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Im königlichen Zelt erhob sich leises Murmeln.
»Du willst die Flotte auflösen?« wiederholte Nearchos ungläubig.
»Jawohl«, erwiderte Alexander in festem Ton. »Die Ereignisse dieser Tage haben gezeigt, daß wir auch ohne sie auskommen; mit zwanzig Schiffen für den Transport der Belagerungsmaschinen haben wir genug. Wir werden über Land vorrücken und nach und nach die ganze Küste und sämtliche Häfen erobern; die persische Flotte soll nirgendwo mehr anlegen und sich mit Proviant versorgen können.«
»Aber sie können immer noch Makedonien ansteuern«, bemerkte Nearchos.
»Stimmt, aber ich halte es für unwahrscheinlich, daß sie das tun«, erwiderte Alexander. »Antipatros ist für alle Fälle gewarnt - ich habe ihm bereits einen Brief geschrieben.«
»Mit dieser Maßnahme könnten wir natürlich einhun-dert-fünfzig Talente am Tag sparen — über die wir obendrein noch gar nicht verfügen . . .«, bemerkte Eumenes.
»Und noch etwas«, sagte Alexander. »Wenn unsere Soldaten wissen, daß jede Flucht übers Meer von vornherein ausgeschlossen ist, sind sie stärker motiviert. Ich will meinen Beschluß noch morgen Karilaos mitteilen. Du, Nearchos, übernimmst das Kommando der kleinen Flotte, die uns weiter begleitet. Das ist nicht viel, aber sehr wichtig.«
»Wie du möchtest, Herr«, erwiderte der Admiral resigniert. »Und hoffen wir, daß du recht behältst.«
»Verlaß dich drauf«, sagte Hephaistion. »Seit ich Alexander kenne, hat er sich noch kein einziges Mal getäuscht. Ich bin jedenfalls seiner Meinung.«
»Ich auch«, sagte Ptolemaios. »Wir brauchen die Athener nicht. Überhaupt werden die uns noch eine gesalzene Rechnung für ihre Mithilfe präsentieren, wartet's ab . . .«
»Dann seid ihr also alle einverstanden?« fragte der König.
Bis auf Parmemon und den »Schwarzen« nickte alles.
»Kleitos und ich sind nicht einverstanden«, sagte Parmenion, »aber das soll nichts heißen. Bis jetzt hat der König noch immer bewiesen, daß er unseren Rat nicht braucht. Auf unsere Ergebenheit und Unterstützung kann er trotzdem rechnen.«
»Und die habe ich bitter nötig«, sagte Alexander. »Wenn Kleitos nicht gewesen wäre, stünde ich jetzt gar nicht mehr vor euch. Er hat am Granikos den Arm abgeschlagen, der drauf und dran war, mich zu köpfen — das vergesse ich ihm nie. Und jetzt laßt uns essen, ich bin richtig hungrig! Morgen versammeln wir das Heer und unterrichten unsere Soldaten.«
Eumenes erklärte den Kriegsrat für beendet und ließ die Einladung zum Abendessen auch den athenischen Offizieren sowie Kallisthenes, Apelles und Kampaspe überbringen, die erfreut zusagten. Danach bestellte er eine Gruppe hübscher »Gefährtinnen«, die wußten, wie man eine Bande junger Männer unterhält. Sie stammten alle aus Milet und hatten ausgesprochen vornehme Manieren. Da ihre Vorfahren vom Meer und aus den weiten Hochebenen im Landesinnern gekommen waren, besaßen sie die dunkelhäutige Schönheit orientalischer Göttinnen.
»Gebt General Parmenion auch eine!« schrie Leonnatos. »Mal sehen, ob er uns außer mit dem Schwert auch mit der Stange noch was beibringen kann!«
Die Bemerkung wurde mit lautem Gelächter quittiert, und damit löste sich schlagartig die Spannung des heiklen Moments, denn obwohl keiner von ihnen Angst hatte, stellte der Rückzug der Flotte doch eine einschneidende Veränderung dar, ja, er mutete fast wie ein Vorzeichen an: Nun waren wirklich alle Brücken in die Heimat abgebrochen - womöglich für immer.
Das fröhliche Gelage hatte noch nicht lange begonnen, als Alexander aufstand und das Zelt verließ. Der zypriotische Wein war ihm ein wenig in den Kopf gestiegen, und außerdem war es ihm peinlich, daß Kampaspe, die neben ihm saß, immer zudringlicher wurde: Obwohl keineswegs Linkshänderin, hatte sie die ganze Zeit über mit der linken Hand gegessen -ihre Rechte war anderweitig beschäftigt gewesen . . .
Draußen ließ der König sich sofort Bukephalos bringen und entfernte sich in gestrecktem Galopp landeinwärts. Er wollte den Duft der Frühlingsnacht genießen und den herrlichen Vollmond, der gerade aufging.
Zehn Männer seiner Leibgarde waren ihm augenblicklich hinterhergeritten, aber ihre Pferde kamen Bukephalos kaum nach, der selbst den steilen Weg auf den Latmos hinauf noch spielend nahm.
Alexander zügelte den Rappen nicht, bis er vor Schweiß triefte, erst dann ließ er ihn in Schrittempo verfallen und ritt gemächlich über die gewellte Hochebene, die sich vor ihm auftat. Hier und da konnte man ein kleines Dorf, ein einsames Bauerngehöft oder die Hütte eines Schafhirten erkennen. Die Leibwächter, die ihren König inzwischen kannten, blieben auf Abstand, behielten ihn aber immer im Auge.
Von Zeit zu Zeit sah er einen makedonischen Wachtrupp durch die Nacht reiten, gefolgt von wütendem Hundekläffen aus den Bauernhöfen und vom Gezeter aufgescheuchter Vögel. Sein Heer war dabei, das Landesinnere von Anatolien -ein mächtiges Reich aus uralten Stämmen - Stück für Stück in Besitz zu nehmen.
Während er in Gedanken versunken dahinritt, nahm Alexander auf der Straße, die in die kleine Stadt Alinda führte, plötzlich Unruhe wahr: aufgeregtes Stimmengewirr und Fak-keln, die zusammenliefen.
Er setzte sich einen breitkrempigen makedonischen Hut auf, den er immer bei sich hatte, und wickelte sich fest in seinen Mantel. Dann ritt er langsam auf den Unruheherd zu.
Wie sich herausstellte, hatten einige seiner Reiter eine Kutsche angehalten, deren Bewacher - zwei lanzenbewaffnete Männer -Widerstand leisteten und sich weigerten, die Insassen des Gefährts aussteigen zu lassen.
Alexander ritt auf den Anführer des kleinen Trupps zu und gab ihm ein Zeichen; der Mann zog zunächst ein ärgerliches
Gesicht, als er jedoch im Mondschein die Blesse in Form eines Stierschädels auf Bukephalos Stirn erkannte, begriff er, daß er seinen König vor sich hatte.
»Herr, verzeih . . .«
Alexander bedeutete ihm, die Stimme zu senken, und sagte: »Was ist hier los?«
»Meine Soldaten haben diese Kutsche angehalten. Wir möchten wissen, wer da mitten in der Nacht unterwegs ist, noch dazu mit Geleitschutz. Aber die Leute machen Schwierigkeiten . . .«
»Laß deine Reiter ein Stück zurückweichen und sag den beiden Männern, daß sie nichts zu befürchten haben und daß ihren Schutzbefohlenen in dem Fuhrwerk nichts geschieht, wenn sie sich zeigen.«
Der Offizier gehorchte, aber die Männer, die das Gefährt bewachten, zeigten keinerlei Reaktion. Dafür meldete sich hinter dem Vorhang der Kutsche plötzlich eine weibliche Stimme: »Sie verstehen kein Griechisch, wartet einen Augenblick . ..«
Gleich darauf stieg eine Frau mit verschleiertem Gesicht aus der Kutsche, indem sie ihren zierlichen Fuß auf das Trittbrett setzte und dann anmutig auf die Erde hüpfte. Alexander bat den Offizier, ihm mit einer Fackel zu leuchten, und trat auf die Frau zu.
»Wer bist du? Warum reist du mitten in der Nacht und in Begleitung bewaffneter Männer? Und wer ist sonst noch in der Kutsche?«
Die Frau enthüllte ihr Gesicht, das von umwerfender Schönheit war: Ihre großen schwarzen Augen wurden von langen Wimpern überschattet, und die vollen Lippen waren fein geschwungen. Vor allem jedoch beeindruckte ihre Haltung, die stolz, aber nicht hochmütig war und nur einen winzigen Anflug von Furcht verriet.
»Ich heiße . . . Mitrianes«, erwiderte sie nach kurzem Zögern. »Eure Soldaten haben mein Haus und meine Ländereien am Fuße des Latmos besetzt; deshalb bin ich zu meinem Mann unterwegs, der sich zur Zeit in Prusa in Bithynien aufhält.«
Alexander warf dem Offizier einen Blick zu, worauf dieser fragte: »Wer ist sonst noch in der Kutsche?«
»Mein Söhne«, erwiderte die Frau und rief sie heraus. Zwei Jungen, die ebenfalls bildhübsch waren, stiegen aus der Kutsche. Einer von ihnen ähnelte sehr seiner Mutter, der andere dagegen überhaupt nicht: Er hatte blaue Augen und eine schmale, gerade Nase.
Der König betrachtete sie aufmerksam. »Verstehen sie Griechisch?«
»Nein«, sagte die Frau, aber Alexander war nicht entgangen, daß sie den Jungen einen vielsagenden Blick zugeworfen hatte, der wohl bedeuten sollte: Laßt mich sprechen.
»Wie kommt es, daß einer von deinen Söhnen blaue Augen und eine so gerade Nase hat? Ist dein Mann kein Perser?« sagte der König und merkte, daß seine Frage die Frau in Schwierigkeiten brachte. Er zog sich den Hut vom Kopf, so daß man sein Gesicht sehen konnte, und trat noch dichter an sie heran, fasziniert von ihrer Schönheit und der aristokratischen Würde ihres Blicks.
»Mein Mann ist Grieche und war . . . der Arzt des Satrapen von Phrygien. Ich habe lange nichts mehr von ihm gehört und fürchte, daß ihm etwas zugestoßen ist. Wir wollen ihn suchen.«
»Aber doch nicht jetzt, mitten in der Nacht! Das ist viel zu gefährlich für eine Frau und zwei Kinder. Ihr seid heute nacht meine Gäste, und morgen früh brecht ihr mit einem besseren Geleitschutz wieder auf.«
»Ich bitte dich, mächtiger Herr, mach dir doch unseretwegen keine Gedanken. Ich bin sicher, daß uns nichts passiert, wenn du uns ziehen läßt. Wir haben noch einen so langen Weg vor uns und . . .«
»Fürchte dich nicht«, sagte Alexander. »Es wird euch nichts geschehen. Niemand soll es wagen, euch auch nur ein Haar zu krümmen.« Dann wandte er sich an seine Männer und befahl: »Begleitet die Frau und ihre Kinder ins Lager!«
Mit diesen Worten sprang er wieder auf sein Pferd und sprengte davon, gefolgt von seinen Leibwächtern, die ihn keinen Moment aus den Augen gelassen hatten. Unterwegs begegneten sie Perdikkas, der den König verzweifelt suchte.
»Bitte sag mir in Zukunft, wenn du dich vom Lager entfernst; falls dir etwas zustößt, bin ich dafür verantwortlich und . . .«
Alexander unterbrach ihn: »Mir stößt nichts zu, mein Freund, dafür trage ich schon selber Sorge. Wie ist das Abendessen verlaufen?«
»Wie immer, aber der Wein hatte es in sich: An so starken Wein sind unsere Männer nicht gewöhnt.«