Leiche gefunden.«
»Das beunruhigte Daig. Weißt du, nachdem er vergeblich versucht hatte, die Schritte zu verfolgen, die er in die Nacht verschwinden hörte, ging er zurück und untersuchte die Leiche.«
»Es beunruhigte ihn? In welcher Weise?«
Deog versuchte sich genau zu erinnern, was Daig ihr gesagt hatte.
»Es war . und er dachte, er könnte sich auch geirrt haben . es war .«
»Laß dir Zeit«, meinte Fidelma, als sie erneut zögerte und nachdachte.
»Als er die Leiche zuerst fand, bevor er den Schritten nachlief, meinte Daig, habe er die Goldkette am Halse des Toten gesehen. Er war sich sicher, daß sie im Mondlicht glänzte.«
»Aber die Kette war fort, als er zu der Leiche zurückkehrte. War es so?«
»Das machte ihm Sorgen. Sie war nicht mehr da, als er zurückkam.«
»Hat er das gegenüber jemand anderem erwähnt?«
»Er hat es Bischof Forbassach gesagt.«
»Aha. Und was geschah? Was tat Forbassach?«
»Ich glaube nicht, daß noch einmal darüber gesprochen wurde. Schließlich war sich Daig nicht absolut sicher. Lassar bestätigte, daß der Mann Geld erhalten hatte, und sie wußte, daß er gewöhnlich eine Goldkette trug. Sie kannte ihn als ein ständiges Mitglied der Mannschaft Gabrans, der öfter ins Gasthaus kam. Er behauptete immer, er habe die Goldkette in einer Schlacht gegen die Ui Neill errungen.«
Fidelma schwieg einen Moment und überdachte diese Geschichte.
»Ich weiß, daß die Sache mit der Goldkette ihm Sorgen machte«, fügte Deog hinzu.
»Hat dir Daig auch erzählt, wie er die Spur zu Bruder Ibar verfolgen konnte?«
»Das hat er allerdings, und er meinte, es sei ein erstaunlicher Zufall gewesen. Gabran kam am nächsten Tag zu Daig und sagte, er sei auf dem Markt gewesen, und da sei ein Mönch zu ihm gekommen und habe ihm eine Goldkette verkaufen wollen. Er habe sie sofort als die Kette erkannt, die seinem toten Schiffer gehörte.«
»Ein ziemlich eigenartiger Zufall«, bemerkte Fidelma trocken.
»Aber solche Zufälle gibt es«, erwiderte Deog.
»Kannte Gabran diesen Mönch?«
»Er wußte, daß er der Abtei angehörte.«
»Er sagte also, er habe die Kette gekauft?«
»Er tat so, als sei er daran interessiert, und verabredete sich mit dem Mann für später. Dann folgte er ihm bis zur Abtei. Dort fragte er die rechtaire, wie dieser Bruder heiße - es war natürlich Ibar -, und anschließend kam er zu Daig und berichtete ihm die ganze Geschichte. Daig ging zur Abtei und besprach sich mit Äbtissin Fainder. Zusammen mit der rechtaire durchsuchte Daig Bruder Ibars Zelle. Sie fanden die Kette und einen Beutel mit Geld unter seinem Bett.«
»Was weiter?« erkundigte sich Fidelma.
»Gabran erkannte die Kette wieder und erklärte auch, daß der Inhalt des Geldbeutels etwa dem entsprach, was er dem Schiffer an Lohn gezahlt habe. Fainder ließ Bischof Forbassach holen, und Bruder Ibar wurde förmlich angeklagt.«
»Man hat mir gesagt, er habe die Beschuldigung zurückgewiesen?«
»Das stimmt. Er leugnete den Mord, er leugnete den Versuch, Gabran die Kette zu verkaufen, und er leugnete jede Kenntnis von dem unter seinem Bett versteckten Geld. Er nannte Gabran einen Lügner. Aber angesichts der überwältigenden Beweise blieb nur eine Schlußfolgerung. Doch Daig machte sich Sorgen wegen des Zufalls - wie du schon sagtest, es war ein eigenartiger Zufall. Ihn beschäftigte auch der Gedanke, daß er die Kette am Hals des Opfers noch nach dem Mord gesehen hatte.«
»Aber du meinst, er habe Bischof Forbassach von seinen Sorgen berichtet?«
»Ja.«
»Hat er in der Sache sonst noch etwas unternommen? Hat er Gabran nochmals befragt?«
»Du bist eine dalaigh. Du weißt doch ganz gut, daß Daig nur Wachmann war. Er war kein Anwalt, der solche Nachforschungen betreibt. Er berichtete alles Forbassach, und von da an war es dessen Aufgabe. Bischof Forbassach war mit den Beweisen zufrieden.«
»Bei der Verhandlung gegen Ibar kam das alles nicht zur Sprache?«
»Soviel ich weiß, nein. Mein Daig war schon vor der Verhandlung ertrunken und konnte also keine Fragen mehr stellen.«
Fidelma lehnte sich zurück und dachte über das nach, was Deog ihr erzählt hatte.
»Wieder erscheint Bischof Forbassach als Ankläger und zugleich als Richter. Das ist nicht rechtens.«
»Bischof Forbassach ist ein guter Mann«, protestierte Deog.
Fidelma schaute sie neugierig an. »Eins wundert mich immer wieder, Deog«, meinte sie. »Für eine Frau vom Lande, die nicht in Fearna wohnt, weißt du sehr viel über das, was dort vor sich geht, und du verkehrst anscheinend mit einflußreichen Leuten.«
Deog rümpfte abweisend die Nase. »War nicht Daig mein Mann, und hat er mich nicht auf dem laufenden gehalten? Wir haben oft über das gesprochen, was er dort unten in Fearna tat. Hast du nicht dadurch Antworten auf die Fragen erhalten, die du gestellt hast?«
»Allerdings. Aber dir ist mehr bekannt als das, was dir dein Mann erzählt hat. Soviel ich weiß, besuchen dich Bischof Forbassach und Äbtissin Fainder.«
Deog wurde plötzlich nervös. »So, das weißt du also?«
Fidelma lächelte dünn. »Genau. Äbtissin Fainder reitet regelmäßig aus und besucht dich, nicht wahr?«
»Das bestreite ich nicht.«
»Mit Verlaub, warum reitet Äbtissin Fainder so regelmäßig hierher? Was veranlaßt sie dazu, dir, der Witwe eines Wachmanns der Flußwache, eines Mannes, den sie kaum kannte, wie sie mir sagte, Einzelheiten über Bruder Ibars Prozeß zu erzählen?«
»Warum sollte sie denn nicht?« verteidigte sich De-og. »Fainder ist schließlich meine jüngere Schwester.«