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Der pure Zufall hatte sie zu ihm geführt. Hätte er nicht ausgerechnet in dem Augenblick von seinem Gerüst hinabgeblickt, würde er sich später sagen, wäre er an jenem Nachmittag mit Tess auf direktem Weg nach Hause anstatt noch in den Wald gegangen, und sie wäre nie in sein Leben getreten. Dass er genau das hatte denken sollen, war eine Erkenntnis, die ihm erst kam, als es viel zu spät war.
Es war später Nachmittag, und es war heiß. Gewöhnlich wartete der Juni mit Regengüssen auf, die jeder Hoffnung auf einen Sommer Hohn sprachen. Aber in diesem Jahr hatte das Wetter sich etwas anderes vorgenommen. Sonnige Tage und wolkenloser Himmel versprachen für Juli und August eine anhaltende Hitze, die den Boden austrocknen, die weiten Grasflächen verdorren lassen und die New-Forest-Ponys auf ihrer Futtersuche immer tiefer in die Wälder treiben würde.
Er befand sich ganz oben auf dem Gerüst und wollte gerade aufs Dach klettern, wo er angefangen hatte, das Stroh anzubringen. Weil Stroh viel biegsamer war als Reet, eignete es sich hervorragend für den First. Viele hielten die kunstvoll geflochtenen Strohbunde am First für Zierrat. Er kannte indes den eigentlichen Zweck: die oberste Reetschicht gegen Schäden durch Wetter und Vögel zu schützen.
Er ging auf dem Zahnfleisch. Er war gereizt. Seit drei Monaten arbeitete er schon an diesem Riesenprojekt, und er hatte fest zugesagt, in zwei Wochen das nächste anzufangen; doch immer noch mussten abschließende Arbeiten erledigt werden, und die konnte er nicht seinem Lehrling überlassen. Cliff Coward war noch nicht so weit, dass er mit dem Klopfbrett umgehen konnte. Diese Arbeit war entscheidend für den Gesamteindruck des Dachs, und sie erforderte sowohl Geschick als auch ein erfahrenes Auge. Cliff konnte man solche komplizierten Arbeiten nicht anvertrauen. Er bekam ja nicht einmal die simpelsten Aufgaben auf die Reihe - zum Beispiel ihm jetzt zwei Bunde Stroh aufs Dach zu reichen. Wieso brachte dieser Kerl es nicht fertig, einen so banalen Auftrag auszuführen?
Die Suche nach der Antwort auf diese Frage sollte Gordon Jossies Leben ändern.
Er wandte sich vom First ab und rief ungehalten: »Cliff! Wo zum Teufel steckst du?« Eigentlich hätte sein Lehrling unten bei den Strohbunden auf die Anweisungen des Meisters warten sollen. Doch stattdessen war er zu Gordons verstaubtem Pickup gegangen, der in einigen Metern Entfernung stand. Dort hockte Tess in Habachtstellung und wedelte mit dem Schwanz, während eine Frau ihr den Kopf tätschelte - eine Fremde, wahrscheinlich eine Touristin, nach ihrer Kleidung und der Landkarte zu urteilen, die sie in der Hand hielt.
»Hey, Cliff!«, rief Gordon. Der Lehrling und die Frau blickten zu ihm hoch.
Gordon konnte das Gesicht der Frau nicht erkennen; sie hatte einen breitkrempigen Strohhut auf mit einem fuchsiafarbenen Schal als Hutband. Die gleiche Farbe fand sich in ihrem Kleid, einem Sommerkleid, das ihre gebräunten Arme und Beine betonte. Sie trug einen goldenen Armreif und Sandalen, und unter ihrem Arm klemmte eine aus Stroh geflochtene Handtasche, deren Riemen lose über ihrer Schulter lag.
»Sorry! Ich wollte der Lady nur helfen…«, antwortete Cliff, während die Frau gleichzeitig lachend rief: »Ich habe mich total verirrt! Es tut mir furchtbar leid. Er hat mir angeboten…« Sie wedelte mit der Landkarte, wie um das Offensichtliche zu erklären: Irgendwie war sie vom Park zum Verwaltungsgebäude spaziert, dessen Dach Gordon gerade neu deckte. »Ich habe noch nie gesehen, wie ein Reetdach gedeckt wird«, fügte sie hinzu, vielleicht um etwas Nettes zu sagen.
Aber Gordon stand der Sinn nicht nach Nettigkeiten. Er war voller Zorn, den er irgendwie loswerden musste. Er hatte keine Zeit für Touristen.
»Sie will zum Monet's Pond«, rief Cliff.
»Und ich will den verdammten First hier fertig kriegen«, lautete Gordons Antwort, allerdings mit einem eindeutigen Unterton. »Am Brunnen drüben geht ein Weg ab. Der Brunnen mit den Nymphen und Faunen. Da muss man links abbiegen. Sie sind rechts abgebogen.«
»Wirklich?«, rief die Frau. »Tja… typisch für mich.« Sie blieb stehen, als erwartete sie, dass das Gespräch weiterging. Sie trug eine dunkle Sonnenbrille, und sie wirkte auf Gordon wie ein Filmstar vom Typ Marilyn Monroe, denn sie war üppig gebaut, genau wie Marilyn, nicht so spindeldürr wie die Stars und Sternchen, die man inzwischen überwiegend zu sehen bekam. Auf den ersten Blick hatte er sie tatsächlich für eine Berühmtheit gehalten. Entsprechend gekleidet war sie jedenfalls, und die Selbstverständlichkeit, mit der sie erwartete, dass ein Mann seine Arbeit unterbrach, nur um mit ihr zu plaudern, legte den gleichen Schluss nahe. »Jetzt müssten Sie den Weg ganz leicht finden«, beschied er der Frau knapp.
»Schön wär's«, sagte sie, und dann fragte sie, was er ziemlich lächerlich fand: »Da sind doch keine… äh, Pferde, oder?«
Gordon dachte schon, was zum Teufel, als die Frau hinzufügte: »Es ist nur, weil… Na ja, ich fürchte mich vor Pferden.«
»Die Ponys tun nichts«, sagte er. »Die bleiben für sich, solange Sie nicht versuchen, sie zu füttern.«
»Gott, das würde ich nie im Leben tun!« Sie schwieg, als erwartete sie, dass er darauf etwas erwidern wollte, was jedoch nicht seine Absicht war. Schließlich sagte sie: »Also dann… Vielen Dank.« Damit war der Plausch beendet.
Sie machte sich auf den Weg, den Gordon ihr genannt hatte, nahm ihren Hut ab und ließ ihn an den Fingerspitzen schwingen. Ihr Haar war blond und zu einem Pagenkopf geschnitten, und wenn sie es schüttelte, fiel es sofort wieder in Form und schimmerte im Licht, so als wüsste es genau, was es zu tun hatte. Gordon war Frauen gegenüber nicht immun, und ihm fiel auf, dass sie einen anmutigen Gang hatte. Aber es regte sich nichts in ihm, weder im Herzen noch im Schritt, und darüber war er froh. Er hielt sich lieber fern von Frauen.
Cliff kam mit zwei Bunden Stroh auf dem Rücken auf das Gerüst geklettert. »Tess gefiel sie«, sagte er, als wollte er irgendetwas erklären oder die Frau in Schutz nehmen. »Vielleicht deine Chance für einen neuen Versuch, Kumpel.«
Gordon sah der Frau nach. Nicht etwa, weil er von ihr fasziniert gewesen wäre oder weil er sie attraktiv gefunden hätte, sondern um zu sehen, ob sie am Nymphenbrunnen richtig abbog. Sie tat es nicht. Er schüttelte den Kopf. Hoffnungsloser Fall, dachte er. Sie würde auf der Kuhweide landen, ehe sie wusste, wie ihr geschah, doch dann sagte er sich, dass sie dort mit Leichtigkeit jemanden finden würde, der ihr weiterhalf.
Cliff wollte nach Feierabend noch einen heben, Gordon nicht. Er trank überhaupt keinen Alkohol, und er hatte noch nie etwas davon gehalten, sich mit seinen Lehrlingen anzufreunden. Außerdem war Cliff erst achtzehn und Gordon dreizehn Jahre älter, sodass er sich meistens vorkam wie dessen Vater. Vielleicht hatte er aber auch nur Empfindungen, wie ein Vater sie haben könnte, dachte er. Schließlich hatte er keine Kinder und wollte auch keine.
»Tess braucht ein bisschen Auslauf«, erklärte er. »Sie findet heute Abend keine Ruhe, wenn sie keine Gelegenheit kriegt, ihre Energie loszuwerden.«
»Bist du dir sicher, Kumpel?«
»Ich kenne meinen Hund«, antwortete Gordon. Er wusste, dass Cliff nicht von Tess gesprochen hatte, aber mit dieser Bemerkung nahm er ihm den Wind aus den Segeln. Cliff redete einfach zu viel.
Gordon nahm ihn mit bis zum Pub in Minstead, einem in einem kleinen Tal gelegenen Dorf, das aus einer Kirche, einem Friedhof, einem Laden, einem Pub und ein paar alten Häusern bestand, die sich um einen winzigen Dorfplatz duckten. In der Mitte stand eine uralte Eiche, und in deren Nähe graste ein geschecktes Pony, dessen gestutzter Schwanz seit dem Zusammentrieb im vergangenen Herbst, als die Tiere markiert worden waren, ordentlich nachgewachsen war.
Das Pony blickte nicht einmal auf, als der Pick-up knapp hinter seinen Flanken geräuschvoll zum Stehen kam. Als langjähriger Bewohner des New Forest wusste das Tier wahrscheinlich ganz genau, dass sein Recht, an jedem beliebigen Ort zu grasen, wesentlich älter war als das Recht des Pick-ups, über die Straßen von Hampshire zu fahren.
»Also dann, bis morgen«, sagte Cliff und ging zum Pub, um sich dort zu seinen Freunden zu gesellen. Gordon sah ihm nach und wartete ohne besonderen Grund, bis die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte. Erst dann legte er den Gang ein.
Wie immer fuhr er nach Longslade Bottom. Mit der Zeit hatte er gelernt, dass es Sicherheit mit sich brachte, wenn man ein Gewohnheitstier war. Am Wochenende fuhr er oft woandershin, um Tess Auslauf zu geben, aber nach Feierabend unter der Woche zog er einen Ort vor, der näher an seinem Haus lag. Außerdem gefiel ihm das offene Gelände, das Longslade Bottom bot - und wenn er nicht gesehen werden wollte, konnte er sich in den Wald von Hinchelsea zurückziehen, der sich den Hügel hinaufzog.
Gordon rumpelte über den mit Schlaglöchern übersäten Parkplatz auf die Wiese zu, während Tess auf dem Rücksitz in Erwartung des Spaziergangs freudig kläffte. An schönen Tagen wie diesem war Gordons Pick-up nicht das einzige Fahrzeug auf dem Parkplatz: Wie nuckelnde Kätzchen drückten sechs Fahrzeuge ihre Schnauzen an den Rand der großen Wiese, auf der weiter draußen Ponys grasten, unter ihnen fünf Fohlen. Die Ponys, an die Anwesenheit von Menschen und anderen Tieren gewöhnt, ließen sich von den bellenden Hunden, die um sie herumtollten, nicht stören, aber Gordon wusste sofort, dass er seiner Hündin heute keinen freien Auslauf gestatten durfte.
Tess war ganz versessen auf die wilden Ponys des New Forest, und obwohl sie schon getreten und gebissen worden war und obwohl Gordon sie immer wieder ausgeschimpft hatte, begriff sie einfach nicht, dass sie nicht auf der Welt war, um Ponys zu jagen. Es reizte sie ungemein, und sie winselte und leckte sich das Maul in Vorfreude auf das Abenteuer. Gordon konnte beinahe ihre Hundegedanken lesen: Und sogar Fohlen! Super! Was für ein Spaß!
»Kommt nicht infrage«, sagte er laut, nahm die Leine von der Ladefläche, hakte sie am Halsband ein und ließ Tess aus dem Wagen. Hoffnungsvoll machte sie einen Riesensatz. Als er sie kurz nahm, legte Tess unter Husten und Würgen eine filmreife Show hin. Typisch, dachte Gordon resigniert. »Wo hast du das Hirn gelassen, das der liebe Gott dir gegeben hat?«, fragte er sie.
Tess sah zu ihm auf, wedelte mit dem Schwanz und schenkte ihm ihr strahlendstes Hundelächeln. »Das mag früher mal funktioniert haben«, sagte er, »aber die Zeiten sind vorbei.« Entschlossen führte er den Golden Retriever weg von den Ponys und den Fohlen. Tess ging mit, zeigte sich jedoch widerspenstig und sah sich immer wieder winselnd um, offenbar in der Hoffnung, ihn umstimmen zu können. Es gelang ihr nicht.
Longslade Bottom umfasste drei Gebiete: die Wiese, auf der die Ponys grasten, im Nordwesten eine Heidelandschaft, wo Glockenheide und Pfeifengras blühten, und dazwischen ein Moor mit unförmigen, vollgesogenen Torfmooskissen und weißrosafarbenen Bitterkleedolden, die in flachen Teichen aus Rhizomen wuchsen. Auf einem Pfad, der vom Parkplatz abging und zu dessen beiden Seiten sich flauschige weiße Wollgrasbüschel wie Wattebäusche in der warmen Brise wiegten, konnte man das Moor sicher durchqueren.
Gordon entschloss sich, diesen Pfad zu nehmen, denn an seinem Ende gelangte man in den Hinchelsea Wood, wo er die Hündin frei laufen lassen konnte. Von dort aus waren die Ponys nicht zu sehen, und für Tess galt: aus den Augen, aus dem Sinn. Sie besaß die bewundernswerte Gabe, ganz im Hier und Jetzt zu leben.
So kurz vor der Sommersonnenwende stand die Sonne trotz der späten Stunde noch hoch am Himmel, und ihr Licht brach sich in den bunt schillernden Körpern der Libellen und dem hellen Gefieder der Kiebitze, die aufflogen, sobald Gordon und seine Hündin sich näherten. In der leichten Brise lag der Geruch nach Torf und der sich zersetzenden Vegetation, die ihn entstehen ließ. Die Luft war erfüllt von Geräuschen, angefangen mit den heiseren Schreien der großen Brachvögel bis hin zu den Stimmen der Leute, die auf der Wiese nach ihren Hunden riefen.
Gordon hielt Tess weiter an der kurzen Leine. Auf dem Weg zum Hinchelsea Wood ließen sie Wiese und Moor hinter sich. Wenn er es sich recht überlegte, erschien ihm der Wald ohnehin geeigneter für einen Nachmittagsspaziergang. Die Buchen und Eichen standen in vollem Sommerlaub, ebenso die Birken und Kastanien, und unter dem Blätterdach würde es angenehm kühl sein. Nachdem er den ganzen Tag auf dem Dach geschuftet und Reet und Stroh geschleppt hatte, war Gordon froh, der Sonne für eine Weile zu entkommen.
Als sie die beiden Zypressen erreichten, die den offiziellen Eingang zum Wald flankierten, ließ er Tess von der Leine und schaute ihr nach, bis sie zwischen den Bäumen verschwunden war. Irgendwann würde sie von allein zurückkommen. Es war nicht mehr lange bis zum Abendessen, und Tess verpasste nie freiwillig eine Mahlzeit.
Beim Spazierengehen suchte er sich immer etwas, auf das er sich konzentrieren konnte. Hier im Wald sagte er in Gedanken die Namen der Bäume auf. Er erforschte den New Forest, seit er nach Hampshire gezogen war, und inzwischen, nach zehn Jahren, kannte er seine Entstehungsgeschichte und seinen Charakter besser als die meisten Einheimischen. In der Nähe einiger Stechpalmensträucher setzte er sich auf den Stamm einer umgestürzten Erle. Das Sonnenlicht brach durch die Kronen und besprenkelte den von jahrelanger natürlicher Kompostierung schwammig weichen Boden.
Nachdem Gordon die Namen der Bäume in seiner Umgebung aufgesagt hatte, ging er zu den anderen Pflanzen über. Allerdings gab es davon nicht allzu viele. Der Wald gehörte zum Weideland, und Ponys, Esel und Damhirsche ästen hier. Im April und Mai hatten sie sich an den frischen Farnwedeln gütlich getan, später dann Wildblumen, Erlensprösslinge und junge Brombeertriebe gefressen. Zwar formten sie auf diese Weise das Gelände so, dass man gemütlich darin spazieren gehen konnte und sich nicht mühsam durchs Unterholz kämpfen musste. Doch sie verdarben ihm damit den Spaß an seinem Denksport.
Er hörte seine Hündin bellen und richtete sich auf. Er machte sich keine Sorgen, denn er kannte den unterschiedlichen Klang von Tess' Lauten. Dies hier war ein freudiges Kläffen, das sie immer anschlug, wenn sie einen Freund begrüßte oder wenn man ein Stöckchen für sie in den Weiher warf. Trotzdem stand er auf und sah in die Richtung, aus der das Gebell zu hören war. Es kam näher, und nach einer Weile hörte er eine menschliche Stimme, die es begleitete, eine weibliche Stimme.
Und gleich darauf sah er sie.
Er erkannte sie nicht gleich, denn sie hatte sich umgezogen. Statt Sommerkleid, Sonnenhut und Sandalen trug sie jetzt eine Kakihose und eine kurzärmelige Bluse. Die Sonnenbrille hatte sie immer noch auf - er ebenfalls, denn es war noch immer sehr hell -, und ihr Schuhwerk war auch diesmal ziemlich ungeeignet für ihre Erkundungen. Sie hatte ihre Sandalen gegen Gummistiefel eingetauscht, eine äußerst merkwürdige Wahl für einen Sommerspaziergang, es sei denn, sie hatte vor, durchs Moor zu waten.
Sie ergriff als Erste das Wort: »Dacht ich's mir doch, dass es derselbe Hund ist. Er ist wirklich lieb.«
Er hätte schwören können, dass sie ihm nach Longslade Bottom und in den Hinchelsea Wood gefolgt war - außer dass sie offenbar vor ihm da gewesen war. Sie war auf dem Weg aus dem Wald hinaus, er ging in den Wald hinein. Er war Menschen gegenüber misstrauisch, aber er wollte nicht paranoid wirken.
»Sie waren doch auf der Suche nach dem Monet's Pond.«
»Und ich habe ihn auch gefunden«, erwiderte sie. »Allerdings erst, nachdem ich auf einer Kuhweide gelandet war.«
»Ja«, sagte er knapp.
Sie legte den Kopf schief. Ihr Haar schimmerte im Sonnenlicht, genau wie zuvor in Boldre Gardens. Aus irgendeinem idiotischen Grund fragte er sich, ob sie sich Glitzer hineinsprühte. Derart glänzendes Haar hatte er noch nie gesehen.
»Ja?«, wiederholte sie.
»Äh, ja«, stotterte er. »Ich meine, ja, ich weiß. Ich habe gesehen, wo Sie abgebogen sind.«
»Ach so. Sie haben mich vom Dach aus beobachtet, was? Ich hoffe, Sie haben mich nicht ausgelacht. Das wäre mir wirklich peinlich.«
»Nein«, sagte er.
»Tja, im Kartenlesen bin ich wirklich eine komplette Niete, und im Befolgen von Wegbeschreibungen bin ich leider auch nicht besser. Es ist also kein Wunder, dass ich mich gleich wieder verlaufen habe. Aber wenigstens bin ich keinen Pferden begegnet.«
Er sah sich um. »Dann ist das hier wohl nicht der richtige Ort für Sie, oder? Wenn Sie weder Karten lesen noch Beschreibungen befolgen können.«
»Der Wald, meinen Sie? Ich habe mir einen Orientierungspunkt gemerkt.« Sie zeigte nach Süden auf einen Hügel jenseits des Waldes, auf dem eine riesige Eiche stand. »Ich habe mich nach diesem Baum gerichtet und mich auf dem Weg in den Wald immer rechts davon gehalten, und da er sich jetzt links von mir befindet, bin ich mir ziemlich sicher, dass es hier entlang zum Parkplatz zurückgeht. Sie sehen also: Auch wenn ich erst auf einer Baustelle und dann auf einer Kuhweide gelandet bin, bin ich kein hoffnungsloser Fall.«
»Das ist Nelsons«, sagte er.
»Wie bitte? Meinen Sie den Baum? Gehört er jemandem? Steht er auf Privatgelände?«
»Nein, das Land gehört der Krone. Das dort ist Nelsons Eiche. Angeblich hat er sie gepflanzt. Lord Nelson, meine ich.«
»Ah, verstehe.«
Er musterte sie. Sie biss sich auf die Lippen, und er hatte das Gefühl, dass sie keinen Schimmer hatte, wer Lord Nelson war. Heutzutage kam das vor. Um ihr aus der Verlegenheit zu helfen, sagte er: »Admiral Nelson hat seine Schiffe drüben in Buckler's Hard bauen lassen. Das liegt hinter Beaulieu. Kennen Sie das? An der Flussmündung? Bei dem enormen Holzverbrauch mussten sie irgendwann anfangen, neue Bäume zu pflanzen. Wahrscheinlich hat Nelson nie eigenhändig einen Baum gepflanzt, aber diese Eiche dort wird ihm trotzdem zugeschrieben.«
»Ich bin nicht von hier«, sagte sie. »Aber das ist Ihnen bestimmt nicht entgangen.« Sie streckte eine Hand aus. »Gina Dickens. Weder verwandt noch verschwägert. Und ich weiß, dass sie Tess heißt.« Sie nickte in Richtung der Hündin, die sich zufrieden neben ihr niedergelassen hatte. »Aber Ihren Namen kenne ich nicht.«
»Gordon Jossie«, sagte er und schüttelte ihr die Hand. Ihre weiche Haut machte ihm bewusst, wie rau seine eigene Hand sich anfühlen musste. Und wie verdreckt er nach einem ganzen Tag auf dem Dach war. »Das dachte ich mir.«
»Was?«
»Dass Sie nicht von hier sind.«
»Hm, ja. Die Einheimischen verlaufen sich wahrscheinlich nicht so leicht wie ich.«
»Nicht das. Ihre Schuhe.«
Sie blickte nach unten. »Was stimmt denn nicht mit meinen Schuhen?«
»Erst die Sandalen, die Sie in Boldre Gardens anhatten, und jetzt die da«, sagte er. »Wieso tragen Sie Gummistiefel? Wollen Sie etwa ins Moor?«
Wieder biss sie sich auf die Lippen. Er fragte sich, ob sie sich ein Lachen verkniff. »Sie werden mich für albern halten«, sagte sie. »Es ist wegen der Schlangen. Ich habe gelesen, dass es hier im New Forest Kreuzottern gibt, und ich will nicht gebissen werden. Jetzt lachen Sie mich bestimmt aus.«
Er musste tatsächlich grinsen. »Sie rechnen also im Wald mit Schlangen?« Er wartete nicht auf eine Antwort. »Die sind draußen auf der Heide. Da kriegen sie mehr Sonne ab. Könnte sein, dass Sie auf dem Weg durchs Moor auf eine stoßen, ist aber ziemlich unwahrscheinlich.«
»Ich sehe schon, ich hätte Sie um Rat bitten sollen, bevor ich mich umgezogen habe. Leben Sie schon immer hier?«
»Seit zehn Jahren. Ich bin aus Winchester hierher gezogen.«
»Ich auch!« Sie warf einen Blick in die Richtung, aus der sie gekommen war, und sagte: »Wollen wir ein Stück gemeinsam gehen, Gordon Jossie? Ich kenne hier sonst niemanden, und ich hätte Lust, noch ein bisschen zu plaudern. Da Sie ziemlich harmlos wirken und noch dazu diesen bezaubernden Hund bei sich haben…«
Er zuckte die Achseln. »Wie Sie wollen. Aber ich bin nur wegen Tess hier. Wir brauchen nicht spazieren zu gehen. Tess rennt im Wald rum und kommt irgendwann von allein zurück. Ich meine, falls Sie lieber ein bisschen hier sitzen möchten, anstatt zu laufen.«
»Ja, gute Idee. Ich habe nämlich schon einen ordentlichen Marsch hinter mir.«
Er machte eine Kopfbewegung zu dem Baumstamm hin, auf dem er gesessen hatte, bis sie gekommen war. Sie nahmen in gehörigem Abstand voneinander Platz, aber Tess blieb zu Gordons Verwunderung bei ihnen. Sie machte es sich neben Gina bequem und legte leise seufzend den Kopf auf die Vorderpfoten.
»Sie mag Sie«, bemerkte Gordon. »Jeder sehnt sich nach Zuwendung.«
»Wie wahr«, sagte Gina.
Sie klang wehmütig, und er ging darauf ein. Es sei ungewöhnlich, dass jemand in ihrem Alter aufs Land ziehe. Junge Erwachsene ziehe es für gewöhnlich eher in die entgegengesetzte Richtung.
»Hm, ja. Sie haben sicher recht«, antwortete sie. »Es war eine Beziehung, die ein sehr unangenehmes Ende genommen hat.« Ein Lächeln. »Und so bin ich hier gestrandet. Ich will hier mit schwangeren Jugendlichen arbeiten. Das habe ich bereits in Winchester gemacht.«
»Wirklich?«
»Das scheint Sie zu überraschen. Wieso?«
»Sie wirken selbst kaum älter als eine Jugendliche.«
Sie schob sich die Sonnenbrille auf die Nasenspitze und sah ihn über die Gläser hinweg an. »Flirten Sie etwa mit mir, Mr. Jossie?«, fragte sie.
Er spürte, wie seine Wangen zu glühen begannen. »Entschuldigung, das war nicht meine Absicht.«
»Schade. Ich dachte schon…« Sie schob sich die Sonnenbrille auf den Kopf und sah ihn geradeheraus an. Ihre Augen waren weder blau noch grün, sondern irgendetwas dazwischen, undefinierbar und interessant.
»Sie erröten ja! Ich habe noch nie einen Mann zum Erröten gebracht. Wie nett! Passiert Ihnen das öfter?«
Ihm wurde noch heißer. Normalerweise führte er keine solchen Gespräche mit Frauen. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte - weder mit den Frauen noch mit den Gesprächen.
»Ich bringe Sie in Verlegenheit, das tut mir leid. Das wollte ich nicht! Ich ziehe die Leute gern ein bisschen auf - eine schlechte Angewohnheit. Vielleicht können Sie mir ja dabei helfen, es mir abzugewöhnen.«
»Jemanden aufzuziehen, ist in Ordnung«, sagte er. »Ich bin eher… Ich bin ein bisschen durcheinander. Hauptsächlich… Na ja, ich decke Dächer.«
»Jeden Tag?«
»So sieht's aus.«
»Und zum Vergnügen? Zur Entspannung? Zur Abwechslung? Was machen Sie da?«
Er deutete mit dem Kinn auf Tess. »Dafür hab ich sie.«
»Hm. Verstehe.« Sie beugte sich vor und kraulte Tess hinter den Ohren, da, wo sie es am liebsten hatte. Wenn Hunde schnurren könnten, hätte sie es getan. Gina schien einen Entschluss gefasst zu haben, denn als sie wieder aufblickte, wirkte sie nachdenklich. »Hätten Sie Lust, mit mir irgendwo auf ein Gläschen einzukehren? Wie gesagt, ich kenne hier niemanden, und da Sie mir nach wie vor harmlos erscheinen und ich auf jeden Fall harmlos bin und da Sie so einen netten Hund haben… Wie wär's?«
»Ich trinke eigentlich nicht.«
Sie hob die Brauen. »Sie nehmen überhaupt keine Flüssigkeit zu sich? Das kann ich mir nicht vorstellen.«
Er musste unwillkürlich lächeln, sagte jedoch nichts darauf.
»Ich wollte mir eine Limonade bestellen«, sagte sie. »Ich trinke auch nicht. Mein Vater… Er war Alkoholiker, deswegen lasse ich die Finger von dem Zeug. Es hat mich in der Schule zu einer Außenseiterin gemacht, aber eher im positiven Sinne. Ich war schon immer gern anders als die anderen.« Sie stand auf und klopfte sich die Hose ab. Auch Tess sprang schwanzwedelnd auf. Es war offensichtlich, dass die Hündin Ginas spontane Einladung bereits akzeptiert hatte, und Gordon blieb nichts anderes übrig, als es ihr nachzutun.
Dennoch zögerte er. Er hielt lieber Abstand von Frauen. Aber sie wollte schließlich nicht mit ihm anbandeln, oder? Und sie wirkte tatsächlich harmlos. Ihr Blick war offen und freundlich.
»In Sway gibt es ein Hotel«, sagte er, doch erst als sie ihn verblüfft ansah, wurde ihm klar, wie diese Bemerkung geklungen haben musste. Mit glühenden Ohren fügte er hastig hinzu: »Ich meine, Sway ist das nächste Dorf von hier, aber dort gibt es keinen Pub. Deswegen gehen alle in die Hotelbar. Dorthin könnten wir gehen. Dort können wir eine Limonade trinken.«
Ihr Gesicht entspannte sich. »Sie sind wirklich ein unglaublich netter Kerl.«
»Wenn Sie sich da mal nicht täuschen.«
»Ich glaube nicht.«
Sie machten sich auf den Weg. Tess lief voraus, und dann, wundersamerweise, blieb sie am Waldrand stehen, wo der Weg abwärts zum Moor führt, ein Anblick, den Gordon nicht so schnell vergessen würde. Wartete sie darauf, dass er die Leine an ihrem Halsband einhakte? Das war noch nie passiert! Er neigte nicht dazu, nach Zeichen Ausschau zu halten, und doch schien das ein Hinweis darauf zu sein, was er als Nächstes zu tun hatte.
Schon wieder dieser Gesichtsausdruck. Es lag etwas Zärtliches darin und noch mehr, und es machte ihn misstrauisch, sosehr es ihn gleichzeitig anzog.
»Charles Dickens«, sagte sie. »Der Schriftsteller. Ich bin nicht mit ihm verwandt.«
»Ach so«, sagte er. »Ich… Ich lese nicht viel.«
»Nein?« Sie machten sich auf den Weg den Hügel hinunter. Sie hakte sich bei ihm ein, während sie sich von Tess ziehen ließ. »Das werden wir aber ändern müssen.«