177827.fb2 Vor dem Tod sind alle gleich - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 14

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Kapitel 12

Fidelma brauchte einige Augenblicke, um diese unerwartete Antwort zu verarbeiten.

»Äbtissin Fainder, die Äbtissin von Fearna, ist deine jüngere Schwester?«

Deog bejahte es mit einer knappen Geste.

»Überrascht es dich, daß eine mächtige und reiche Äbtissin solch eine arme Verwandte hat?« fragte sie streitbar.

»Überhaupt nicht«, versicherte ihr Fidelma. »Begabung und Tüchtigkeit verdienen einen entsprechenden Lohn, allerdings fällt mir dabei eine Frage ein: Ist Abt Noe mit deiner Familie verwandt?«

Deog sah sie verblüfft an. »Warum sollte er?«

»Bist du sicher, daß du nicht mit ihm verwandt bist? Oder mit einem anderen Mitglied seiner Familie?« hakte sie nach.

»Wir sind nicht verwandt. Ich verstehe nicht, weshalb du solche Fragen stellst.«

»Einfach nur Neugier, weiter nichts«, beruhigte sie Fidelma. »Aber du hast gesagt, die Äbtissin sei reich?«

Deog war anscheinend versöhnt. »Meine Schwester hat aus ihrem Leben etwas gemacht.«

»Als Dienerin des Glaubens erwirbt man gewöhnlich keine Reichtümer.«

»Wahrscheinlich nicht. Doch als Äbtissin in der Hauptstadt des Königs verkehrt sie mit reichen und mächtigen Leuten, und da wäre es nicht schicklich, wenn sie in schäbiger Kleidung daherkommt. Ich nehme an, die Abtei sorgt dafür, daß sie hat, was sie braucht.«

Fidelma beschloß, dem nicht weiter nachzugehen.

»Warum tat Äbtissin Fainder so, als kenne sie deinen Mann kaum? Welchen Grund hatte sie dafür? Mochte sie ihren Schwager nicht?«

»Wir hatten vereinbart, unseren Verwandtschaftsgrad den Leuten nicht auf die Nase zu binden, bis Fainder ihr Amt sicher hatte. Sie war ja erst vor drei oder vier Monaten aus Rom zurückgekehrt, um Äbtissin zu werden. Deshalb reitet sie jeden Tag heimlich aus, um sich mit mir zu treffen. Hier sind wir beide aufgewachsen. Zum Glück war sie so lange fort, daß viele Leute sie vergessen haben. Wir dachten, es wäre besser so, bis sie ihre Stellung gefestigt hätte.«

»Meinst du damit, daß Fainder fürchtet, ihre Autorität als Äbtissin einzubüßen, wenn es bekannt würde, daß du ihre Schwester bist?«

Deog zögerte verlegen, dann hob sie trotzig den Kopf.

»Das ist doch nicht so ungewöhnlich, nicht wahr? Wenn du im Staatsrat beim König sitzt, dann kann es schon deine Autorität untergraben, wenn der Mann deiner Schwester bloß Wachmann ist. Vielleicht war Fainder auch zu lange in Rom. Sie richtet sich nach deren Gebräuchen und nicht nach unseren«, gestand Deog. »Ich habe gehört, daß dort die großen Herren nicht mit Bauern verkehren und die hohen Kirchenfürsten nicht von Bauern abstammen. In jenen Ländern entscheidet wohl der Rang der Familie darüber, was aus einem Kind wird. Leider hat sich Fainder diese Hochnäsigkeit auch angeeignet.«

»Aber nicht so sehr, daß sie dir den Rücken gekehrt hätte.«

Deog lächelte spöttisch. »Ein altes Sprichwort sagt: Was du in den Knochen hast, kannst du dem Fleisch schlecht austreiben.«

»Erzähl mir von deiner Schwester.«

»Darum solltest du lieber sie bitten.«

»Du bist die ältere Schwester. Du kennst sie am besten.«

Deogs Miene wurde weicher.

»Das stimmt. Ich bin fünf Jahre älter als Fainder. Als ich fünfzehn war, fiel unser Vater in einem der Kriege gegen die Ui Neill, und bald danach starb unsere Mutter aus Gram. Ich war damals schon im Alter der Wahl und übernahm diese Hütte und das bißchen Land. Fainder blieb bei mir, bis sie das Alter der Wahl erreichte, dann trat sie in die Abtei Taghmon ein und wurde Nonne. Ich sah sie erst wieder, als sie achtzehn war. Da kam sie zu mir und sagte, sie gehe fort. Sie schloß sich einer Gruppe von Nonnen an, die nach Bobbio wollte, wo Columbanus sein Kloster gebaut hatte.«

»Aus jeder Brut fliegt ein Vogel fort«, zitierte Fidelma.

»Ein schöner Spruch, aber es gibt noch einen anderen: Ein Vogel, der seine eigene Brut verläßt, besitzt wenig Liebe.«

»Erzähl weiter. Du fandest, daß Fainder wenig Liebe für ihr Heim und ihre Familie hegte?«

»Nachdem sie gegangen war, hörte ich nichts mehr von ihr, bis vor ein paar Monaten. Da kam sie zu Pferde an meine Tür und erklärte, sie sei zurückgekehrt und jetzt Äbtissin von Fearna.«

»Du hattest sie nicht gesehen, seit sie achtzehn Jahre alt war?«

Deog lächelte traurig. »Sie war zehn Jahre in Bobbio und zog dann weiter nach Süden, nach Rom. In Rom erweckte sie die Aufmerksamkeit von Abt Noe, der sich zufällig auf einer Pilgerreise dort aufhielt. Er lud sie ein, nach Fearna zurückzukehren, und überredete sie, Äbtissin zu werden.«

Fidelma war verblüfft. »Abt Noe hat Fainder tatsächlich zur Rückkehr nach Laigin überredet, damit sie an seiner Stelle als Äbtissin die Leitung der Abtei übernahm?«

»So hat sie es mir gesagt, und so sage ich es dir.«

»Ich dachte, Noe hinge dem Glauben Colmcilles an, Fainder hingegen hat anscheinend viele Gebräuche Roms angenommen.«

»Sie tritt eifrig für Rom ein«, stimmte ihr Deog zu. »Sie folgt den strengen, hochmütigen Gebräuchen des römischen Klerus. Aber ich glaube, das ist bei ihr nur äußerlich. Sie strebt fanatisch danach, unsere Kirche in Übereinstimmung mit den Regeln der römischen zu bringen.«

»Sind die Hinrichtungen ein Zeichen für diese Entschlossenheit?«

Deog machte ein unglückliches Gesicht und gab keine Antwort.

»Sie scheint ihren Willen bei Bischof Forbassach und dann auch beim König durchgesetzt zu haben«, bemerkte Fidelma nach einer Weile. »Sie hat ihnen eingeredet, daß dieses Königreich die Bußgesetze einführen solle.«

»Sie hat eine sehr mächtige Stellung erlangt«, gab Deog zu. »Ich wünschte aber ...«

»Ja?« lockte Fidelma.

»Diese Härte, die kann zu schlimm werden. Viele Leute - und davor habe ich sie schon gewarnt -, viele Leute haben Furcht vor der Abtei Fearna. Daß dort ein Bruder im Glauben hingerichtet wurde, und diese Bestrafungen, von denen wir gehört haben .«

»Bestrafungen?«

»Vor ein paar Wochen wurde ein Bruder ausgepeitscht.«

» Ausgepeitscht? «

»Es wurde behauptet, er habe gelogen, also ließ ihn Fainder bis zum Gürtel entkleiden und mit Birkenruten auspeitschen. Ich kann das auch kaum glauben.«

»Weißt du, wie der Bruder hieß, der ausgepeitscht wurde?«

Deog antwortete mit einem Kopfschütteln.

»Du sagst, die Leute haben Furcht vor der Abtei Fearna. Wie reden sie denn über die Abtei?«

»Sie meinen, die Abtei sei böse geworden. Hast du die Statue des Engels vor dem Haupttor der Abtei gesehen? Das ist die, die der heilige Maedoc mit eigenen Händen angefertigt haben soll.«

Fidelma erwiderte, sie kenne sie.

»Sie wurde früher Unsere Liebe Frau vom Licht genannt, und die Leute brachten ihr Opfer dar. Jetzt nennt man sie anders.«

»Und wie?« fragte Fidelma.

»Unsere Liebe Frau von der Finsternis.«

»Hast du mit deiner Schwester darüber gesprochen, wie die Leute reden?«

»O ja«, sagte Deog verbittert. »Sie hat mir geantwortet, ich solle mich um meinen Garten kümmern und mich nicht in religiöse Dinge mischen, von denen ich nichts verstehe.«

»Begreift sie denn nicht, daß sie die Leute beunruhigt? Erkennt sie nicht, welchen Schaden sie dem Glauben zufügt?« forschte Fidelma.

»Ich denke nicht. Sie ist so an die Bräuche gewöhnt, die sie im Ausland gelernt hat, besonders an diese mitleidslosen Arten der Bestrafung und an die erbarmungslose Härte des Lebens dort, daß sie meint, wir hier wären im Irrtum, wir lebten zu locker und unmoralisch. Sie ist entschlossen, uns allen die Regeln der Bußgesetze aufzuzwingen.«

»Und die Unschuldigen müssen ebenso leiden wie die Schuldigen?«

»Glaubst du, daß Bruder Ibar unschuldig war?«

»Hat dein Ehemann Daig das nicht auch gedacht?«

»Daig hatte seine Zweifel. Er meinte, es gebe Fragen, die man stellen müßte.«

»Und Daig starb, bevor er sie bei der Verhandlung stellen konnte.«

Einen Moment schaute Deog Fidelma mit großen, entsetzten Augen an.

»Was meinst du damit?« flüsterte sie. »Daß Daig ... daß Bischof Forbassach, der Brehon ...?« Sie hob die Hand vor den Mund.

Fidelma entgegnete rasch: »Ich ziehe keine Schlußfolgerungen, ich bemerke nur etwas zu den Tatsachen. Mir scheint, Gabran müßte ein paar Fragen beantworten. Warum hat Forbassach sie nicht gestellt?«

»Bischof Forbassach tut, was Fainder ihm sagt«, erwiderte die Frau leise.

Fidelma musterte sie vorsichtig.

»Gibt es einen besonderen Grund, weshalb sich Bischof Forbassach und Fainder in deiner Hütte treffen?«

Deog lachte bitter auf. »Glaubst du wirklich, meine hochmütige und einflußreiche Schwester käme fast jeden Tag her, nur um meine kleine, bescheidene Person zu besuchen?«

Fidelma schwieg. Sie hatte so etwas vermutet, aber sie wollte, daß Deog es in Worte faßte.

»Meine Hütte ist für sie nicht mehr als ein günstiger Treffpunkt zum Stelldichein.«

»Wußte dein Mann zu seinen Lebzeiten davon?«

Deog schüttelte den Kopf. »Fainder ließ mich bei Gefahr für meine unsterbliche Seele schwören, daß ich nichts verraten würde. Nachdem ich nun weiß, welchen Weg sie geht, ist mir klar, daß es nicht meine unsterbliche Seele ist, die sich in Gefahr befindet.«

»Es sollte keinen Grund geben, etwas geheimzuhalten. Es ist keine Sünde, wenn Mönche und Nonnen zusammen leben und heiraten, jedenfalls bis jetzt noch nicht. In Rom gibt es allerdings eine Partei, die für das Zölibat eintritt. Hatte Fainder vor solchen Leuten Angst?«

»Es war Bischof Forbassach, der Geheimhaltung verlangte, nicht Fainder. Er ist bereits verheiratet«, gestand Deog. Plötzlich merkte sie, wie weit das Gespräch sie geführt hatte. »Ich dachte, du wärst hergekommen, um den Angelsachsen freizukriegen? Fain-der erzählte mir, du versuchst, seine Unschuld zu beweisen, aber durch seine Flucht letzte Nacht habe er seine Schuld eingestanden. Warum stellst du mir alle diese Fragen nach Daig, Fainder und Bischof Forbas-sach?«

»Ich würde nicht sagen, daß eine Flucht aus der Abtei ein Schuldgeständnis ist«, erwiderte Fidelma bitter. »Besonders nach dem, was du mir alles berichtet hast. Es beweist nur, daß er nicht hingerichtet werden wollte wie Ibar.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Daig, dein Mann, war auch an der Festnahme Bruder Eadulfs in der Abtei beteiligt.«

»Ja, aber in der Nacht war Mel Hauptmann der Wache, und Daig führte nur seine Befehle aus. Das war damals, als das junge Mädchen vergewaltigt und umgebracht wurde.«

»Ein junges Mädchen wurde getötet, ein Schiffer wurde getötet, und dann ist Daig ertrunken ...«, überlegte Fidelma. »In jedem der Fälle hat man anscheinend Forbassach überredet, die richtigen Fragen nicht zu stellen und damit Beweise außer acht zu lassen. Ist das nicht ein Grund zur Besorgnis, frage ich mich?«

Deog begriff nicht, worauf sie hinauswollte.

Enda hatte die ganze Zeit still dagesessen, doch jetzt schaltete er sich plötzlich ein.

»Hast du nicht gesagt, daß Gabrans Schiff in der Nacht, als das Mädchen ermordet wurde, auch am Kai vertäut lag? Gibt es da einen Zusammenhang?«

Fidelma wandte sich ärgerlich zu ihm um, aber der junge Krieger war so eifrig bei der Sache, daß sie es sich versagte, ihn zu tadeln, weil er auf etwas hinwies, was sie völlig übersehen hatte.

»Darüber sprechen wir später, Enda«, sagte sie. Dann bemerkte sie, daß der Raum dunkel geworden war, abgesehen von dem warmen Licht, das von der Glut des Herdfeuers kam.

Deog stand auf und zündete eine Talgkerze an, dann legte sie mehr Holz auf das Feuer. Es knisterte, bald leckten die Flammen an dem trockenen Holz, und helleres Licht vertrieb die Finsternis.

»Wir kehren besser nach Fearna zurück«, meinte Fidelma und erhob sich mit Bedauern. Zu Deog sagte sie: »Ich bin dir sehr dankbar für alles, was du uns be-richtet hast, Deog. Es tut mir leid, wenn ich dein Herz mit Sorge erfüllt habe. Manchmal ist es am besten, wenn man sich über die Dinge ausspricht und den Kummer offenlegt, statt ihn in sich zu verschließen.«

Deog verzog das Gesicht. »Es macht mir nichts aus, über meinen Ehemann zu sprechen. Er war ein guter Mensch und bemühte sich, sein Bestes für die Gemeinschaft zu leisten. Es betrübte mich sehr, daß er mit meiner Schwester nicht auskam. Sie mochte ihn auch nicht. Leider haben ihre Jahre als Nonne ihre Einstellung zum Leben verbittert und sie zu einer harten Beurteilung ihrer Mitmenschen gebracht. Aber ihre eigenen Fehler sieht sie nicht. Dieses Verhältnis mit Bischof Forbassach wird ein schlimmes Ende nehmen.«

Fidelma legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter.

»Die Fehlerlosen sind wirklich gut, Deog. Doch wer von uns ist schon ohne Fehler?«

Deog schaute Fidelma bittend an. »Du sagst doch keinem was von Fainder?«

Fidelmas Miene blieb undurchdringlich. »Das kann ich nicht versprechen, Deog. Du weißt, daß ich meinerseits einen Eid geleistet habe, der Wahrheit zu dienen.«

»Fainder wird mir das nie verzeihen.«

Die Frau war sichtlich geängstigt von der Vorstellung, was ihre Schwester tun würde, wenn die Wahrheit herauskäme. Fidelma streichelte ihr wieder die Schulter.

»Fainder muß mit den Folgen ihrer eigenen Handlungen und Vorurteile leben. Du brauchst ihr vom Thema unserer Unterredung nichts zu sagen. Ich kann dir so viel versprechen, daß ich Fainders Verhältnis mit Forbassach oder ihre Verwandtschaft mit dir nur offenbare, wenn es notwendig wird.«

»Notwendig wird? Wie soll ich das verstehen?«

»Wenn das im Zuge meiner Nachforschungen ans Licht gebracht werden muß, dann werde ich es ans Licht bringen. Wenn es aber dafür ohne Bedeutung ist, dann bleibt es ein Geheimnis zwischen uns. Ist das nicht fair?«

Deog schluckte und nickte dann zustimmend. »Das muß wohl genügen.«

»Gut. Nun ist es dunkel geworden, und wir müssen zurück nach Fearna.«

Sie verließen die Hütte und machten ihre angebundenen Pferde los.

Die Nacht war finster und kühl, Wolken jagten über den Himmel und verdeckten meistens die Sterne und den Mond, so daß man nicht weit sehen konnte.

»Am besten geben wir den Pferden die Zügel frei«, riet Enda. »Auf diese Weise nehmen sie den Rückweg vorsichtiger.«

Fidelma lächelte in sich hinein. Sie hatte beinahe eher reiten als laufen gelernt und kannte sich mit Pferden aus. Sie überließ es dem Pferd, den Weg zu finden, und lenkte es nur gelegentlich sanft in die richtige Richtung. Sie ritt hinter Enda, den sie als dunklen Schatten vor sich sah. Sie wußte, daß der junge Krieger genau auf die Umgebung achtete und jede Gefahr witterte.

Der Spätherbstabend wurde richtig kalt. Sie ahnte, daß es in der Nacht Frost geben werde, den ersten Frost des bevorstehenden Winters. Sie hoffte, daß Eadulf nicht im Freien schlafen müßte. Der Gedanke ließ sie erschauern. Doch wenn er sich nicht in den umliegenden Wäldern oder Bergen verbarg, wo war er dann? Wer würde ihm Schutz bieten?

Sie hatte lange darüber nachgedacht, wie er wohl die Flucht aus seiner Zelle in der Abtei bewerkstelligt hatte. Immer wieder war sie zu der Schlußfolgerung gekommen, daß ihm jemand von außen geholfen haben mußte. Aber wer? Und warum?

»Den Weg nicht, Lady!« rief Enda aus der Dunkelheit vor ihr.

Fidelma stutzte.

Sie begriff, daß sie, tief in Gedanken, ihrem Pferd zuviel Freiheit gelassen hatte. An einer Weggabel hatte das Pferd den Pfad zur Linken genommen. Fidelma zog rasch den Zügel an und lenkte es Enda nach.

»Tut mir leid, ich hab nicht aufgepaßt«, rief sie. »Weißt du, wohin dieser Weg führt? Er scheint direkt nach Süden zu gehen.«

»Er führt zu einem Ort namens Cam Eolaing. Der soll an demselben Fluß liegen, der an der Abtei vorbeifließt, aber es ist weiter nach Fearna, wenn wir nach Cam Eolaing hinunterreiten und den Weg am Fluß entlang nehmen.«

»Cam Eolaing?« Fidelma fragte sich, warum ihr der Name bekannt vorkam. Sie hatte ihn kürzlich gehört, wußte aber nicht mehr, wo und in welchem Zusammenhang. »Und dies ist der kürzeste Weg?«

»Ja. Wir sind ...«

Enda erkannte die Gefahr eine Sekunde bevor der Schrei Fidelma aufschreckte. Drei oder vier schattenhafte Gestalten stürmten durch das Unterholz neben dem Weg und versuchten, sich ihrer Pferde zu bemächtigen. Instinktiv riß Fidelma am Zügel ihres Pferdes, das sich aufbäumte und mit den Vorderbeinen ausschlug, als es die Kandare im Maul spürte. Die Hufe trafen eine der Gestalten, die mit einem Schmerzensschrei hintenüber flog.

Es waren Männer, und sie waren bewaffnet, nicht nur mit Knüppeln, sondern mit Schwertern, soweit man das in der Dunkelheit erkennen konnte. Sie riß wieder an ihrem Pferd, ihrem einzigen Schutz.

Vor ihr hatte Enda sein Schwert gezogen und einen anderen Angreifer niedergehauen.

»Reit zu, Lady, schnell!« schrie der junge Mann.

Gerade als sie ihrem Pferd die Hacken in die Weichen stieß, um es voranzutreiben, rissen die Wolken einen Moment auf, und der helle, weiße Wintermond beleuchtete den Schauplatz mit fast unirdischem Glanz. Sie schaute nach unten, und für einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen.

Es war das Gesicht des Flußschiffers Gabran, das wütend zu ihr emporstarrte.

Dann schoß ihr Pferd vorwärts, und sie galoppierte den dunklen Pfad entlang, mit Enda an ihrer Seite.

Erst einen Kilometer weiter parierten sie ihre schnaubenden Pferde und ließen sie sich von dem rasenden Galopp erholen. Glücklicherweise verlief der Weg hier gerade und war leidlich eben, sonst wäre der überstürzte Ritt durch die Dunkelheit äußerst gefährlich geworden.

Enda stieß das Schwert in die Scheide zurück. »Räuber!« schnaubte er verächtlich. »Dieses Land ist voller Räuber!«

»Das glaube ich nicht«, widersprach Fidelma.

Enda fuhr herum. »Was meinst du damit, Lady?«

»Der Mond kam einen Moment hinter den Wolken hervor, und ich erkannte ihren Anführer. Es war Ga-bran.«

»Gabran?« Endas Ton verriet sein Erstaunen, gemischt mit einer gewissen Befriedigung. »Hab ich nicht gesagt, da gibt es einen Zusammenhang?«

»Ja, das hast du. Ich hatte ganz vergessen, daß sein Schiff am Kai vertäut lag in der Nacht, als das Mädchen ermordet wurde. Und dann wurde in der nächsten Nacht einer seiner Leute umgebracht. Du hattest recht, mich darauf hinzuweisen. Agnus Dei!« Sie schloß mit einem Ausruf.

Enda war verblüfft. »Was ist, Lady?«

»Gabrans Schiff lag auch dort, als Daig ertrunken aufgefischt wurde. Hat uns Deog nicht erzählt, daß ein Matrose von einem Schiff namens Cag die Leiche fand? Die Cag ist Gabrans Schiff.«

Enda stieß einen leisen Pfiff aus. »Bist du sicher, daß du ihn erkannt hast, Lady? Es war dunkel.«

»Der Mondschein fiel lange genug auf sein Gesicht, Enda. Diese Visage vergißt man nicht so leicht.«

»Dann sehen wir lieber zu, daß wir schnell nach Fearna kommen, für den Fall, daß sie auch Pferde haben und uns nachsetzen«, sagte er beunruhigt. »Was meinst du, was er vorhat, Lady?«

Sie ritten nebeneinander in schnellem Schritt weiter.

»Ich habe keine Ahnung. Es war gut, daß du diesen Zusammenhang hergestellt hast, Enda. Er lag offen vor mir, aber ich habe ihn nicht gesehen. Es gibt hier ein großes Geheimnis. Es wird jeden Augenblick größer, und wie du schon sagtest, immer ist Gabran dabei.«

Enda schwieg einen Moment. Dann gestand er: »Ich kann mir nicht erklären, warum Gabran uns angegriffen hat, Lady. Wahrscheinlich denkt er, wir wüßten mehr, als wirklich der Fall ist.«

Nach dem, was sie erwogen hatte, vermutete Fidelma das ebenfalls.

Gewöhnlich waren Tatsachen wie eine Perlenkette. Es gab immer einen verbindenden Faden zwischen ihnen, auch wenn viele Perlen fehlten oder richtig sortiert werden mußten; es gab immer einen unwiderleglichen Zusammenhang. Aber diesmal konnte Fidelma keinen Faden entdecken, keinen Zusammenhang zwischen den Tatsachen, die sie gesammelt hatte - keinen außer dem merkwürdigen Fakt, daß bei jedem Ereignis dieser dürre kleine Flußschiffer auftauchte. Im übrigen trieb er ja auch Handel mit der Abtei und hatte ungehinderten Zugang zu den Räumen der Äbtissin Fainder, wie sie erlebt hatte. Zudem nächtigte er im Gasthaus zum Gelben Berg. War er der Faden, der alles zusammenhielt? Aber wie?

Als sie den Weg am Fluß erreichten und an die düsteren Mauern der Abtei kamen, hob Fidelma den Kopf, den sie nachdenkend gesenkt hatte.

»Wir müssen mehr über Gabran in Erfahrung bringen«, sagte sie schließlich laut und spürte sofort, daß sie das Offensichtliche ausgesprochen hatte.

»Meinst du, er hat gemerkt, daß du ihn erkannt hast?« fragte Enda.

»Da bin ich nicht sicher. Sieh mal nach, ob sein Schiff noch am Kai der Abtei liegt. Ich vermute, es ist weg. Wahrscheinlich ist es jetzt nahe der Stelle vertäut, wo wir angegriffen wurden. Aber es lohnt sich, nachzuschauen.«

Sie ritten nun an den Kais vorbei, und Enda sprang ab und reichte Fidelma die Zügel, während er die Flußschiffe musterte.

»Sein Schiff hieß Cag, nicht wahr?« fragte Enda.

»Die >Dohle<, das stimmt.«

Enda ging auf den dunklen Schatten eines Schiffes zu, das am Kai der Abtei vertäut lag. Sie sah, wie jemand an Deck kam, und hörte Stimmen. Dann kehrte Enda zurück und schüttelte den Kopf.

»Ist das Gabrans Schiff?« fragte Fidelma.

»Nein, Lady«, antwortete Enda und stieg wieder auf. »Der Mann sagte, die Cag habe am Nachmittag abgelegt und sei flußaufwärts gefahren.«

»Wußte der Mann, wo Gabran herstammt?«

»Danach habe ich ihn gefragt, doch er wußte es nicht. Aber Lassar wird sicher wissen, wo sein Heimathafen am Fluß ist. Sie kennt ihn anscheinend ganz gut.«

»Da hast du wohl recht.«

Sie ritten um die Mauern der Abtei herum, in die Stadt und geradewegs auf Gasthaus zum Gelben Berg zu.

Ein Stallbursche nahm ihnen die Pferde ab, und als sie den warmen Hauptraum betraten, kam Dego ihnen entgegen. Er schien erleichtert, sie zu sehen.

»Ich wollte schon losreiten und euch beide suchen«, sagte er. »Es ist bereits seit einer Ewigkeit dunkel, und in dieser Gegend sollte man nicht im Finstern unterwegs sein.«

Fidelma beruhigte ihn.

»Darin geben wir dir recht, Dego. Suchen wir uns einen Tisch am Feuer und sehen, was Lassar uns heute abend zu essen anbieten kann. Nicht, daß ich besonderen Hunger hätte.«

Lassar kam geschäftig in die Gaststube und brachte ein Tablett mit Getränken. Sie erblickte sie, bediente ihre Gäste und eilte mit einladendem Lächeln zu ihnen hin.

»Ich habe mich schon gefragt, ob du noch zur Abendmahlzeit kommst, Schwester. Heute abend bist du spät dran. Hast du nach dem Angelsachsen gesucht? Wie ich gehört habe, hat man keine Spur von ihm gefunden.«

Fidelma hatte ihren Reisemantel abgelegt und wies auf einen Tisch nahe dem großen Feuer, das im Kamin prasselte.

»Wir sind ausgeritten«, bestätigte sie kurz. »Wir setzen uns hier hin, und du sagst uns, was du uns an diesem kühlen Abend anbieten kannst.«

Lassar folgte ihnen an den Tisch und wartete, bis sie sich niedergelassen hatten.

»Als Hauptgericht gibt es heute lonlongin, Ochsengurgel, mit Hackfleisch gefüllt und wie Wurst gekocht. Das ist eine hiesige Spezialität. Ihr könnt aber auch Fisch haben, Lachs zum Beispiel, und ich habe auch noch etwas Seehundsfleisch, das ich mit duilesc und Butter serviere.«

»Dieser Fleischpudding hört sich gut an«, erklärte Enda begeistert.

Fidelma rümpfte angewidert die Nase. »Ich nehme Lachs mit duilesc.« Sie hatte eine Vorliebe für die eßbare rote Meeresalge.

»Ihr könnt auch die Haarzwiebel, den Lauch, mit Gänseei und Käse bekommen, wenn ihr möchtet«, setzte Lassar hinzu.

»Ich bleibe bei Lachs, aber Haarzwiebel klingt gut.«

Dego schloß sich Enda beim lonlongin an, das mit Wurzelgemüse serviert wurde. Die nächste halbe Stunde verbrachten sie schweigend. Fidelma empfand jeden Bissen als Tortur beim Gedanken an Eadulf und daran, wie es ihm wohl in dieser kalten Nacht ergehen mochte. Sie konnte sich besser konzentrieren, wenn sie eine Aufgabe, ein Ziel hatte, doch ihren eigenen Vorstellungen überlassen, verfiel sie in eine düstere Stimmung. Endlich brach sie das Schweigen und wandte sich an Dego.

»Hast du mehr über Coba in Erfahrung bringen können?«

Dego nahm erst einmal einen Schluck Wein. »Kaum. Er hat eine Burg nicht weit von hier, an einem Ort namens Cam Eolaing. Er ist ein kleiner Fürst und Friedensrichter, sehr angesehen, und er hält nichts von Fianamails Einführung der Bußgesetze.«

Fidelma war gereizt. Das hätte sie Dego auch sagen können.

»Aber würde er sich so entschieden gegen Fianamail stellen, daß er Eadulf zur Flucht verhelfen würde?« fragte sie.

Dego zuckte die Achseln und schwieg.

»Morgen werden wir diesen Fürsten aufsuchen«, entschied Fidelma.

Als Lassar kam und das benutzte Geschirr abräumte, ergriff Fidelma die Gelegenheit, sich bei ihr nach Gabran zu erkundigen.

»Gabran? Warum fragst du nach ihm?« Lassar sah sie mißtrauisch an.

»Ich interessiere mich für den Handel auf dem Fluß, weiter nichts.«

»Er ist jetzt für ein paar Tage fort.«

»Fort?« fragte Fidelma harmlos. »Zurück zu seinem Heimathafen? Wo stammt er eigentlich her - irgendwo flußaufwärts?«

»Nicht weit von hier - aus Cam Eolaing. Weiter aufwärts ist der Fluß kaum noch schiffbar.«