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In diesem Moment betrat auch der athenische Flottenführer Karilaos in voller Montur das Zelt.
»Was sagst du jetzt?« meinte Alexander.
»Das wir Schwein hatten«, erwiderte Karilaos. »Ich hätte es jedenfalls auch auf offenem Meer mit ihnen aufgenommen . . .«
»So war es besser«, erwiderte Alexander. »Ich denke, wir haben einiges an Männern und Schiffen gespart.«
»Und jetzt?« fragte Nearchos.
»Wartet bis zum Nachmittag. Wenn sie bis dahin nicht zurückgekommen sind, laßt ihr die Schiffe wieder ins Wasser und haltet euch am Ankerplatz bereit.«
Die beiden Offiziere begaben sich zu ihren Rudermannschäften, und Alexander stieg aufs Pferd und ritt zusammen mit Se-leukos, Ptolemaios und Perdikkas zu den Belagerern vor der Stadt. Dort empfingen ihn als erstes das Dröhnen der Sturmböcke und der »Donner von Chaironeia« und erst danach General Parmenion.
Der König entdeckte, daß bereits eine Bresche in die Mauer geschlagen war, die mit jedem Rammstoß breiter wurde, und daß bereits der erste Belagerungsturm herangerollt wurde.
»In Kürze holen wir zum entscheidenden Schlag aus, König!« Parmenion mußte brüllen, um das fürchterliche Getöse zu übertönen.
»Hast du meine Befehle an die Soldaten weitergeleitet?«
»Jawohl, Herr: kein Gemetzel, keine Vergewaltigungen, keine Plünderungen. Wer zuwiderhandelt, wird an Ort und Stelle hingerichtet.«
»Und unseren Hilfstruppen, den Barbaren, hast du es auch übersetzen lassen?«
»Selbstverständlich, Herr.«
»Gut. Dann kann es losgehen.«
Parmenion nickte und gab einem seiner Männer ein Zeichen, worauf dieser dreimal mit einer gelben Fahne winkte. Der gigantische Holzturm setzte sich erneut in Bewegung und fuhr noch dichter an die Stadtmauer heran. Im selben Moment hörte man ohrenbetäubendes Gepolter und sah, wie ein breites Stück Mauer unter dem Druck der Sturmböcke einbrach und dabei eine riesige Staubwolke aufwirbelte, in der man Freund und Feind nicht mehr voneinander unterscheiden konnte.
Unterdessen war die Brücke im oberen Teil des Belagerungsturms heruntergelassen worden, und eine Schar Make-donen stürzte hinaus auf die Stadtmauer, um die Verteidiger von Milet anzugreifen, die von der Höhe herab die Mauerbresche unter Beschuß genommen hatten. Es gab augenblicklich ein wildes Handgemenge, in dessen Verlauf etliche der Angreifer von der Mauer stürzten oder über die Brüstung der Wehrgänge gestoßen wurden; trotzdem hatten die Makedonen auf dem Bollwerk schon bald einen Brückenkopf errichtet und begannen, nachdem alle Verteidiger von der Mauer vertrieben waren, die Männer jenseits der Bresche mit einem Hagel aus Pfeilen und Speeren zu attackieren.
Als sich die Staubwolke gelichtet hatte, drängte eine Abteilung »schildtragender Gardisten« durch die Mauerbresche in die Stadt, gefolgt von thrakischen und triballischen Sturmtruppen.
Die total erschöpften Krieger von Milet begannen entmutigt zurückzuweichen und gestatteten Parmenions Truppen, immer tiefer in die Stadt einzudringen.
Eine gewisse Anzahl von Soldaten niedrigerer Herkunft ergaben sich und wurden verschont, aber die griechischen Söld-ner und die unter den Adligen ausgehobenen Eliteeinheiten konnten auf soviel Gnade nicht hoffen. Sie rannten ans andere Ende der Stadt, warfen ihre Rüstungen weg und sprangen von einem Turm ins Meer, um zu der kleinen Insel Lade hinüberzuschwimmen. Dort war ein Fort, in dem sie sich verschanzen und vielleicht doch noch irgendwie verteidigen konnten.
Alexander ritt auf Bukephalos in die eroberte Stadt und stieg gleich auf den nach Osten gelegenen Teil der Mauer. Von dort konnte er, weit draußen in der Bucht, die schwimmenden Flüchtlinge erkennen. Einige von ihnen ertranken nach und nach vor Erschöpfung, andere schwammen mit regelmäßigen Zügen auf ihr Ziel zu.
Der König gab Hephaistion ein Zeichen, ihm zu folgen, und ritt im Galopp zum Flottenlager am Fuße des Latmos zurück, wo man inzwischen fast alle Schiffe wieder zu Wasser gelassen hatte. Alexander begab sich an Bord des Admiralsschiffs und befahl, Kurs auf Lade zu nehmen.
Als sie die Anlegestelle der kleinen Insel erreichten, sah er, daß die überlebenden Mileter sich bereits in dem Fort verschanzt hatten. Sie sahen aus wie Gespenster: völlig entkräftet, vor Wasser triefend und mit nichts als ihren Schwertern bewaffnet. Alexander befahl Hephaistion zurückzubleiben und näherte sich dem Fort.
»Warum seid ihr hierher geflohen?« schrie er.
»Weil diese Festung klein genug ist, um von wenigen Männern verteidigt zu werden«, schrien sie zurück.
»Wie viele seid ihr?« Alexander stand inzwischen unmittelbar vor der Festungsmauer. Hephaistion und die anderen Leibwächter umringten ihn, um ihn mit ihren Schilden zu schützen, aber er schickte sie zurück.
»Genug, um euch das Leben schwerzumachen.«
»Öffnet das Tor, es soll euch nichts geschehen. Ich respektiere Tapferkeit und Mut.«
»Wer bist du, junger Bursche?« fragte der Mann, der für alle sprach.
»Der König von Makedonien.«
Hephaistion befahl den Leibgardisten erneut, sich zu nähern, aber Alexander zwang sie mit einer Geste, stehenzubleiben. Die Verteidiger besprachen sich kurz, dann meldete sich der Mann von vorher erneut zu Wort: »Gibst du uns dein königliches Ehrenwort?«
»Ja, ich gebe euch mein königliches Ehrenwort.«
»Warte, ich komme runter.«
Kurz darauf hörte man, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde, das Tor der Festung öffnete sich und der Mann trat heraus. Er mochte um die Fünfzig sein, hatte einen langen, wirren Bart, salzverkrustete Haare und trockene, runzlige Haut. Zu seiner Verwunderung stand ihm nur einer gegenüber: Alexander.
»Darf ich reinkommen?« fragte er.
17
Nachdem die miletischen Krieger, die schwimmend auf die Insel Lade entkommen waren, Alexander kennengelernt und mit ihm gesprochen hatten, schworen sie ihm die Treue. Der Großteil von ihnen, nämlich gut dreihundert Mann, trat sogar in sein Heer ein, um an dem Asienfeldzug teilzunehmen.
Die Stadt selbst wurde ebenfalls verschont, es kam zu keiner einzigen Plünderung, und sogar die Reparatur der demolierten Mauer wurde bewilligt. Eumenes versammelte auf Geheiß des Königs den Stadtrat und ließ ihn die Wiedereinführung der Demokratie beschließen; des weiteren mußte er sich dazu verpflichten, die bisher an den persischen Großkönig abgeführten Steuern fortan Alexander zu bezahlen, und wo sie schon dabei waren, verlangte Eumenes auch gleich einen ordentlichen Vorschuß. Trotzdem blieb die Finanzlage aufgrund der enormen Kriegsausgaben äußerst kritisch.
Am darauffolgenden Tag setzte der Sekretär dem Generalstab die Situation anhand eines Kassenberichts haarklein auseinander. Daß man nach so großen Siegen praktisch immer noch pleite war, hinterließ bei vielen einen bitteren Nachgeschmack.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Leonnatos. »Wir müßten nur die Hand ausstrecken und hätten alles, was wir brauchten.
Diese Stadt ist so reich. . . warum nehmen wir sie nicht ein bißchen mehr aus?«
»Paß auf, Leonnatos, das ist so«, erwiderte Ptolemaios, als hätte er es mit einem Idioten zu tun. »Milet ist doch jetzt ein Teil unseres Reiches, nicht? Die Stadt auszunehmen, wäre wie Aigai oder Pella ausnehmen, begreifst du das?«
»So hat König Philipp aber nicht gedacht, als wir Olynthos und Poteideia eingenommen haben«, warf Kleitos der »Schwarze« ein.
Alexanders Miene verfinsterte sich, aber er sagte nichts. Auch von den anderen sagte keiner etwas, bis Seleukos dem peinlichen Schweigen ein Ende setzte: »Das waren andere Zeiten, Kleitos. König Philipp mußte Exempel statuieren, wir dagegen wollen die gesamte griechische Welt zu einem einzigen Vaterland vereinen.«
An diesem Punkt ergriff Parmenion das Wort: »Männer, bald brauchen wir uns über solche Probleme nicht mehr den Kopf zu zerbrechen: Jetzt bleibt nur noch Halikarnassos zu befreien. Ein bißchen Geduld, dann haben wir auch diese Hürde genommen und unser Werk vollendet.«
»Das meinst du«, entgegnete Alexander etwas gereizt. »Ich habe nie dergleichen gesagt und diesem Unternehmen weder zeitliche noch räumliche Grenzen gesetzt - in keinem Moment. Aber wenn dir nicht danach ist, General, kannst du auch umkehren.«
Parmenion senkte den Kopf und biß sich auf die Unterlippe.
»Mein Vater wollte nicht. . .«, begann Philotas, doch Alexander fiel ihm ins Wort:
»Ich weiß gut, was dein Vater sagen wollte, und es war nicht meine Absicht, einen großen Soldaten wie ihn zu demütigen. Aber General Parmenion hat unzählige Schlachten, unzählige Belagerungen, unzählige Nachtwachen hinter sich, und er ist nicht mehr der Jüngste. Keiner würde ihn dafür tadeln, daß er nach Hause zurückkehren und sich ein wenig ausruhen möchte - das hätte er wahrhaftig verdient.«
Parmenion hob den Kopf und ließ den Blick umherschweifen wie ein alter Löwe, dem seine Jungen langsam ein wenig zu frech werden.
»Ich brauche mich nicht auszuruhen«, sagte er. »Ich könnte heute noch jedem in diesem Zelt beibringen, wie man ein Schwert gebraucht — mit Ausnahme des Königs«, fügte er hinzu, obwohl natürlich allen klar war, daß er eigentlich genau das Gegenteil meinte. »Und wenn ihr mich fragt, so gibt es nur einen Weg, mich vor Beendigung dieser Expedition heimzuschicken: in einer Urne nämlich.«