177827.fb2 Vor dem Tod sind alle gleich - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 5

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Kapitel 3

Fidelmas Gesicht war kreidebleich, in ihm spiegelte sich die furchtbare Angst, die sie erfüllte. Es war, als wäre alles Blut aus ihrem Körper gewichen.

»Alles vorbei? Heißt das ...?« Sie schluckte und konnte kaum die Frage formulieren, die ihr Denken beherrschte.

»Der Angelsachse wird morgen mittag hingerichtet«, sagte Fianamail gleichgültig.

Eine Welle der Erleichterung durchlief Fidelma. »Dann ist er also noch nicht tot?« Die Worte kamen wie ein schaudernder Seufzer. Für den Augenblick getröstet, schloß sie die Augen.

Der junge König schien ihre Gefühle nicht wahrzunehmen. Er stieß mit dem Fuß ein Scheit zurück, das aus dem Kamin gefallen war.

»Er ist so gut wie tot. Die Angelegenheit ist abgeschlossen. Du hast die lange Reise umsonst gemacht.«

Fidelma beugte sich vor und schaute Fianamail fest ins Gesicht.

»Ich betrachte die Angelegenheit noch nicht als abgeschlossen. Auf der Reise hierher habe ich eine Geschichte gehört. Es ist eine Geschichte, die ich vom König von Laigin nicht glauben kann. Man hat mir gesagt, du hättest das einheimische Recht abgeschafft und angeordnet, daß die Strafen nach den neuen Bußgesetzen von Rom verhängt werden sollten. Stimmt es, daß du so etwas verfügt hast?«

Fianamail lächelte immer noch, doch ohne Wärme.

»Als Strafe wurde die Hinrichtung bestimmt, Fidelma von Cashel. Das ist so entschieden worden. Darin habe ich mich von meinem geistlichen Berater und von meinem Brehon leiten lassen. Laigin wird bei der Befreiung von unseren alten heidnischen Bräuchen vorangehen. Christliche Strafen sollen die Verbrechen in diesem Lande sühnen. Ich will beweisen, wie christlich mein Königreich Laigin geworden ist. Es bleibt beim Todesurteil.«

»Ich glaube, du vergißt das Gesetz, Fianamail von Laigin. Selbst die Bußgesetze sehen das Recht vor, Berufung einzulegen.«

»Berufung?« Fianamail machte ein erstauntes Gesicht. »Aber das Urteil ist von meinem Brehon gefällt worden. Ich habe es bestätigt. Dagegen ist keine Berufung möglich.«

»Es gibt einen höheren Richter als deinen Brehon«, erklärte ihm Fidelma. »Der Oberrichter von Eireann kann herbeigerufen werden. Ich glaube, er wird einiges zur Frage der Bußgesetze zu sagen haben.«

»Mit welcher Begründung willst du eine solche Berufung beim Oberrichter der fünf Königreiche einlegen?« fragte Fianamail spöttisch. »Du hast keine Ah-nung von dem Fall und von der Beweislage. Außerdem findet die Hinrichtung morgen statt, und wir können nicht eine Woche damit warten, bis der Oberrichter eintrifft.«

Sein selbstzufriedenes Lächeln reizte Fidelma zum Zorn, und sie bemühte sich, ihn zu beherrschen.

»Bis ich den Fall untersucht habe, appelliere ich an dich, die Vollstreckung des Urteils aufzuschieben, mit der Begründung, daß Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham möglicherweise nicht richtig verteidigt wurde und daß das Gericht seine Rechte nicht genügend berücksichtigt hat.«

Fianamail lehnte sich mit einer Miene offenen Hohns zurück.

»Das hört sich an wie der Mut der Verzweiflung, Fidelma von Cashel. Du klammerst dich an einen Strohhalm. Nun, hier hast du keine Zuhörerschaft, an die du dich wenden kannst. Nicht wie in Ros Ailithir, wo du die Zuhörer gegen mich und Bischof Forbas-sach beeinflußt hast. Hier habe ich die letzte Entscheidung.«

Fidelma wußte, daß an Fianamails Moral zu appellieren zwecklos war. Der junge Mann wollte sich an ihr rächen. Sie änderte ihre Taktik und hob die Stimme.

»Du bist König, Fianamail, und welchen Groll du auch gegen mich oder Cashel hegst, du wirst dich wie ein König verhalten, denn wenn du es nicht tust, werden selbst die Pflastersteine, auf die du trittst, aufschreien und dich als ungerecht und böse bezeichnen.«

Fianamail erschrak über ihre Heftigkeit.

»Ich spreche als König, Fidelma von Cashel. Man hat mir gesagt, daß der Angelsachse jede Gelegenheit bekam, sich zu verteidigen«, antwortete er widerwillig.

Fidelma hakte sofort ein. »Sich zu verteidigen? Hat man ihm denn nicht einen dalaigh gestellt, der ihn vertrat - der nach dem Gesetz für ihn plädierte?«

»Dieses Vorrecht wird nur wenigen Ausländern gewährt. Es stimmt aber, daß er, weil er unsere Sprache spricht und sich offensichtlich in unserem Recht etwas auskennt, sich selbst verteidigen durfte. Er wurde nicht schlechter behandelt als jeder andere Wandermönch.«

»Dann hat euch Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham nicht gesagt, welchen Rang er besitzt?« fragte Fidelma, die einen schwachen Hoffnungsschimmer erkannte.

Fianamail starrte sie an und wußte nicht, worauf sie hinauswollte.

»Der Mann ist ein Mönch, ein Wallfahrer Christi. Was soll er denn sonst für einen Rang haben?«

»Er ist ein techtaire, nicht ein bloßer Wandermönch. Als techtaire steht er unter dem Gesetz Bretha Nemed, denn Eadulf reiste unter dem Schutz König Colgüs als Mitglied seiner Hofhaltung.«

Der junge König war leicht verwirrt. Er war kein dalaigh und kein Brehon und kannte das Gesetz nicht, auf das sich Fidelma bezog.

»Wieso stand der Angelsachse unter dem Schutz des Hauses deines Bruders?«

Fidelma spürte die Unsicherheit hinter seiner jugendlichen Arroganz. »Das ist leicht zu verstehen. Theodor von Canterbury, der Erzbischof und Berater aller angelsächsischen Königreiche, schickte Eadulf als seinen persönlichen Abgesandten zu meinem Bruder. Deshalb besitzt er einen Sühnepreis von acht cumals, halb so hoch wie dein eigener Sühnepreis als König von Laigin. Er hat die Rechte und genießt den Schutz eines Botschafters. Und er kann den halben Sühnepreis seines Dienstherrn beanspruchen. Auf dem Rückweg zu Theodor von Canterbury mit Botschaften meines Bruders behält Eadulf denselben Sühnepreis und steht im Dienst meines Bruders. Das Gesetz spricht sich eindeutig über den Schutz aus, den es einem Abgesandten zwischen einem König und einem Erzbischof zubilligt.«

»Aber er beging einen Mord«, wandte Fianamail ein.

»Das behaupten deine Gerichte«, stimmte ihm Fidelma zu. »Doch die Umstände müssen geprüft werden, denn heißt es nicht im Bretha Nemed, daß Diener des Königs Gewalttaten zur Selbstverteidigung in Erfüllung ihrer Pflichten straflos begehen dürfen? Welche Gründe gab es denn für sein Verbrechen? Es kann gut sein, daß er Immunität genießt. Hat man das berücksichtigt?«

Fianamail war sichtlich verwirrt von ihren juristischen Kenntnissen. Er hatte ihnen nichts entgegenzusetzen und gab das auch zu.

»Ich bin nicht so bewandert in der Rechtskunde wie du, Fidelma von Cashel«, gestand er. »Ich muß mich darüber beraten lassen.«

»Dann laß gleich deinen Brehon holen; soll er mir gegenüberstehen, und wir diskutieren die Präzedenzfälle.«

Fianamail stand auf, schüttelte den Kopf und schenkte sich am Tisch ein Glas Wein ein.

»Er ist jetzt nicht hier. Ich erwarte ihn erst morgen zurück.«

»Dann mußt du dir ohne ihn dein eigenes Urteil bilden, Fianamail. Ich habe dich, was das Gesetz betrifft, nicht belogen. Bei meiner Ehre als dalaigh und mit oder ohne Rat deines Brehons, wenn in diesem Königreich ein falsches oder irrtümliches Urteil gefällt worden ist, dann kann es dir passieren, daß du nicht für den richtigen König gehalten wirst und dich einem höheren Gericht stellen mußt. Kein König besitzt eine größere Vollmacht als das Gesetz.«

Fianamail versuchte zu überlegen, wie er sich am besten verhalten sollte. Er hob die Hände in einer hilflosen Geste und ließ sie wieder sinken.

»Was verlangst du eigentlich?« fragte er nach kurzem Zögern. »Heißt das, daß du Immunität für den Angelsachsen beanspruchst? Darauf will und werde ich nicht eingehen. Dazu war sein Verbrechen zu gräßlich. Was willst du?«

»Letzten Endes möchte ich dich bitten, zu den Gesetzen unseres Landes zurückzukehren«, erwiderte Fidelma. »Die fremden Bußgesetze entsprechen nicht unserem Denken. Aus Rache töten ist nicht unser Recht .«

Fianamail hob die Hand und unterbrach ihre Rede.

»Ich habe dem Abt Noe, meinem geistlichen Berater, und Bischof Forbassach, meinem Brehon, mein Wort gegeben, daß die vom Glauben vorgesehenen Strafen verhängt werden - Leben um Leben. Bringe deine Gründe für eine Berufung im Fall des Angelsachsen vor, aber gib dir keine Mühe, mich zur Änderung meines Erlasses über das Gesetz zu bewegen.«

Fidelma fühlte ihren Puls schneller schlagen, als sie merkte, daß seine Entschlossenheit bröckelte.

»Ich ersuche dich darum, die Hinrichtung zu verschieben, damit die Einzelheiten des Falles untersucht werden können, um sicherzugehen, daß dem Gesetz Genüge getan worden ist.«

»Ich kann das Urteil meines Brehons nicht umstoßen; das steht sowieso nicht in der Macht des Königs.«

»Gib mir Zeit, damit ich das Verbrechen, dessen ihr Eadulf für schuldig haltet, untersuchen kann und die Tatsachen prüfen auf der Basis der Vermutung, daß er unter dem Schutz eines fer taistil gehandelt hat, eines königlichen Beauftragten mit Immunität. Gib mir die Vollmacht, eine solche Untersuchung durchzuführen.«

Sie benutzte den juristischen Ausdruck fer taistil, der wörtlich »Reisender« bedeutete, der aber speziell einen Abgesandten zwischen zwei Königen bezeichnete.

Fianamail kehrte zu seinem Stuhl zurück. Mit gefurchter Stirn überdachte er den Fall. Es war klar, daß eine Zustimmung zu ihrer Forderung ihm Sorgen machte, er jedoch kein Argument dagegen finden konnte.

»Ich will mich nicht schon wieder mit deinem Bruder streiten«, gab er schließlich zu. »Ich will aber auch nichts tun, was den Verfahrensregeln und der Rechtsprechung in meinem Königreich zuwiderläuft.« Er rieb sich nachdenklich das Kinn. Nach einer Weile seufzte er tief. »Ich gebe dir Zeit, das Verbrechen zu untersuchen, dessen der Angelsachse schuldig befunden wurde. Wenn du etwas am Vorgehen und am Urteil unserer Gerichte findest, was nicht in Ordnung ist, will ich deine Berufung mit dieser Begründung zulassen.«

Fidelma unterdrückte ein erleichtertes Aufatmen. »Mehr verlange ich nicht. Aber ich brauche deine Vollmacht.«

»Ich lasse Feder und Pergament kommen und stelle sie aus«, stimmte er zu, nahm eine kleine silberne Handglocke und läutete.

»Gut.« Fidelma fühlte, wie ihr eine Last von den Schultern fiel. »Wieviel Zeit gewährst du mir für meine Untersuchung?«

Ein Diener trat ein und erhielt den Auftrag, die Schreibgeräte zu bringen. Die Augen des jungen Königs blickten kalt.

»Wie lange? Nun, du hast Zeit bis morgen mittag, dann soll das Urteil an dem Angelsachsen vollstreckt werden.«

Fidelmas vorübergehende Erleichterung fand ein plötzliches Ende, als sie erkannte, welche Beschränkung Fianamail ihr auferlegte.

»Na also«, lächelte Fianamail. »Du kannst nicht behaupten, ich hielte mich nicht an die Bräuche unseres Landes. Ich gebe dir Zeit, eine Berufung vorzubereiten. Das wolltest du doch.«

Der Diener kam mit den Schreibgeräten herein, und der König kritzelte schnell etwas auf das Pergament. Fidelma nahm sich Zeit zur Antwort.

»Gibst du mir nicht mehr als vierundzwanzig Stunden? Ist das Gerechtigkeit?« Sie sprach langsam und bemühte sich, ihren aufsteigenden Zorn nicht ausbrechen zu lassen.

»Ganz gleich, wieviel Gerechtigkeit, es ist jedenfalls Gerechtigkeit«, erwiderte Fianamail rachsüchtig. »Mehr schulde ich dir nicht.«

Einen Moment schwieg Fidelma und überlegte, womit sie noch an ihn appellieren könnte. Dann wurde ihr klar, daß es nichts mehr zu sagen gab. Der junge Mann besaß die Macht, und sie hatte keine größere Macht zur Verfügung, um sein Rachegelüst zu brechen.

»Nun gut«, sagte sie schließlich. »Wenn ich Gründe für eine Berufung finde, wirst du dann die Hinrichtung aufschieben bis zum Eintreffen des Oberrichters Barran, damit er den Fall prüfen kann?«

Fianamail rümpfte die Nase. »Wenn du Gründe für eine Berufung findest und meine Gerichte sie anerkennen, dann erlaube ich einen Aufschub, bis Brehon Barran herbeigerufen werden kann. Die Gründe für eine solche Berufung müssen aber stichhaltig sein und nicht bloß auf Verdacht beruhen.«

»Das versteht sich von selbst. Gestattest du mir auch, mich in diesen vierundzwanzig Stunden überall ungehindert zu bewegen, um meine Nachforschungen anzustellen?«

»Das steht alles hier drin.« Der König hielt ihr das Pergament hin. Sie nahm es nicht.

»Dann mußt du dein Siegel zur Bestätigung dafür darauf setzen, daß ich mit deiner Zustimmung und Vollmacht handele.«

Fianamail zögerte. Fidelma wußte, ein Stück Pergament mit seiner Zustimmung, daß sie ein paar Fragen stellen durfte, war nichts wert ohne das Siegel des Königs.

Der König war sich wiederum nicht schlüssig.

»Die Tötung eines techtaire gilt beim Oberrichter und beim Großkönig als ein schwerer Verstoß«, stellte sie nachdrücklich fest. »Für den Tod eines Königsboten, ob durch Mord oder Hinrichtung, muß man sich rechtfertigen. Es wäre klug, wenn du mir die Vollmacht erteiltest, den Fall zu untersuchen.«

Schließlich nahm Fianamail achselzuckend ein Stück Wachs aus der Dose, hielt es an die Kerze, bis Tropfen auf das Pergament fielen, und drückte seinen Siegelring darauf.

»Jetzt hast du meine Zustimmung. Es soll nicht heißen, ich hätte dir nicht alle Wege geöffnet.«

Fidelma war zufrieden und nahm die Vollmacht an sich.

»Ich möchte Bruder Eadulf sofort sprechen. Wird er hier in deiner Burg gefangengehalten?«

Zu ihrer Überraschung schüttelte Fianamail den Kopf. »Nein, nicht hier.«

»Wo dann?«

»Er sitzt drüben in der Abtei.«

»Was macht er dort?«

»Dort hat er sein Verbrechen begangen, und dort wurde er auch verhört und verurteilt. Äbtissin Fainder hat den Fall selbst in die Hand genommen, denn das Opfer war eine ihrer Novizinnen. In der Abtei wurde dem Angelsachsen der Prozeß gemacht, und dort wird er morgen hingerichtet.«

»Äbtissin Fainder? Ich dachte, die Abtei Fearna unterstände Abt Noe?«

»Wie ich dir schon sagte, ist Abt Noe jetzt mein geistlicher Berater und Beichtvater ...«

»Beichtvater? Das ist ein römischer Begriff.«

»Nenn ihn >Seelenfreund<, wenn du bei den komischen altmodischen Bräuchen der irischen Kirche bleiben willst. Ich habe ihm die religiöse Gerichtsbarkeit in meinem ganzen Königreich übertragen. Die Abtei des heiligen Maedoc wird nun von der Äbtissin Fainder geleitet. Ihre Verwalterin ist übrigens eine entfernte Kusine von mir, Etromma.« Es klang plötzlich entschuldigend. »Aus einem armen Zweig meiner Familie, mit dem ich wenig zu tun habe, aber sie soll die Geschäfte der Abtei sehr gut führen, wie ich höre. Doch es ist die Äbtissin selbst, die gefordert hat, daß uns die Bußgesetze in unserem christlichen Glauben wie auch in unserem täglichen Leben leiten sollen und die Bestrafung des Angelsachsen nach ihnen erfolgen soll.«

»Äbtissin Fainder?« überlegte Fidelma. »Von ihr habe ich noch nie etwas gehört.«

»Sie ist erst kürzlich nach mehreren Jahren, in denen sie Dienst in Rom tat, in unser Königreich zurückgekehrt.«

»Und sie tritt also für die römischen Bußgesetze gegen die Weisheitsschriften ihres eigenen Landes ein?«

Fianamail neigte bejahend den Kopf.

»Ich verstehe«, sagte Fidelma. »Du erwähntest, daß Bruder Eadulf beschuldigt wird, den Tod einer Novizin in der Abtei verursacht zu haben. Wen genau soll er denn getötet haben?«

Fianamail sah sie mit gespieltem Vorwurf an. »Bei jemandem, der in gestrecktem Galopp von Cashel herreitet und die Unschuld des Angelsachsen beweisen will, hätte ich gedacht, er wüßte, wessen er angeklagt ist«, spottete er.

»Des Mordes natürlich. Aber wen soll er denn ermordet haben?«

Fianamail heuchelte Mitleid. »Ich fürchte, Fidelma von Cashel, du hast dich mit dem Herzen in diesen Auftrag gestürzt und nicht mit dem Kopf.«

Fidelma errötete heftig. »Ich möchte, daß der Gerechtigkeit Genüge getan wird«, erklärte sie steif. »Wen also soll er getötet haben?« fragte sie erneut.

»Dein angelsächsischer Freund vergewaltigte ein junges Mädchen und erdrosselte es dann«, sagte der König ausdruckslos und beobachtete ihr Gesicht dabei. »Sie war Novizin in der Abtei ... und sie war erst zwölf Jahre alt.«

Auch nachdem sie aus dem Zimmer des Königs geleitet worden war, fühlte sich Fidelma wie betäubt. Von allen denkbaren Verbrechen war die Vorstellung, Eadulf sollte ein zwölfjähriges Mädchen vergewaltigt und dann ermordet haben, die abscheulichste. Wie konnte man Eadulf dessen schuldig befinden? Der Natur des Mannes, den sie kannte, war so etwas völlig fremd.

Im Hof der Burg wartete Fidelma, bis keine Krieger von Laigin mehr in Hörweite waren, und wandte sich dann an Dego, Aidan und Enda.

»Einer von euch muß nach Tara reiten und den Oberrichter Barran aufsuchen«, sagte sie leise. »Es wird ein gefährlicher Ritt durch das feindliche Gebiet von Laigin, aber es muß schnell geschehen.«

Aidan meldete sich sofort.

»Ich bin der beste Reiter hier, Lady«, sagte er einfach. Das war nicht ruhmredig gemeint, und Dego und Enda verschwendeten auch keine Zeit mit Widerspruch. Fidelma akzeptierte seine Feststellung ohne weiteres.

»Du mußt Barran überzeugen, daß er sofort mit dir herkommt, Aidan. Schildere ihm die Lage, soweit du sie kennst. Wenn nötig, bitte ihn in meinem Namen. Aber, Aidan . sei ganz vorsichtig. Es gibt hier wahrscheinlich Leute, die nicht wollen, daß du nach Tara gelangst oder gar mit Barran zurückkehrst.«

Aidan war zuversichtlich.

»Das verstehe ich und werde aufpassen, Lady. Ich brauche nicht lange, um das Gebiet der südlichen Ui Neill zu erreichen. Sie sind keine Freunde von Laigin, und wenn ich erst dort bin, habe ich nichts mehr zu befürchten. Mit einigem Glück bin ich in ein paar Tagen wieder hier.«

»Ich kann weiter nichts tun als die Hinrichtung morgen verhindern. Dann muß ich hoffen, daß du rechtzeitig mit Barran zurückkommst, und herausfinden, was hier eigentlich gespielt wird«, meinte sie.

Aidan setzte zögernd an. »Bist du sicher, daß es hier etwas herauszufinden gibt, Lady? Ich meine, könnte es sein ...?« Er verstummte unter ihrem mißbilligenden Blick.

Dego schaltete sich besorgt ein.

»Wenn Aidan hier am hellen Tage losreitet, Lady, hat er keine große Chance, falls Krieger von Laigin uns beobachten, wovon man wohl ausgehen kann.«

»Dann geben wir ihnen eben etwas zu beobachten«, erwiderte Fidelma mit einem plötzlichen Aufwallen ihrer alten Zuversicht. »Wir gehen in die Stadt und suchen uns eine Unterkunft. Sind wir erst einmal in der Menschenmenge, verläßt uns Aidan. Wenn er nach Westen zum Slaney reitet, sieht es so aus, als ob er einfach nach Cashel zurück will. Dicht am Fluß gibt es genügend Wald, und in dessen Schutz kann er sich nach Norden wenden. Einverstanden?«

»Einverstanden«, erklärte Aidan. Dann fuhr er fort: »Es tut mir leid, Lady, daß ich gezweifelt habe .«

Fidelma legte ihm die Hand auf den Arm.

»Du hast das Recht zu zweifeln, Aidan. Das Unvorstellbare könnte wahr sein - Eadulf könnte schuldig sein. Wir wollen nicht vorschnell urteilen. Aber denken wir auch daran, daß wir ihn kennen.«

Dego wechselte Blicke mit seinen Kameraden.

»Wir halten zu dir, Lady. Gehen wir jetzt?«

»Sogleich. Wir führen unsere Pferde vom Tor langsam und zwanglos den Berg hinunter, und wenn wir zwischen den Häusern sind und den Blicken von der Burg entzogen, dann kann Aidan aufsitzen und nach Westen reiten.«

Sie ließen ihre Pferde aus dem Stall holen. Als die Stallburschen sie brachten, kam der Befehlshaber der Wache heraus.

»Bleibt ihr nicht hier, Lady?« fragte er überrascht. Für gewöhnlich wurde hochstehenden Besuchern die Gastfreundschaft des Königs angeboten.

»Wir suchen uns eine Unterkunft in der Stadt«, erklärte sie ihm. »Es ist besser, wenn ich und meine Begleiter uns nicht der Gastfreundschaft eures Königs aufdrängen.«

Der Mann schaute verblüfft drein. Es war ungewöhnlich, aber er wußte etwas von der Feindschaft zwischen Fearna und Cashel und führte ihren Weggang darauf zurück.

»Sehr wohl, Lady. Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«

»Vielleicht kannst du uns ein Gasthaus in der Stadt empfehlen.«

Der Befehlshaber der Wache reagierte sofort. »Es gibt mehrere, Lady. Ich habe eine Schwester, die das Gasthaus zum Gelben Berg gleich hinter dem Hauptplatz führt. Es ist nach dem Ort benannt, aus dem wir stammen, sieben Kilometer nordöstlich von hier. Ihr Haus ist sauber und ruhig. Sie duldet keine Rüpeleien.«

»Dorthin werden wir uns wenden«, versicherte ihm Fidelma mit dankbarem Lächeln.

»Sie heißt Lassar. Sag ihr, daß ihr Bruder das Haus empfohlen hat.«

Mit den Zügeln über dem Arm führten sie die vier Pferde durch das Tor der Burg und den abfallenden Weg hinunter zu dem Gewirr der Häuser. Es war Mittag, und in den Straßen drängten sich die Menschen. Auf dem Hauptplatz wurde Markt gehalten, er war voller Stände, an denen alle Arten von Fisch, Geflügel und Fleisch verkauft wurden ebenso wie Obst und Gemüse. Die Verkäufer, die sich im Anlocken von Kunden gegenseitig überboten, veranstalteten ein ohrenbetäubendes, mißtönendes Getöse.

Fidelma führte die drei Krieger über den vollen Platz zur Mündung einer Seitenstraße und sah sich um. Sie waren nicht mehr im Blickfeld der Wachposten der Burg. Sie wandte sich an Aidan.

»Du weißt, was du zu tun hast?«

Der junge Mann lachte und sprang in den Sattel. »Ich sehe dich hier in ein paar Tagen wieder und brin-ge Barran mit, Lady. Wenn ich nicht zurückkehre, heißt das, daß ich tot bin.«

»Dann sorge dafür, daß du zurückkehrst.«

Er hob die Hand zum Gruß und grub seinem Pferd die Hacken in die Weichen.

Sie sahen ihm nach, wie er die Straße so schnell entlangritt, wie es die Passanten erlaubten. Dann verschwand er hinter Gebäuden. Fidelma seufzte tief und drehte sich zu ihren verbleibenden zwei Begleitern um.

»Wohin jetzt, Lady?« fragte Dego. »Gehen wir zur Abtei und suchen Bruder Eadulf?«

»Als erstes sollten wir dem Vorschlag des Befehlshabers der Wache folgen und das Gasthaus seiner Schwester suchen«, lächelte Fidelma. »Dann gehe ich zur Abtei.«

»Ist das nicht gefährlich? Ich meine, ein Gasthaus zu nehmen, das ein Krieger von Laigin empfohlen hat?« fragte Enda.

»Vielleicht auch nicht. Die Beziehung könnte uns nützlich werden. Ich glaube nicht, daß mit der Empfehlung eine Hinterlist verbunden ist. Ich denke, der Mann ist ehrlich.«

»Ein Krieger von Laigin und ehrlich?« Dego schien überzeugt, so etwas gäbe es nicht.

Fidelma erklärte ihre Meinung nicht weiter, sondern hielt einen Vorbeikommenden an und fragte ihn nach dem Gasthaus zum Gelben Berg. Es stellte sich heraus, daß es nur eine Straße weiter lag, aber vor dem Lärm des Hauptplatzes durch andere Gebäude geschützt war. Es machte sich kenntlich durch ein Schild mit einem gelben Dreieck, das sichtlich einen Berg darstellte. Das Gasthaus war groß, ein zweistöckiges Holzhaus mit eigenem Hof und Ställen. Es schien beliebt zu sein, denn mehrere Leute gingen hinein oder kamen heraus.

Sie führten ihre Pferde in den Hof, und Dego nahm Fidelmas Zügel, während sie zur Tür des Hauses schritt. Eine füllige Frau eilte heraus, als Fidelma sich näherte. Sie hatte ein freundliches Gesicht, und Fidelma stellte eine Ähnlichkeit mit dem Befehlshaber der Wache fest.

»Zimmer für die Nacht?« begrüßte sie die Frau. »Wir bieten die besten Preise in Fearna, Schwester. Und du findest hier eine bessere Unterkunft und besseres Essen, als wenn du um kostenlose Unterbringung in der Abtei bittest .«

Sie brach ab, als sie plötzlich an der Ausrüstung der beiden Krieger erkannte, daß sie aus Muman kamen.

»Bist du Lassar?« fragte Fidelma freundlich und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich.

»Ja.« Mit mißtrauischer Miene musterte die Wirtin die Fragestellerin.

»Es war dein Bruder, der Krieger in der Burg, der uns dein Gasthaus empfohlen hat, Lassar.«

Die Augen der Frau weiteten sich achtungsvoll. »Ihr wart in Fianamails Burg?«

»Es gehörte zu meinem Auftrag hier, auch mit Fia-namail zu sprechen«, erklärte ihr Fidelma. »Hast du Zimmer für meine Begleiter und für mich?«

Lassar schaute zweifelnd zu den Kriegern hinüber, ehe sie Fidelma antwortete.

»Ich habe ein Zimmer, das sie sich teilen können, und ein kleines Zimmer für dich allein - aber das kostet mehr, als wenn ihr zusammen in einem Zimmer schlaft«, fügte sie gleich hinzu.

»Das ist kein Problem.«

Lassar hob die Hand, und wie aus dem Nichts erschien ein Stallbursche und führte ihre Pferde fort. Dego hatte ihnen rasch noch die Satteltaschen abgenommen.

Die breitgesichtige Frau winkte sie herein. »Dann hat also Mel das Gasthaus empfohlen, ja?«

»Mel?«

»Mein Bruder. Ich dachte, er fühlte sich vielleicht zu erhaben, um sich an mein Geschäft zu erinnern, wo er doch jetzt der Befehlshaber von Fianamails Palastwache ist.«

»Jetzt?« Fidelma war die leichte Betonung nicht entgangen. »Ist er erst kürzlich Befehlshaber geworden?«

»O ja. Er ist gerade erst in die Wache aufgenommen und zu ihrem Hauptmann gemacht worden.«

Lassar führte sie die Treppe zum zweiten Stock hinauf und zu einer Tür, die sie mit einer Miene aufriß, als enthülle sie einen kostbaren Schatz. Es war ein dunkles, enges Zimmer mit einem winzigen Fenster, das einem Furcht einflößen konnte.

»Das ist dein Zimmer, Schwester.«

Fidelma hatte schon Schlimmeres gesehen. Wenig-stens schien es warm zu sein, und das Bett war bequem.

»Und das Zimmer für meine Begleiter?«

Lassar zeigte den Korridor entlang.

»Das da hinten können sie sich teilen. Möchtet ihr auch im Hause essen?«

»Ja, allerdings könnten sich unsere Pläne ändern.«

Lassar überlegte. »Dann wollt ihr also einige Zeit bleiben?«

»Wahrscheinlich eine Woche«, antwortete Fidelma. »Was nimmst du dafür?«

»Da ihr drei seid, und wenn ihr mir eine Woche garantiert, dann nehme ich einen pinginn für jede Person. Das ist ein screpall pro Tag. Dafür könnt ihr euch im ganzen Hause bewegen, kommen und gehen, wann ihr wollt, und essen, wann ihr wollt. Heißes Wasser zum Baden gibt es abends. Ihr seht, ich habe recht. Ihr fahrt besser, wenn ihr hier bleibt und nicht die Gastfreundschaft der Abtei beansprucht.«

Es war das zweite Mal, daß sich die Wirtin herabsetzend über die Abtei äußerte, und das erweckte Fi-delmas Interesse. Es stimmte, daß reisende Mönche und Nonnen normalerweise in einer Abtei kostenloses Obdach erhielten. Doch Lassars Meinung von der Abtei und ihrer Gastfreundschaft war überraschend schlecht, selbst für eine Gastwirtin, die die Abtei als Konkurrenz betrachten mußte.

»Weshalb sagst du das?« fragte sie.

Die Frau setzte eine trotzige Miene auf. »Offensichtlich bist du fremd hier.«

»Das habe ich nicht bestritten.«

»Die Zeiten haben sich geändert, Schwester. Mehr sage ich nicht. Die Abtei ist ein Ort des Elends geworden. Früher hatte ich Mühe, Reisende für mein Gasthaus zu gewinnen, denn viele suchten die Gastfreundschaft der Klostermauern. Heute will dort keiner mehr hin. Nicht seit ...« Sie hielt plötzlich inne und erschauerte.

»Nicht seit ...?« forschte Fidelma.

»Mehr sage ich nicht, Schwester. Ein screpall pro Tag für alle drei, wenn ihr die Zimmer nehmen wollt.«

Fidelma merkte, daß sich Lassar nichts Näheres über ihre Meinung zur Abtei entlocken lassen würde.

»Ein screpall pro Tag ist in Ordnung«, erklärte sie und schaute Dego und Enda an. »Ich gebe dir drei screpalls im voraus für die Zimmer. Wir möchten uns erst waschen und dann so bald wie möglich essen.«

»Wenn ihr euch kalt waschen wollt, ist das kein Problem. Heißes Wasser gibt es, wie gesagt, erst abends zum Baden. Ich habe jetzt hier wenig Hilfe, seit mein Bruder so eine großartige Stellung da oben im Palast bekommen hat.«

»Kein Problem«, versicherte ihr Fidelma, nahm einige Münzen aus ihrem marsupium, ihrer ledernen Gürteltasche, und reichte sie ihr.

Die Frau zählte die Münzen in der Hand. Dann lächelte sie zufrieden.

»Ich lasse euch Wasser auf die Zimmer bringen, und dann könnt ihr herunterkommen und essen, wann ihr wollt, allerdings nur kalte Speisen. Warme Mahlzeiten gibt es abends, weil .«

Fidelma lächelte nachsichtig. »Ich weiß. Wir sind dir für deine Hilfe dankbar, Lassar.«

Die Wirtin verschwand die Treppe hinunter. Dego atmete erleichtert auf.

»Was jetzt, Lady?« fragte er. »Was machen wir als nächstes?«

»Nachdem wir uns erfrischt haben, schlage ich vor, wandert ihr unauffällig in der Stadt umher und versucht möglichst viel über die Ereignisse hier aufzuschnappen. Stellt fest, was die Leute über die zwangsweise Einführung der Bußgesetze und ihrer Strafen statt unserer hergebrachten denken.«

»Und was machst du, Lady?« fragte Enda. »Sollten wir dich nicht lieber begleiten?«

Fidelma schüttelte den Kopf. »Ich gehe zur Abtei. Ich will Eadulf sprechen.«