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Es gibt Verbrechen, auf die weder Gefängnisstrafen noch Geldbußen stehen. Es gibt im Strafgesetzbuch keinen Paragraphen gegen schwere seelische Mißhandlung. >Ein Lied für Mona< erzählt von einer alten Sünde.
Joanie Vine begleitete ihre Mutter zu den Rennen und fand jede einzelne Minute abscheulich. Joanie Vine schämte sich für die Art und Weise, wie ihre Mutter gekleidet war, wie sie sprach und lebte; mit anderen Worten, sie wandte sich mit Grauen ab von dem ausgeblichenen Tweedhut über dem enggegürteten Regenmantel; krümmte sich bei den lauten, unfeinen Vokalen der ländlichen Waliserin und konnte sich nicht dazu überwinden, anderen gegenüber zuzugeben, daß ihre Mutter von Beruf Stallbursche war.
Joanie Vine begleitete ihre Mutter zum ersten Tag des Cheltenham Festivals — eines der prestigeträchtigsten Ereignisse im Jahreskalender der Hindernisrennen — einzig und allein deshalb, weil ihre Mutter an diesem Tag sechzig wurde und Joanie Vine für diese großzügige Selbstaufopferung auf den bewundernden Beifall ihrer Freunde hoffte. Schon vor dem ersten Rennen hatte sie beschlossen, ihre Mutter sobald als möglich im Gewühl zu verlieren. Sie verstand nicht, warum so viele Menschen hier der schlechtgekleideten Frau, die sie ganz automatisch einen Schritt hinter sich gelassen hatte, instinktiv zulächelten.
Mona Watkins — Joanie Vines Mutter — brachte ihrer Tochter pflichttreu Liebe entgegen und hätte sich niemals eingestanden, daß Joanie für sie eine an Haß grenzende körperliche Abneigung empfand. Joanie ließ sich nicht gern von Mona berühren und entzog sich jedem Ansatz einer Umarmung. Wenn Mona darüber nachdachte — das tat sie allerdings nicht oft, weil es ihr zuviel Kummer bereitete —, konnte sie Joanies Entwicklung von jugendlicher Rebellion zu aktivem Haß auf das Erscheinen des dicklichen, selbstgefälligen, dreißigjährigen, glattzüngigen Peregrine Vine in der Laienschauspieltruppe des Ortes zurückführen. Er war Assistent eines Auktionators für Antiquitäten und Kunst.
Peregrine, so hatte Joanie ihre Mutter wissen lassen, stammte aus» einer guten Familie«. Es dauerte nicht lange, bis Joanie Peregrines Oberklassen-Englisch nachahmte und jeden Hauch eines walisischen Akzents streng vermied. Joan (er nannte sie niemals Joanie, weder in der zweiten noch in der dritten Person) war zu einer hochgewachsenen Schönheit mit vollen Brüsten herangereift, und Peregrine ging bereitwillig auf Joanies Bedingung — erst Heirat, dann Sex — ein. Er betrachtete ihr Ultimatum mehr unter dem Gesichtspunkt der Moral als dem der Erpressung.
Joanie, die inzwischen nicht mehr zu Hause lebte und über ein Blumengeschäft waltete, erklärte Peregrine und dessen Eltern, daß ihre Mutter» exzentrisch «sei, eine» Einsiedlerin«, und sie nicht kennenlernen wolle. Peregrine und seine Eltern nahmen es kopfschüttelnd zur Kenntnis.
Joanie lud ihre Mutter nicht zur Hochzeit ein. Und nicht nur das, sie erzählte ihrer Mutter erst gar nicht, daß ihr einziges Kind als Braut in Weiß vor den Altar treten würde. In voller Absicht verweigerte Joanie ihrer Mutter die-sen großen Tag mütterlichen Stolzes und Glücks. Sie schickte ihr eine Ansichtskarte aus Venedig:»Letzten Samstag Peregrine geheiratet, Joanie.«
Mona stellte den Dogenpalast gleichgültig auf ihr Kaminsims und prostete dem Paar mit einem Bier zu.
Erst einige Monate später lernte Peregrine Joanies bodenständige Mutter kennen und konnte sich aus erster Hand ein Bild von allem machen: von ihrer Kleidung, ihrer Stimme, ihrem Beruf. Er war, wie Joanie es nicht anders erwartet hatte, entsetzt. Sein Instinkt riet ihm — genau wie Joanie es empfunden hatte —, die Peinlichkeit erst gar nicht ans Licht kommen zu lassen. Sie zogen in die Nachbarstadt. Peregrine erklomm die nächste Sprosse seiner Karriereleiter, und Joanie trat einem exklusiven Tennisclub bei. Ihre gesellschaftlichen Ambitionen setzten zu neuen Höhenflügen an.
Mona, die nach wie vor in ihrem kleinen Reihenhäuschen lebte, dem ehemaligen Zuhause von Joanie, fuhr weiterhin jeden Morgen und Abend mit ihrem quietschenden Fahrrad zu ihrer Arbeit in einer Kinderreitschule, wo sie sich um eine Reihe arg strapazierter Ponys kümmerte. Eines Abends, als sie dort mit ihrem Fahrrad bei den Stallungen vorfuhr, fand sie den Besitzer der Reitschule tot am Boden liegend vor, einer Herzattacke erlegen. Einige schreiende Kinder hatten sich um ihn geschart, und die Ställe standen in Brand.
Mona wurde damit fertig: Sie rettete die Ponys, beruhigte die Kinder, rief die Feuerwehr, bedeckte die Leiche — die einen erschreckenden Anblick bot — mit ihrem alten Regenmantel und wurde für Fernsehen und Presse eine Art Heldin.
«Mona Watkins, die Mutter von Mrs. Joan Vine, der wohlbekannten Gattin des angesehenen Auktionators Peregrine Vine.«
Mona war im Fernsehen zu sehen. Sie stand im Eingang ihres Häuschens und verkündete in ihrem breiten walisischen Dialekt heiter, sie sei» ja so stolz «auf ihre Tochter Joanie,»wissen Sie.«
O Schreck. Welche Demütigung.
Die hochtrabende Ankündigung, daß sie ihre Mutter zur Feier von deren sechzigstem Geburtstag mit zum Rennen nehmen würde, war ein Versuch Joanies, öffentlich ihre Wertschätzung für ihre Mutter unter Beweis zu stellen.
Am Morgen nach ihrem Tag bei den Rennen summte Mona Watkins unmelodisch vor sich hin, während sie das braune Springpferd striegelte, den Champion, dessen Pflege ihr nun oblag.
Sie summte mit geschlossenen Lippen, um nicht den größten Teil des Staubes, den sie aus dem glänzenden Fell des Braunen bürstete, in die Lungen zu bekommen. Sie summte auf die gleiche altmodische Weise, wie es Generationen von Stallknechten schon seit Jahrhunderten getan hatten, und genau wie diese spuckte sie von Zeit zu Zeit aus.
Sie mochte ihre neuen Arbeitgeber sehr, die von sich aus an sie herangetreten waren — auch eine Folge des öffentlichen Aufsehens, den der Brand in der Reitschule erregt hatte. Genau drei Wochen war sie arbeitslos gewesen. Dann hatte sie eines Tages auf ein Klopfen hin die Tür ihres Häuschens geöffnet und sich einem Mann und einer Frau gegenübergesehen — dem olympischen Goldmedaillengewinner im Springreiten, Oliver Bolingbroke, wie sie ungläubig feststellte, und seiner nicht minder berühmten Frau, der durch und durch amerikanischen wie freundlichen Cassidy Lovelace Ward. Sie war eine Country- und Western-Sängerin, die es bereits zu einem Platinalbum gebracht hatte.
Es hatte Zeiten gegeben, da war die monatelange Werbung der beiden umeinander und ihre anschließende impulsive Heirat von den Medien zynisch als bloßer Versuch gewertet worden, Publicity zu machen. Aber vier lange, von stetiger Hingabe geprägte Jahre später konnte die Welt sich kaum noch einen der beiden ohne den anderen vorstellen.
Das glamouröse Paar war in einer überlangen schwarzen Limousine vorgefahren, die wie ein Magnet viele der Anwohner der trostlosen Straße aus ihren Häusern gelockt hatte; es begleiteten sie ein schwarz uniformierter Chauffeur und ein mißtrauischer Leibwächter, dessen aufmerksamer Blick umherwanderte wie ein Radarstrahl auf der Suche nach einem Reflex.
«Mrs. Mona Watkins?«fragte Oliver Bolingbroke.
Mona war sprachlos, sie konnte nur mit offenem Mund nicken.
«Dürfen wir hereinkommen?«
Mona trat in das winzige, zur Straße hin gelegene Zimmer zurück, und ihre Besucher folgten ihr. Sie erhielten einen Einblick in eine Lebensweise, die sich vollkommen von ihrem eigenen sorglosen Wohlstand unterschied, aber zugleich konnten sie Ordnung, Sauberkeit und Stolz registrieren. Mona dirigierte ihre Gäste zu den beiden Sesseln am Kamin und schloß wie betäubt die Tür.
Oliver Bolingbroke, schlank, groß und in jeder Hinsicht kultiviert, ließ seinen Blick langsam einmal rundum schweifen, über die rosafarbene Tapete mit den Rosenknospen, das Linoleum auf dem Boden, die pfauenblauen Satinkissen auf den rostbraunen Sesseln und die glatte Blümchengardine vor den Fenstern. Kein Geld und kein Geschmack, dachte er, aber das hieß in seinen Augen nicht: kein Herz. Er war ein guter Menschenkenner und hatte außerdem überprüft, welchen Ruf Mona als Pferdepflegerin genoß. Es waren ihm nur Loblieder auf sie zu Ohren gekommen. Sie sei ungebildet, hatte man ihn gewarnt. Wenn es hart auf hart käme, könne man immer auf sie bauen, nicht aber, wenn man Fragen zu feinem Betragen habe.
«Mein Mann hält einige Springpferde«, kam die Sängerin direkt zur Sache. In ihren gewöhnlichen Jeans und einem weiten, handgestrickten, cremefarbenen Pullover wirkte Cassidy Lovelace Ward mit ihren zerzausten blonden Locken und ihrem zartrosa Lippenstift gleichzeitig lässig und auf Wirkung bedacht — eine Mischung, mit der Mona auf ihre direkte Art ohne weiteres gut zurechtkam. Mona empfand eine Zuneigung für Cassidy, die nichts mit dem äußeren Glanz zu tun hatte. Cassidy, die das spürte, fühlte sich zu ihrer eigenen Überraschung geschmeichelt. Was die beiden Frauen in der anderen jeweils sahen, ohne sich dessen bewußt zu sein, war Herzensgüte.
Oliver Bolingbroke und seine Frau erklärten, daß sie vor kurzem ein paar Kilometer außerhalb der Stadt ein Haus mit Stallungen für drei seiner besten Pferde gekauft hätten. Mona, die aus der Zeitung davon wußte, nickte. Sie seien viel auf Reisen, erklärten die Bolingbrokes. Sie gehe auf Tourneen und gäbe Konzerte. Wenn sie beide unterwegs seien, wünschten sie, daß ein Pferdepfleger in der Wohnung sei, die sie in den Stallgebäuden einrichteten. Und wenn Oliver Bolingbroke mit seinen Pferden in größerer Entfernung oder im Ausland an Wettkämpfen teilnehme, solle der vertraute Pferdepfleger ihn und die Pferde begleiten.
Sie meinten, Mona sei zwar nicht mehr die Allerjüngste, aber sie würden sie trotzdem gern einstellen.»Ich möchte mein kleines Haus behalten«, sagte Mona sofort und meinte damit:»Ich will mir meine Unabhängigkeit bewahren.«
«Selbstverständlich«, stimmte Oliver zu.»Wann können Sie anfangen?«
So summte Mona also vor sich hin, während sie den Springchampion, einen Fuchs (und den stabilen, muskulösen Schimmel sowie den lebhaften zehnjährigen Star dieser Truppe, den braunen Gewinner einer olympischen Goldmedaille) striegelte, und sprach mit ihren Schutzbefohlenen auf die gleiche gutmütige Weise, wie sie mit den Ponys gesprochen hatte — und mit vielen anderen Pferden davor. Allerdings mußte sie sich traurig eingestehen, daß ihre drei Schützlinge dazu neigten, als Medaillengewinner etwas hochnäsig auf sie herabzusehen, als sei sie ihr Diener und nicht ihr Freund.
Mona in ihrer instinktiven Klugheit vergab ihnen bekümmert — genauso, wie sie auch keinen Groll gegen Joanie und Peregrine Vine hegte.
Diese beiden kamen (trotz ihres Schachzugs mit dem Rennen in Cheltenham) zu dem Ergebnis, daß ihr geheiligter Status in den erlesenen Zirkeln, die sie für sich erwählt hatten, durch Spott und Hohn irreparabel beschädigt war. Und so zogen sie noch einmal in eine andere Stadt um und stiegen wiederum in eine höhere Kaste auf, ohne noch jemals erwähnen zu müssen, daß Joanies Mutter knietief in Pferdedung arbeitete. (Pferdescheiße, wie Mona sagte.) Peregrine wurde Chefauktionator und legte sich für seine Klienten mächtig ins Zeug. Joanie trat einem Wohltätigkeitskomitee der Damen des Ortes bei und half bei der Organisation luxuriöser Wohltätigkeitsbälle.
Im Laufe der Wochen und Monate entwickelte Mona eine immer größere Zuneigung zu ihren Arbeitgebern, während sie deren Pferden gegenüber lediglich pflichtbewußt blieb. Oliver Bolingbroke fand an der Form seiner drei Pferde, die er geduldig Stunde um Stunde ausbildete, nichts auszusetzen. Ihn beflügelte und bestätigte ihre natürliche Arroganz geradezu. Kein anderer Pferdepfleger, dachte er dankbar, hatte in gleicher Weise dafür gesorgt, daß seinen Pferden die unabdingbare Eigenwilligkeit in solchem Maße erhalten blieb. Kein anderer Pfleger hatte seine Pferde jemals so siegentschlossen in einen Wettbewerb geschickt.
Oliver Bolingbroke behauptete sich weiterhin als einer der besten Reiter des Landes und bewahrte Stillschweigen über Monas Qualitäten — aus Angst, ein Konkurrent könne sie ihm abspenstig machen.
Cassidy Lovelace Ward ließ einen Dekorateur kommen, um die kleine Anderthalbzimmerwohnung, die man in einem leerstehenden Ende der Stallungen abgeteilt hatte, wohnlich einzurichten, aber Mona, die sich selbst bei geringster Andeutung von Luxus unwohl fühlte, kam lieber jeden Morgen mit ihrem quietschenden Fahrrad und fuhr abends damit zurück in die Unabhängigkeit ihres kleinen Häuschens. Cassidy ließ sie gewähren.
Cassidy wurde regelmäßig mit der schweren Limousine nach London ins Studio gefahren und widmete dort den größten Teil ihrer Zeit der Musik. Sie probte, sie machte Aufnahmen. Geduldig ließ sie Kostümanproben über sich ergehen und fand sich widerstandslos mit dem Chauffeur und dem Leibwächter ab, auf denen die vorsichtige Versicherungsgesellschaft in ihrem Fall bestand. Sie unterdrückte tausend gereizte Äußerungen.
Oliver wurde nicht chauffiert, sondern fuhr selbst einen starken, dunkelroten Range Rover mit Vierradantrieb zu Pferdeausstellungen, zu denen Mona mit den Pferden vorausgeschickt worden war. Er setzte seine Unterschrift in die Bücher zahlloser Fans, litt, wenn er nicht gewann, und ertrug alle Ängste der Perfektionisten.
Anders, als es ihr Ruf hätte erwarten lassen, widmeten Oliver und Cassidy die Zeit, die sie privat miteinander verbrachten, nicht nur endloser Liebe, sondern auch der Freiheit, einander in übellaunigen Streitereien anzuschreien. Sie brüllten sich des Geldes wegen oder aus Neid auf den Ruhm des anderen an — die Ursache war meist eine zu starke Anspannung bei ihrer Arbeit. Schon winzige Enttäuschungen konnten solche Szenen auslösen. Sie knallten Türen, sie warfen mit Vasen. Hätte jemand sie so erlebt, hätte er wissend genickt: Ja, die Tage dieser kaum glaubhaften Ehe waren vorüber. Aber sie waren es nicht. Der Zorn verrauchte. Oliver stampfte durchs Haus. Cassidy spielte lautstark Klavier. Und schließlich lachten sie wieder. Dieses schrille Auf und Ab der Emotionen hatte allerdings die Kündigung ihrer Köchin zur Folge, und um Ersatz bemühten sie sich nicht. Statt dessen ernährten sie sich von Fast food. Jeder Ernährungswissenschaftler wäre ohnmächtig geworden, aber Oliver ließ sich von seinen Pferden sicher über doppelte Oxer tragen, und Cassidy sang wie eine Nachtigall.
Mona traf sie eines Abends bei einem besonders heftigen Streit an. Sie hatte Oliver melden wollen, daß der Schimmel sich eine Sehnenentzündung zugezogen hatte. Mona stand baß erstaunt und stocksteif vor Schreck mit offenem Mund da und hörte sich das Gezeter an.
«Stehen Sie nicht einfach so beschissen da herum«, schrie Oliver sie an.»Machen Sie uns ein verdammtes Abendessen.«
«Sie ist nicht die abgewichste Köchin«, kreischte Cassidy.
«Aber sie kann doch ein paar verreckte Eier zusammenhauen, oder nicht?«
Also machte Mona Omelettes. Auf Einladung ihrer Arbeitgeber bereitete Mona drei Omelettes zu und verzehrte sie gleich mit ihnen zusammen am Küchentisch. Oliver grinste sie eine Weile an und lachte schließlich.
Ohne daß offiziell etwas besprochen worden wäre, kochte Mona seitdem von Zeit zu Zeit, während die beiden anderen gähnten und sich entspannten und immer weniger Anlaß fanden, miteinander zu streiten. Mona mit ihrem gerunzelten Landfrauengesicht, ihrem kompromißlosen Akzent, dem Stallgeruch, der ihren Kleidern anhaftete, mit all ihrer Ungeschliffenheit — Mona ließ irgendwie die Künstlichkeit des Lebens ihrer Arbeitgeber dahinschwinden und verhalf ihnen zu einem grummelnden Frieden, der bis zum Zubettgehen anhielt.
Mona nahm sie wie störrische Pferde, die ihrer Beschwichtigungskünste bedurften. Deren Ruhm in der Welt draußen bedeutete ihr nicht viel: Sie waren Oliver und Cassidy, ihre Familie. Oliver und Cassidy ihrerseits konnten sich ein Leben ohne sie kaum noch vorstellen. Die drei gewöhnten sich an ein Ritual, das ihnen allen entgegenkam.
Joanie Vine und Peregrine beschlossen, auf Kinder zu verzichten, und zu dem Wust der vielen Gründe, die Joanie davon überzeugten, gehörte zweifellos das kleinherzige Vergnügen darüber, daß es Mona auf diese Weise verwehrt bleiben würde, jemals Großmutter zu sein. Und niemals würde sie — Joanie — irgendwelchem neugierigen und redseligen Nachwuchs Monas Existenz vertuschen müssen.
Was Peregrine anbelangte, so liebte er weder Babys noch Kleinkinder, auch keine Teenager oder Heranwachsende, noch irgendein Stadium dazwischen. Peregrine war empfindlich, und es schauderte ihn jedes Mal, wenn er hörte, daß Jungen grob zu ihren Vätern waren. Er konnte nicht verstehen, wie sich Menschen aus freiem Willen auf all die Unannehmlichkeiten von medizinischen Problemen, Schulgeldern, Drogenkonsum und stets drohenden Anklagen wegen sexuellen Mißbrauchs einlassen konnten. Peregrine liebte ein stilles Zuhause, elegante Unterhaltung und Geld.
Und es gelang ihm auch wochenlang, die wahre Herkunft seiner schönen Frau völlig zu vergessen. Joanie erfand eine ganze Reihe blaublütiger Ahnen und war bald selbst von deren Echtheit überzeugt.
Alle fünf, Peregrine, Joanie, Oliver, Cassidy und Mona, verlebten einen langen Sommer in einem persönlich befriedigenden Gleichgewicht. Jeder von ihnen genoß auf seine Weise den Erfolg. Oliver heimste Meisterschleifen und Trophäen gleich reihenweise ein. Cassidys neue Langspielplatte wurde wieder eine Platin-LP. Mona spendierte sich, durchglüht vom Stolz auf die Pferde, leichten Sinns neue Reifen für ihr Fahrrad. Der Fuchs, der große Schimmel und der gertenschlanke Braune waren ihr ganzer Stolz.
Peregrines Auktionen wurden zu gesellschaftlichen Ereignissen: Sowohl Sotheby’s als auch Christie’s verfolgten sie mit großer Aufmerksamkeit. Die hochgewachsene und in ihren luxuriösen (geliehenen) Ballkleidern wirklich hinreißende Joanie zierte die farbigen Seiten der Hochglanzmagazine.
Mona schnitt in ungekünsteltem Stolz auf ihre Tochter die immer zahlreicher erscheinenden Fotos aus und steckte sie in eine Schachtel mit vielen anderen ausgeschnittenen Artikeln, in denen Loblieder auf Cassidys Silberstimme und Olivers Goldmedaillen im Springreiten gesungen wurden.
Mona schickte Joanie einen Brief, in dem sie in unsicherer Handschrift und Orthographie ihr glückliches Leben mit den Bolingbrokes einschließlich der Kochereignisse in der Küche beschrieb. Joanie zerriß den Brief, ohne ihn zu beantworten.
Getrieben von ihrem unverwüstlichen Stolz, den Joanie gar nicht verdiente, band Mona eines Tages die Schachtel auf den Gepäckträger ihres Fahrrades, bevor sie zur Arbeit fuhr, und zeigte Cassidy, was sie darin aufbewahrte.
«Das ist Ihre Tochter?«fragte Cassidy überrascht.
«Ist sie nicht schön?«Mona strahlte.
«Hier heißt es«, las Cassidy vor,»daß sie mit den Earls of Flint verwandt sei.«
«Das ist so ihre Art«, erklärte Mona versöhnlich.»Sie wurde ganz einfach als Joanie Watkins geboren. Ihr Vater war Stallbursche, genauso wie ich. Ist bei einem Reitunfall umgekommen, der Arme.«
Cassidy erzählte Oliver von den Bildern, und aus purer Neugier schrieb Oliver an Peregrine — c/o Peregrine Vine and Co., Quality Auctioneers — und lud ihn mit seiner Frau zum Mittagessen ein.
Joanie sagte Peregrine sofort, daß sie diese Einladung nicht annehmen wolle, aber dann überlegte sie sich die Sache noch einmal. Oliver und Cassidy Bolingbroke kennengelernt zu haben — mit ihnen zu Mittag gegessen zu haben —, würde ihr hervorragende Gelegenheit verschaffen, hier und da diesen Namen fallenzulassen. Monas Existenz konnte dabei ohne weiteres voll und ganz verleugnet werden.
Wie sehr sich Mona auch wünschte, Oliver hätte sie zuerst gefragt: Bei beiden Männern siegte die Neugier über die Zweifel. Am verabredeten Tag fuhren die Vines in ihrem Mercedes bei den Stallungen vor, wo die Bolingbrokes und Mona sie erwarteten.
In dem Moment, als Joanie ihre Mutter überheblich mit» Mona «anredete und Monas Versuch einer Umarmung frostig zurückwies, wußte Oliver, daß er einen schweren Fehler begangen hatte. Weltgewandt wie immer ignorierte er den peinlichen Augenblick und verfrachtete die ganze Gesellschaft zu einem Aperitif in den Salon. Und zuckte innerlich zusammen, als er bemerkte, daß Peregrine seine Möbel mit geübtem Blick taxierte.
Cassidy hatte sich derweil bei Mona eingehakt und nahm sie entschlossen unter ihre Fittiche. Denn auch sie hatte inzwischen begriffen, welche Katastrophe sich da anbahnte. Monas Widerstreben gegen dieses Treffen war völlig richtig gewesen.
Mona hatte sich wirklich Mühe gegeben: Sie trug eine saubere Cordsamthose und dazu eine weiße Bluse, in die sie über dem obersten Knopf eine kleine Perlbrosche gesteckt hatte — das äußerste, was sie an Feststaat zu bieten hatte. Cassidy zerschmolz vor Mitleid mit ihr und bedauerte — ebenso wie Oliver — die Einladung von Herzen.
Nach einigen Minuten reichlich geschwollener Konversation zwischen den beiden Männern (hauptsächlich über die unterschiedlichen Handelsusancen bei Kommoden und Junghengsten) bugsierte Cassidy ihre Gäste voller Ingrimm, aber äußerlich heiter ins Eßzimmer, wo der Tisch mit Silber und Kristall für fünf Personen gedeckt war.
Spontan sagte Joanie:»Sie erwarten also noch einen Gast?«
«Nein«, erwiderte Cassidy verwirrt,»niemanden außer uns.«
«Aber Mona wird doch bestimmt«, und dabei gingen Joanies Augenbrauen in die Höhe,»wie gewöhnlich in der Küche essen?«
Selbst Joanie wurde angesichts der plötzlich starren, reglosen Mienen ihrer Gastgeber klar, daß sie den für einen
Emporkömmling schlimmsten aller Fehler begangen hatte. Hilflos sagte sie:»Ich meine… ich meine«, aber ihre Äußerung war zu durchsichtig gewesen und ließ sich nicht mehr rückgängig machen.
Peregrine räusperte sich nervös und überlegte krampfhaft, was er sagen konnte — irgend etwas.
Oliver, bei weitem der schnellste Denker von allen, regte sich als erster wieder, lachte und rief:»Cass, meine Liebe, was für eine großartige Idee von Joanie. Laßt uns alle zusammen mit Mona in der Küche essen, so wie wir es gewöhnlich tun. Nehmen wir also alle unsere Teller und Servietten und Gläser und gehen wir in die Küche.«
Er raffte zusammen, was für ihn am Kopf der Tafel aufgedeckt worden war, und bedeutete den anderen, es ihm nachzutun. Dann musterte er die ganze Truppe noch einmal kurz und trat hocherhobenen Hauptes durch die Schwingtür in die geräumige, gemütliche Küche, in der er und Cassidy tatsächlich normalerweise mit Mona zusammen aßen.
Aber dennoch war die Mahlzeit eine einzige Qual. Niemand bedauerte den frühen Abschied der Vines, die den Käse unberührt am Rand ihrer Teller zurückließen und auch auf den Kaffee verzichteten. Oliver entschuldigte sich bei Mona, noch bevor der Mercedes der Vines das Fronttor passiert hatte, aber Mona, die wie immer schnell verzieh, machte sich von allen die wenigsten Gedanken über das Debakel.
Cassidy Lovelace Ward führte ein Doppelleben: Sie war einerseits Künstlerin, andererseits Ehefrau. Begonnen hatte ihre Beziehung zu Oliver mit der starken, im wesentlichen sexuellen Anziehung, die Oliver mit seiner ganzen Erscheinung, seiner Haltung und seinem Können auf dem Pferderücken auf sie ausgeübt hatte. Erfahren wie sie war, wußte sie wohl, daß erst ihre eigenen Gefühle für ihn in ihm einen Widerhall dieser Empfindungen geweckt hatten. Die Medien, die die körperliche Anziehung zwischen den beiden zynisch zur Kenntnis nahmen, lagen möglicherweise gar nicht so daneben, wenn sie den beiden schon für die allernächste Zukunft Langeweile und anschließend die Trennung prophezeiten, aber zu ihrer beider Überraschung waren aus dem Reiter und der Sängerin langsam enge und vertraute Freunde geworden.
Sie hatten sich kennengelernt in einer Zeit, in der Cassidy beinahe ständig mit den Mississippi-Liedern aus Nashville, Tennessee, in ihrer Heimat auf Tournee war. Mit dem Bus und in Begleitung von Manager, Musikern und weiteren Helfern ging es von Ort zu Ort. Requisiten, Bühnenbild, Beleuchtung, Kostümbildner und Garderobe folgten ihnen. Die ganze Unternehmung lebte von ihrem Genius, ihrer Energie und ihrer Ausstrahlung, und sie war tatsächlich wie alle großen Künstler des Showbusiness in der Lage, selbst innerlich Feuer zu fangen und ihr Publikum damit im Sturm zu erobern.
Aber diese Lebensweise kostete sie viel Kraft. Oliver war eines Abends beinahe über sie gestolpert, als sie auf einer Korbtruhe — einem Garderobenbehälter — draußen vor dem großen Reisebus saß, der sie in nächtlicher Fahrt in die nächste Stadt, zur nächsten Probe, vor die nächste hungrige, brüllende und applaudierende Meute von Fans bringen würde.
Daß Oliver überhaupt da war, hatte mit der Idee irgendeines klugen Kopfes zu tun, Cassidy solle in der Abendvorstellung in Westerntracht mit Cowboystiefeln, riesigem Hut und klirrenden Sporen auf die Bühne reiten. Ihr Manager — ein Mann ohne jeden Pferdeverstand — besorgte ihr dazu ein lebhaftes Springpferd und nicht etwa einen lethargischen alten Klepper. Oliver war gerade im Haus des
Pferdebesitzers zu Gast und ließ sich gutmütigerweise mit in die Sache hineinziehen; man fragte ihn, ob er sich nicht um die Sängerin kümmern könne. Dank seiner knappen Anweisungen war bei Cassidys Debüt zu Pferde alles gutgegangen.
«Kommen Sie doch mit«, sagte sie.»Wir können in jeder Stadt ein Pferd mieten.«
Er setzte sich neben sie auf die Korbtruhe und sagte:
«Das ist kein Leben für mich.«
«Zu künstlich, nicht?«
Nach der Tournee hatte sie in England mit Oliver auf dessen Weise gelebt — und dann, als sie dieses Leben nicht mehr befriedigte, ihre alte Lebensweise mit der neuen vermengt und wieder mit straßbesetzten Säumen auf der Bühne geglänzt und atemlose Mengen von Zuschauern begeistert. In ihr pulsierte ständig Musik. Die Geschichten des Lebens waren für sie Harmonien. Am Nachmittag nach dem furchtbaren Mittagessen spielte Cassidy voller Leidenschaft eine Mazurka von Chopin auf ihrem Flügel und schwor sich, Joanie Vine eines Tages dazu zu bringen, die Qualitäten ihrer bemerkenswerten Mutter anzuerkennen.
Oliver verstand intuitiv sowohl die Musik als auch Cassidys Gedanken.
Jedenfalls schlug er vor:»Warum schreibst du nicht einen Song für Mona? Du hast früher mehr geschrieben.«
«Das Publikum will die alten Lieder hören.«
«Auch die alten Lieder waren einmal neu.«
Cassidy zog ein Gesicht und spielte alte Lieder, weil ihr für etwas Neues die Inspiration fehlte.
Mona tröstete Cassidy und Oliver, die ebenso niedergeschlagen über die vergeudete Gastfreundschaft waren wie sprachlos angesichts Joanies brutaler Verachtung ihrer Mutter.
Resigniert gab Mona zu, daß sie seit Joanies Hochzeit daran gewöhnt sei. Oliver und Cassidy waren inzwischen so weit, daß sie Joanie erwürgt hätten, wäre sie noch greifbar gewesen.
«Denken Sie nicht so viel über sie nach«, versuchte Mona sie zu beruhigen.»Ich vermute, daß ich ihr nicht genug geben konnte, als sie klein war. Ich hatte nicht viel Geld, wissen Sie. Das wird es wohl sein. Jedenfalls«, fügte sie hinzu — denn sie war durchaus nicht dumm, wenn es darauf ankam —,»werde ich jetzt doch nicht ihr Leben ruinieren, indem ich bei ihren großartigen Bällen erscheine und mich als ihre Mutter zu erkennen gebe, nicht wahr? Und ich würde es Ihnen auch nicht danken, wenn Sie es täten. Lassen Sie sie gewähren, wenn sie dabei glücklich ist. So, das wollte ich Ihnen noch sagen.«
«Sie sind eine Heilige, Mona«, sagte Oliver.
Es dauerte eine Weile, genauer gesagt mehrere Wochen, bis Oliver, Cassidy und Mona sich bei ihren Abendmahlzeiten in der Küche wieder wohl fühlten. Mittlerweile lagen auch die Bolingbrokes sich wieder in den Haaren, ganz wie zuvor, mit lautstarkem Gebrüll, heftigen Wortwechseln und Wurfgeschossen. Eines Abends nach getaner Arbeit hörte Mona, wie Oliver schwere Anschuldigungen erhob, auf die Cassidy mit kreischendem Trotz reagierte. Sie trat entschlossen in die Küche und stemmte mißbilligend die Hände in die Hüften.
Ihr Erscheinen ließ die Streithähne ungefähr zehn Sekunden lang verstummen, dann knurrte Oliver:»Was zum Teufel tun Sie hier?«
«Verreckte Eier?«schlug Mona vor.
«O Gott. «Cassidy fing an zu kichern. Oliver stolzierte angewidert aus der Küche, kehrte aber postwendend grinsend und mit drei Gläsern Whisky zurück. Mona bereitete Omelettes zu, und Cassidy erzählte ihr, daß es bei dem Streit um eine längere Tournee in Amerika gegangen sei, die sie sich vorgenommen habe. Sie würde etwa zwei Monate lang unterwegs sein, und Oliver gefiel das nicht.
«Gehen Sie doch mit ihr, Junge«, sagte Mona. Friedlich und vernünftig entwarfen sie einen Plan. Oliver würde im ersten Monat seine Springen absolvieren und anderen Verpflichtungen nachkommen, sich für den zweiten Monat Cassidy anschließen und im November mit ihr zurückkehren. Mona sollte inzwischen in dem Apartment in den Stallungen wohnen, um im Haus nach dem Rechten zu sehen; ein weiterer, für die Dauer von Olivers Abwesenheit einzustellender Pferdepfleger sollte ihr dabei zur Hand gehen.
«Es ist alles so einfach«, seufzte Oliver.»Warum haben wir uns bloß gestritten?«
Während die Bolingbrokes noch mit dem Käse beschäftigt waren und über Häagen Dazs urteilten, klingelte ihr Anwalt (sie hatten die Verabredung mit ihm ganz vergessen), der ihre Unterschriften für die komplizierten Vereinbarungen über einen Treuhandfonds benötigte, an der Tür.
Oliver öffnete ihm und brachte ihn gleich mit in die Küche. Der Anwalt besaß ebenso wie Oliver die nötige Bildung und Menschenkenntnis, um auf Anhieb die inneren Werte der dritten Person bei Tisch zu erkennen und gleichzeitig über deren äußerliche, bäuerliche Schlichtheit hinwegsehen zu können.
Mona bot in ihrem tiefwalisischen Dialekt sogleich an, sich zurückzuziehen. Der Anwalt bat sie mit der gleichen Weltgewandtheit, die Oliver gewöhnlich zeigte, nichts dergleichen zu tun. Man benötige schließlich die Unter-schrift eines Zeugen. Mona räumte die Essensreste ab und schrieb ihren Namen auf die punktierten Linien.
«Und wie«, sagte der Anwalt frohgemut,»wäre es, Mrs. Watkins, wenn wir uns nun auch einmal der Regelung Ihrer Angelegenheiten zuwendeten?«
Mona fragte verwirrt, worum es dabei wohl gehen solle.
«Ein Testament vielleicht?«schlug der Anwalt vor.
«Wenn Sie noch kein Testament gemacht haben, könnten wir doch jetzt eins aufsetzen.«
«Ja, das stimmt«, drängte Oliver, der sich Mona gern für deren Unterschrift erkenntlich zeigen wollte, ohne sie zu verletzen.»Jeder sollte ein Testament haben.«
«Ich habe einmal darüber gesprochen«, sagte Mona.»Peregrine wollte, daß ich alles Joanie hinterlasse.«
Der Anwalt hatte bereits ein einfaches Testamentformular aus seiner dicken Aktentasche zutage gefördert und trug darauf lächelnd nach ihrem Diktat Monas Name und Adresse ein.
Dann fragte er, den Kugelschreiber im Anschlag, nach den Begünstigten.
«Was?«fragte Mona.
«Wer soll nach Ihrem Tod Ihren persönlichen Besitz erben?«
«Zum Beispiel mein Fahrrad«, nickte Mona.»Also.«
Sie hielt inne.». also, Joanie würde mein altes Rad nicht haben wollen. Ich würde einfach Cass oder Oliver bitten, mein altes Rad irgend jemandem zu geben, der es gebrauchen kann. Kann ich sie nicht einfach bitten, mit meinem alten Krempel so zu verfahren, wie sie es für richtig halten?«
Der Anwalt schrieb den Namen» Cassidy Lovelace Ward «in die Zeile für den» Alleinbegünstigten«; danach begleitete er Mona zusammen mit Oliver zur nächsten Gaststätte, die auf ihrem Heimweg lag, und bat dort zwei Fremde, Monas Unterschrift zu bezeugen — für einen Krug Bier.
Cassidy dachte, daß die Verteilung» ihres alten Krempels«, so wie Mona es gewünscht hatte, das mindeste sei, was sie Mona schuldig war, obwohl sie hoffte, daß sie es niemals wirklich würde tun müssen. Oliver kam mit einem Lächeln aus der Wirtschaft zurück und schleppte seine Frau in bester Laune ab ins Bett.
Schließlich brach Cassidy zu ihrer längeren Tournee nach Amerika auf. Oliver fühlte sich zwar einsam, gewann aber dennoch einen europäischen Grand Prix und wurde zum Sportler des Jahres gewählt. Mona, die mit Oliver reiste, um sich um die Pferde zu kümmern, war glücklich wie noch nie.
Nach der Hälfte von Cassidys Tournee verfrachtete Oliver Mona verabredungsgemäß in die kleine Wohnung in den Stallungen und vergewisserte sich, daß der auf Zeit eingestellte Pferdepfleger (ein erfahrener Kenner der Materie, der älter war als Mona) auch wirklich jeden Tag (auf seinem eigenen Fahrrad) erscheinen würde, um Mona beim Training der Pferde zu helfen. Voller Zuversicht schickte Mona Oliver auf die Reise zu Cassidy und ließ es sich während der nächsten Wochen gut gehen mit einem wohlgefüllten Kühlschrank, einem Farbfernseher und ohne den kleingeldgierigen Stromzähler, den sie ständig füttern mußte, wenn sie kochen und es warm haben wollte. In ihrem eigenen kleinen Häuschen beglich Mona gewissenhaft ihre Miete. Jede Woche zahlte sie etwas bei ihrem Sparverein ein — für» schlechte Zeiten«. Sie war ihr Leben lang mit wenig ausgekommen.
Am Ende ihrer Erfolgstournee vor ausverkauften Häusern, unmittelbar vor dem langen Rückweg nach Hause, schlug Oliver Cassidy vor, Monas Lohn zu erhöhen.
«Wir bezahlen ihr schon mehr, als jede andere Pferdepflegerin bekommt.«
«Und sie ist noch mehr wert«, sagte Oliver.
«Also gut. «Cassidy gähnte.»Und du brauchst ein neues Pferd… Hast du nicht gesagt, der wackere, große Schimmel sei inzwischen zu alt?«
Mona, die auf der anderen Seite des Erdballs gerade den Stall des schweren, klugen Schimmels ausmistete, war sich traurig der Tatsache bewußt, daß Oliver ihn bald verkaufen würde. Er war inzwischen fünfzehn Jahre alt, und seine Sprungkraft ließ nach.
Mona fühlte sich nicht ganz wohl, während sie sich um den Schimmel kümmerte, so als hätte sie ein leichtes Fieber, dem sie jedoch weiter keine Beachtung schenkte. Wie alle kerngesunden Menschen merkte sie es nicht, wenn sie krank wurde.
Aber ihr auf Zeit eingestellter Kollege sagte ihr am nächsten Morgen, als er ihr gerötetes Gesicht sah, er würde sich um die Pferde kümmern, und sie solle sich auf ihr Rad setzen und zum Arzt fahren. Mona fühlte sich schlecht genug, um zu tun, was er sagte, und war erleichtert zu erfahren, daß das, was mit ihr nicht stimmte, schlicht und einfach eine Grippe war.
«Die grassiert jetzt wieder«, erklärte ihr der überarbeitete Arzt.»Legen Sie sich ins Bett und nehmen Sie viel Flüssigkeit zu sich, dann wird es Ihnen bald bessergehen. Die Grippe wird von einem Virus verursacht. Es gibt kein Mittel dagegen, das ich Ihnen verordnen könnte, denn Antibiotika richten gegen die Viren nichts aus. Nehmen Sie Aspirin. Sehen Sie zu, daß Sie warm genug angezogen sind. Und trinken Sie viel Wasser. Melden Sie sich wieder, falls Sie viel husten müssen. Ansonsten sind Sie eine gesunde Frau, Mrs. Watkins. Legen Sie sich zu
Bett, ruhen Sie sich aus und trinken Sie viel, das wird Ihnen helfen.«
Langsam radelte Mona zurück zu den Stallungen der Bo-lingbrokes und berichtete ihrem Helfer von der Diagnose.
«Dann legen Sie sich sofort hin«, drängte er.»Überlassen Sie die Pferde mir.«
Dankbar zog sich Mona aus, schlüpfte in ihr warmes Nachthemd und kroch unter die Decke. Die Fahrt mit dem Rad hatte ihren Zustand arg verschlechtert. Sie erinnerte sich noch daran, daß sie Aspirin nehmen sollte, aber sie hatte keins. Sie döste ein und erlebte lächelnd noch einmal die fehlerlosen Ritte Olivers beim Europäischen Grand Prix.
Der alte Pferdeknecht war zu zurückhaltend und genant, um Monas kleine Wohnung zu betreten, denn ihr Bett stand keine zwei Meter von der Eingangstür entfernt. Allerdings öffnete er diese Tür jeden Morgen und jeden Abend einen schmalen Spalt, um nachzufragen, wie es ihr ging. Und als sich nach drei Tagen immer noch keine Anzeichen von Besserung zeigten, fuhr er selbst auf dem Fahrrad zum Arzt.
«Mrs. Watkins? Eine Grippe braucht ihre Zeit, wissen Sie. «Er blätterte in der dünnen Krankenakte.»Hier sehe ich, daß sie eine Tochter hat, ihre >nächste Verwandte, Mrs. Peregrine Vine. Vielleicht sollten wir sie um Hilfe bitten.«
Freundlich, wie er war, rief er selbst bei Joanie an, um die Börse des alten Pferdeknechtes zu schonen.
«Grippe!« rief Joanie.»Ich bin sicher, daß Mona alles hat, was sie braucht, wenn Sie sich um sie kümmern.«
Der Arzt runzelte die Stirn.»Sie könnte etwas einfache Pflege gebrauchen. Wechseln Sie ihr die Bettwäsche. Machen Sie ihr einen Tee. Geben Sie ihr Orangensaft zu trin-ken oder auch Bier. Irgend etwas in der Art. Es ist außerordentlich wichtig, daß sie viel trinkt. Wenn Sie es ermöglichen könnten.«
«Das kann ich nicht«, unterbrach Joanie ihn.»Ich habe den ganzen Tag lang Komiteesitzungen. Die kann ich nicht absagen.«
«Aber Ihre Mutter.«
«Es geht wirklich nicht«, sagte Joanie bestimmt.»Tut mir leid.«
Nachdem Joanie abrupt aufgelegt hatte, wirkte der Arzt einen Augenblick lang ratlos; dann legte auch er kopfschüttelnd auf, schrieb Joanies Telefonnummer auf eine seiner Visitenkarten und reichte sie dem Pferdeknecht.
Am nächsten Tag rief der Pferdeknecht selbst bei Joanie an und sagte ihr, daß es Mona weder besser noch schlechter gehe, daß er aber glaube, sie benötige die Gesellschaft ihrer Tochter.
«Warum kümmert Cassidy Bolingbroke sich nicht um sie?«fragte Joanie.»Sie mag sie doch so gern.«
Der Pferdeknecht erklärte ihr, daß Mrs. Bolingbroke sich auf dem Weg von Amerika nach Hause befinde, aber erst in zwei Tagen zurückerwartet werde.
«Zwei Tage? Dann ist ja alles in Ordnung«, sagte Joanie und legte auf. Sie fühlte sich tatsächlich erleichtert. Der Gedanke, ihre Mutter zu pflegen, sich auf intimen körperlichen Kontakt mit diesem alten Fleisch einzulassen, bereitete ihr Übelkeit.
Mona, die durchaus nicht unglücklich war, lag still in ihrem Bett und hatte weder Appetit auf etwas zu essen noch zu trinken. Sie nahm vage an, daß es ihr bald besser gehen würde: Bis es soweit war, würde sie schlafen.
Als die Bolingbrokes eintrafen, ging Cassidy sofort in Monas Wohnung. Dort war es überheizt, und die abgestandene Luft stank; Mona selbst wirkte aufgeschwemmt und driftete zwischen Zuständen des Wachens und der Bewußtlosigkeit hin und her. Cassidy tat für sie, was in ihren Kräften stand, schickte aber auch sofort nach dem Arzt. Dieser kam auf der Stelle, voller Angst, und bestellte nach einer kurzen Untersuchung einen Krankenwagen. Immer wieder beteuerte er Cassidy und Oliver:»Aber ich habe ihr doch ausdrücklich gesagt, ich habe darauf bestanden, daß sie viel trinkt. Sie sagt, sie habe seit einer Woche nichts mehr getrunken. Sie hatte nicht mal mehr die Kraft, sich eine Tasse Tee zu machen. «Er klang verzweifelt.»Ich werde Mrs. Vine sofort Bescheid geben, daß die Lage jetzt ernst ist… Darf ich Ihr Telefon benutzen?«
Wie vorauszusehen sah Joanie keinen Grund zur Panik und meinte, sie sei überzeugt, daß ihre Mutter in besten Händen sei. Der Arzt verdrehte die Augen. Trotz allem, was jetzt noch getan werden konnte, trotz Dialyse und Tropf und Cassidys Gebeten trieb Mona ganz still davon und starb noch in der gleichen Nacht im Krankenhaus an völligem Nierenversagen.
Das Krankenhaus informierte Joanie Vine von Monas Tod, nicht die Bolingbrokes. Es war der Arzt am Ort, der es Oliver sagte.
«Es war so unnötig. Die arme Frau. Wenn sie nur Flüssigkeit zu sich genommen hätte. Die Leute begreifen gar nicht, wie gefährlich eine Austrocknung sein kann.«
Er versucht, sich von seiner Schuld zu befreien, dachte Oliver, aber Mona hatte zweifellos seine Anweisung mißachtet.
Oliver und Cassidy saßen in der Küche und trauerten um ihre so wichtige und jetzt fehlende Freundin.
Erst als der alte Pferdeknecht ihnen von seinen eigenen und des Arztes ergebnislosen Telefongesprächen mit Joanie berichtete, wurde aus der Trauer der Bolingbrokes Zorn.
«Joanie hat sie umgebracht.« Cassidy ballte, außer sich vor Zorn, die Fäuste.»Sie hat sie buchstäblich umgebracht.«
Oliver überlegte mit etwas mehr Objektivität, daß Joanie das nicht so gewollt hatte: Daß sie nicht gewußt habe, wozu ihre Gleichgültigkeit führen würde. Kein Gericht würde sie für schuldig befinden, nicht der unbeabsichtigten Tötung, geschweige denn des Mordes. Die Sache würde niemals vor Gericht kommen.
Oliver, dem plötzlich wieder Monas einfaches Testament in den Sinn kam, beschloß sofort, ihren nächsten Reihenhausnachbarn zu fragen, was wohl am besten mit Monas» Krempel «zu tun sei, den sie Cassidy vermacht hatte. Wenn der Nachbar etwas mit den Sachen anfangen konnte, wären sie ja schon an eine gute Adresse gelangt. Er ließ Cassidy aufgebracht im Haus zurück, fuhr mit seinem Range Rover in die Stadt und traf vor Monas kleinem Häuschen auf einen Lieferwagen von Peregrines Firma —»Peregrine Vine and Co., Quality Auctioneers«. Arbeiter in Overalls waren eifrig damit beschäftigt, Monas armselige Habseligkeiten und ihr Mobiliar zu verladen.
Monas Nachbarin stand in Lockenwicklern, Pantoffeln und geblümter Schürze über dem Kleid zitternd draußen auf der schon winterlichen Straße; jede ihrer Muskelzuk-kungen verriet vergeblichen Protest.
Oliver machte dem Exodus ein Ende und redete mit der Nachbarin.
«Mona war noch keine sechs Stunden tot«, sagte sie entrüstet,»als Joanie persönlich herkam, um die Sachen ihrer
Mutter durchzugehen. Ich bin überzeugt, daß sie nicht fand, was sie suchte. Sie warf Dinge zu Boden und fuhr im Zorn davon. Deswegen räumen sie das Haus jetzt so schnell aus. Wie Hyänen. Mona hat ihr Heftchen mit den Rentenmarken hiergelassen und ebenso das Geld, das für die Miete eingezahlt werden sollte, solange sie bei Ihnen wohnte. Sie werden doch nicht darauf aus sein, oder? Es ist nicht sehr viel. Was soll ich wegen der Miete unternehmen?«
Oliver sagte, er würde sich um die Miete kümmern und auch um alles andere. Er rief Peregrine von seinem Handy aus an, um ihm mitzuteilen, daß Mona ein Testament hinterlassen habe, und klärte ihn darüber auf, wie dessen Bestimmungen aussähen.»Weisen Sie also bitte Ihre Leute an, mein lieber Freund«, sagte er höflich, aber mit unabweisbarer Autorität,»den Lieferwagen sofort wieder auszuladen.«
Peregrine dachte kurz nach und tat dann, worum Oliver ihn gebeten hatte. Er hatte den Lieferwagen nur geschickt, weil Joanie sich darauf versteift hatte, aber sie hatte ihm nicht erklärt, warum alles so eilig vonstatten gehen müsse: Es gab ja nichts Wertvolles in Monas Wohnung, weit gefehlt, aber mit Joan (so vertraute Peregrine Oliver von Mann zu Mann an) gingen manchmal eben die Pferde durch. Allerdings würde sie ziemlich wütend sein, wenn sie erfuhr, daß Mona ihren wertlosen alten Müll jemand anderem vermacht hatte.
«An Monas Beerdigung«, fuhr Oliver fort,»würden Cassidy und ich gern teilnehmen. Wir hatten sie sehr gern, wie Sie ja wissen.«
Peregrine fragte, welcher Tag ihm passen würde.
«Jeder Tag, außer dem kommenden Mittwoch«, erwiderte Oliver.»Dann fliegt Cassidy zu einem Konzert nach
Schottland, und ich muß mittags eine Rede halten, die ich nicht verschieben kann.«
«Es war Monas eigene Schuld, daß sie starb«, sagte Peregrine, der plötzlich in die Defensive ging.»Joan hat ihr angeboten, zu kommen und nach ihr zu schauen, aber Mona wollte das nicht. Sie hat ein paarmal angerufen und Joan gesagt, daß sie bleiben solle, wo sie sei. Das sei sehr verletzend gewesen, sagt Joan.«
Nachdenklich sagte Oliver:»In dem Zimmer, in dem Mona krank zu Bett lag, gibt es kein Telefon. Draußen bei den Ställen war es sehr kalt, glaube ich, und es ist ein ganz schönes Stück bis zur nächsten Eingangstür des Hauses, das während unserer Abwesenheit außerdem ebenfalls ungeheizt war.«
«Was wollen Sie damit sagen?«
«Von wo aus hat Mona angerufen?«
Peregrines Schweigen dauerte so lange, daß schließlich das Gespräch mit einem neuen Thema fortgeführt werden konnte. Er erwähnte Joans Kindheitsfotos. Falls Oliver dergleichen fände…
«Ich bin mir sicher«, beruhigte Oliver ihn,»daß Cassidy Joanie alles geben wird, was sie nach Monas Wunsch hätte bekommen sollen.«
«Beerdigung an jedem Wochentag außer Mittwoch«, bestätigte Peregrine und klang dabei fast freundlich.»Ich lasse Sie den Termin wissen.«
Als Oliver heimkam, saß Cassidy nicht mehr mit gesenktem Kopf am Küchentisch, sondern war in den Salon gegangen, wo sie ihren Gefühlen am Flügel freien Lauf ließ.
Oliver setzte sich still in das weiträumige Treppenhaus, wo er sie hören konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Cassidy sang ein neues Lied, ein noch unfertiges Lied, ein
Lied mit wenigen Worten, ein Lied der Trauer in MollAkkorden.
Alle guten Songs, hatte sie Oliver einmal anvertraut, handelten von Liebe oder Sehnsucht oder Trauer. Cassidys neues Lied war von allen dreien gleichzeitig beseelt.
Als sie Oliver auf den Treppenstufen entdeckte, unterbrach sie abrupt ihr Spiel und setzte sich neben ihn.
«Was hältst du davon?«fragte sie.
«Genial.«
«Es trägt noch keinen Namen.«
«Aber du hast es für Mona komponiert«, vervollständigte Oliver den Satz.
«Ja.«
In Olivers Begleitung fuhr Cassidy am nächsten Tag mit der halbfertigen Melodie zu den Musikern in ihrem Studio in London; ihr oft tiefsinniger Liedtexter unterlegte der Musik, von der er sofort sehr ergriffen war, Worte universeller Trauer und Hoffnung. Cassidy sang den Text so sanft, daß es einem fast das Herz brach, im Flüsterton. Alle im Studio sahen bereits gewaltige Verkaufszahlen vor sich, als sie sie singen hörten.
Cassidy, die wie immer nach kreativer Arbeit total erschöpft war, schlief auf dem Heimweg in der Limousine ein. Ihr Kopf lehnte an Olivers Schulter. Oliver dachte derweil über Pläne nach, die, so nahm er an, Mona nicht gefallen haben würden. Als sie zu Hause angekommen waren, Cassidy sich gähnend zurückgezogen und der alte (jetzt nicht mehr nur vorübergehend angestellte) Pferdeknecht Oliver erzählt hatte, er habe gehört, daß Mona in zwei Tagen beerdigt werden solle, an dem bewußten Mittwoch, wurden aus Olivers unverbindlichen Plänen Absichten von felsenfester Unerschütterlichkeit.
«Mittwoch!«rief er.»Sind Sie sich sicher?«
«So hieß es unten im Gasthaus.«
Oliver telefonierte mit drei Bestattungsinstituten, bevor er das richtige am Apparat hatte.
«Mrs. Watkins? Ja, am Mittwoch.«
Oliver hakte nach. Die Antworten lauteten:»Eine einfache preiswerte Standardbestattung«, und:»Ja, es wären fast alle anderen Wochentage in Frage gekommen, da diese kurze Form der Bestattung nur wenig Vorbereitung braucht, aber die nächsten Angehörigen wollten unbedingt den Mittwoch.«
Olivers bis dahin noch auf Eis liegende Pläne wurden schlagartig dringlich.
Joanie betrog ihre verstorbene Mutter um eine letzte Würde, die Ehre, daß die Berühmtheiten, für die sie gearbeitet hatte, ihren Sarg auf dem Weg zum Grab begleiteten.
Oliver und Cassidy schickten einen großen Kranz von Lilien. Monas Nachbarn erzählten ihnen später, daß Joanie diesen Kranz achtlos beiseite gelegt habe. Joanie hatte den wenigen Trauernden, die sich eingefunden hatten, verkündet, die Bolingbrokes hätten sich schlicht nicht die Mühe gemacht zu kommen.
Monas Asche war auf einem Rosenbeet im Park des Krematoriums verstreut worden, ohne Gedenktafel. Joanie, die insgeheim über ihre Befreiung jubelte, konnte nun ihre Eltern neu erschaffen und» einer reizenden Pferdekennerin der alten Schule«, wie Peregrine es salbungsvoll formulierte, zu posthumem Ansehen verhelfen.
Obwohl Oliver und Cassidy sich dafür entschieden hatten, ihr Leben so privat wie möglich zu führen, waren sie sich natürlich beide der Tatsache bewußt, daß sie für die Öffentlichkeit Stars waren. Beide hatten in der Tat hart dafür gearbeitet, um zu werden, was sie waren, und beide beabsichtigten, diesen Status so lange wie möglich beizubehalten. Nach Monas geiziger Bestattung beschloß Oliver, seinen beachtlichen Einfluß bis zum Äußersten einzusetzen — ganz gleich, ob Mona das so gewünscht hätte oder nicht.
Mit Cassidys Einverständnis wandte sich Oliver an das Organisationskomitee des großen jährlichen Reitspektakels, der fünftägigen Weihnachtsshow im Olympia mit ihren fünf Nachmittags- und fünf Abendveranstaltungen.
Abgesehen vom Hauptspringwettbewerb, in dem er auf jeden Fall teilnehmen würde, war Oliver Bolingbrokes Teilnahme als europäischer Grand-Prix-Gewinner und Sportler des Jahres außerdem beim Finale aller zehn Veranstaltungen, der prestigeträchtigen Parade der Champions, vorgesehen. Die Parade war in der Tat ohne ihn kaum denkbar. Oliver Bolingbroke war also, um es kurz zu machen, jemand, dem das Komitee schon aufmerksam zuhören mußte. Er schlug einen zusätzlichen Programmpunkt am Ende aller zehn Veranstaltungen vor.
Man hörte ihm zu.
Aller Augen weiteten sich. Schließlich nickte man zustimmend.
Oliver schüttelte den Komiteemitgliedern die Hände. Dann kehrte er nach Hause zurück und lehrte seinen klugen alten Schimmel geduldig eine ganze Reihe neuer Tricks.
Cassidys Manager setzte Verträge gleich dutzendweise auf. Ihre Musiker produzierten ein funkelndes Feuerwerk von Klängen. Die Plattenpressen liefen heiß. Cassidys neuer Titel über Liebe, Verlust und Sehnsucht drang langsam in das Bewußtsein der Nation.
Oliver lud Joanie Vine ein, an einer im Fernsehen übertragenen Ehrung ihrer Mutter teilzunehmen. Joanie wäre vor Hysterie beinahe erstickt. Peregrine versuchte, eine gerichtliche Verfügung zu erwirken, um Olivers Projekt aufzuhalten, konnte aber keine vernünftigen Gründe dafür geltend machen. Dieselben Glanzmagazine, die Joanie in deren Ballkleidern zeigten, füllten nun mit» Monas Leben «ihre Seiten, wobei auch Fotos von Monas armseligem Reihenhäuschen gebracht wurden. Peregrine wurde bereits belächelt, wenn auch vorerst noch hinter vorgehaltener Hand.
Bei der ersten der fünf Nachmittagsveranstaltungen war jeder Platz der großen Olympiahalle besetzt. Die Leute saßen sogar in den Gängen. Die Sache hatte sich herumgesprochen. Alle zehn Veranstaltungen waren ausverkauft.
Olivers Stimme verkündete aus stiller Dunkelheit heraus, daß diese kostenlose Vorführung dem Andenken seiner erstklassigen Pferdepflegerin Mona Watkins, einer einfachen Waliserin, gewidmet sei. An der Sorgfalt und dem Sachverstand, die notwendig waren, um ein Pferd der europäischen Spitzenklasse auf Wettbewerbe vorzubereiten, habe ihr niemand gleichkommen können.»Ich stehe in ihrer Schuld«, sagte er,»und deshalb, meine Damen und Herren, wird jetzt zu ihrem Andenken ihre Freundin, meine Frau Cassidy Lovelace Ward, ihr Lied für Mona vortragen.«
Die Dunkelheit vibrierte plötzlich von Musik aus den gewaltigen Lautsprecheranlagen, die überall rund um die Arena aufgestellt waren; das einfache klare Thema wurde absichtlich vorgespielt, damit die Melodie sich einprägte und jeder sie mitsummen konnte.
Dann erstrahlte ein einzelner Scheinwerfer, schnitt sich durch die brennende Luft und beleuchtete mit dramatischem Effekt den großrahmigen Schimmel, der bewe-gungslos im Eingang des Rings stand. Auf dem Rücken des Pferdes saß Cassidy — in silberfarbenes Leder gekleidet, im Westernstil, mit glänzenden Fransen, silberbeschlagenen Handschuhen und einem riesigen weißen Hut. Die Aufmachung, die schon das Publikum am Mississippi elektrisiert hatte, fand auch in London spontan Beifall.
Cassidy ritt auf dem Schimmel im Kreis herum; ganze Batterien regenbogenfarbiger Lichter ließen das Silber und Weiß ihres Kostüms wie buntes Glas erscheinen und auf den funkelnden Fransen immer wieder regenbogenfarbige Lichtbrechungen aufflammen. Alle paar Schritte vollführte der Schimmel auf seinen Sprunggelenken hoch aufgerichtet eine schnelle Drehung, während sich Cassidy an ihm festklammerte. Offensichtlich genoß das gealterte Springpferd den Auftritt als Star. Die Menge, die aus einer seltenlangen Einleitung im Programm wußte, mit wem sie es da zu tun hatte, lachte und feuerte den Schimmel an, bis Cassidy nach einer Runde ihren übergroßen Hut zog und ihre silberblonden Locken darunter hervorschüttelte.
Oliver hatte leichte Bedenken gehabt, daß der Glanz und Flitter, der in Tennessee wahre Triumphe hatte feiern können, sich für das Publikum einer Pferdeshow in England als zu künstlich erweisen könne, aber diese Befürchtung erwies sich als unbegründet. Cassidys Leute waren wirkliche Profis — die Musiker, die Beleuchter, die Bühnenarbeiter, alle. Sie hatten versprochen, ein unvergeßliches Ereignis zu inszenieren, und ihr Versprechen gehalten.
Am Ende ihrer vielfarbigen Runde ritt Cassidy in die Mitte des Rings und ließ sich vom Pferd gleiten, übergab Oliver, der dort im Dunkeln wartete, die Zügel. Dann erfolgte eine der Verwandlungen, die normalerweise mit Ahs und Ohs und Füßestampfen aufgenommen wurden — Cassidy streifte ihre Reittracht ab — ein glänzender Kleiderberg fiel in die Arena — und kam ganz in Weiß darunter zum Vorschein, in einem langen, mit Kristallen besetzten Abendkleid. Dann schritt sie die flachen Stufen zu der Plattform hinauf, auf der das Mikrophon wartete.
Cassidy nahm das Mikrophon und sang das Lied für Mona, das Lied von einer Frau, die sich nach einer verlorenen, aber nie vergessenen Liebe sehnte. Sie benutzte im Lied nicht Monas Namen, sondern sang von allen einsamen Menschen, die nach der Wärme des Herzens suchen.
Cassidy sang das Lied gleich zweimal: einmal leise, flüsternd und klagend und dann mit der ganzen Kraft ihrer gewaltigen Stimme, so daß es die ganze Halle erfüllte; sie flehte und beschwor die drei Parzen herauf, sie lud die Hoffnung ein.
Sie hielt den letzten hohen Ton lange an, bis man den Eindruck hatte, ihre Lungen müßten bersten — dann verstummte von einer Sekunde zur nächsten das Sperrfeuer des Supersounds der Lautsprecheranlagen. Die weißen Scheinwerfer ließen ihre Strahlen verlöschen, während Cassidy im dahinschwindenden Licht ihre funkelnden Kleider ablegte, sie als einen Haufen Glitzerkram liegen ließ und in Schwarz aus dem Lichtkreis schlüpfte.
Sie kehrte noch einmal kurz zurück, um den ungestümen Beifall entgegenzunehmen — in schwarzem Umhang mit funkelnden Säumen. Zum Dank winkte sie mit erhobenen Armen und war dann verschwunden. Der alte, in Nashville so wohlbewährte Zauber hatte seine Schwingen ausgebreitet und war im Olympia flügge geworden.
Sentimental, nörgelten einige Kritiker; aber die sentimentalen Lieder waren es, die die Herzen von Millionen erreichten, und dazu gehörte auch Cassidys Lied für Mona. Am Ende der zehn Live-Veranstaltungen im Olympia erklang die ohrwurmartige Melodie überall von CDs und Radios — sie war auf dem Weg zum Klassiker.
Joanie und Peregrine verfolgten die bejubelte Show am Abend mit zusammengebissenen Zähnen am Fernsehen. Wirklich traurig sei es, so gab der Studiosprecher bedauernd bekannt, daß der bekannte Auktionator Peregrine Vine und seine prominente Frau Joan, bei der es sich um Mona Watkins einzige Tochter handele, nicht in der Lage gewesen seien, auch nur an einer der Veranstaltungen teilzunehmen. Joanie versagte vor Ärger und Verbitterung die Sprache. Peregrine überlegte, ob es wohl möglich sei, in einer anderen Stadt noch einmal von vorn anzufangen: Aber das Lied für Mona wurde überall gesungen, in Konzerten und Karaoke-Lokalen. Peregrine musterte seine schöne, selbstsüchtige Frau und fragte sich, ob sie das Ganze wert war.
Die publikumswirksamen Auftritte im Olympia waren schon eine Weile vorüber, und Oliver und Cassidy kochten und aßen in ihrer Küche, ohne sich zu streiten. Obwohl sie sich an Monas Abwesenheit gewöhnt hatten, war deren Geist doch immer noch zu spüren, wie ihnen schien, und sagte ihnen im Zweifelsfall, daß sie lieber Eier aufschlagen statt Porzellan zerschlagen sollten.
Nach der Testamentsbestätigung hatte Cassidy Monas gesamten» Krempel«(einschließlich der Perlenbrosche und des Fahrrades) ordnungsgemäß der Nachbarin mit den Lockenwicklern gegeben, die ihn erfreut annahm. Und es war eher beiläufig, daß sich einer der Bolingbrokes fragte, was Joanie am Todestag ihrer Mutter wohl so dringend gesucht hatte.
«Weißt du«, sagte Cassidy beim Pilzomelette,»diese alte Schachtel mit Bildern von Joanie im Ballkleid, die Mona mitgebracht hat… Da waren auch Bilder von uns drin.«
Oliver holte die bis dahin übersehene Schachtel aus dem obersten Fach eines Garderobenschrankes und leerte sie auf dem Tisch aus.
Zwischen den ausgeschnittenen Artikeln und Bildern von Joanie und ihnen selbst fanden sie zwei zusammengefaltete Seiten der inzwischen lange nicht mehr existierenden Lokalzeitung eines kleinen walisischen Landstädtchens. Alt, brüchig und an den Rändern vergilbt.
Oliver faltete sie vorsichtig auseinander, sehr darauf bedacht, sie nicht zu beschädigen, und nun erfuhren die beiden Bolingbrokes, was Joanie Vine so eifrig zu verbergen versucht hatte.
Mitten auf der Frontseite des ersten Blattes sah man ein Foto von drei Menschen: Mona in jüngeren Jahren, ein Kind, das als Joanie erkennbar war, und ein untersetzter, humorloser Mann. Die Schlagzeile daneben lautete:
Einheimischer gesteht Vergewaltigung eines Kindes. Zehn Jahre Gefängnis.
Idris Watkins, Stallbursche, Ehemann von Mona und Vater von Joan, bat sich des Verbrechens für schuldig bekannt und ist ohne weitere Beweisaufnahme verurteilt worden.
Auf der zweiten vergilbten Seite stand ein Bericht ohne Bilder.
Stallbursche durch Sturz in vollem Galopp gestorben.
Idris Watkins, vor kurzem auf freien Fuß gesetzt, nachdem er sechs Jahre einer zehnjährigen Strafe für die Vergewaltigung eines Kindes abgebüßt hatte, starb am Donnerstag an einem Schädelbruch. Er hinterläßt eine Witwe, Mona, und eine Tochter, Joan, dreizehn.
Nach kurzem Schweigen sagte Oliver:»Das erklärt viel, denke ich.«
Er machte Fotokopien von den alten Seiten und sandte die Kopien Joanie.
Cassidy nickte und sagte:»Soll sie nur fürchten, daß wir ihr Geheimnis lüften und ihre Sozialaufsteigerexistenz ruinieren.«
Allerdings taten sie das nicht.
Das hätte Mona nicht gewollt.