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»Dieser Mann ist ein gerechter Mensch und ein großer Krieger«, antwortete seine Mutter. »Warum er ein Porträt von eurem Vater hat, weiß ich nicht: Vielleicht, weil Memnon der einzige Mann auf der Welt ist, der sich mit ihm vergleichen kann.«
Als sie sich ein letztes Mal umdrehte, sah sie, daß Alexander noch immer reglos auf Bukephalos saß und ihr von einer windigen Anhöhe aus nachsah. Und genau dieses Bild sollte sich ihr auf ewig einprägen.
Memnon blieb zehn Tage in den Hügeln um Halikarnassos. Dort wartete er, daß diejenigen seiner Soldaten, die die Schlacht am Granikos überlebt hatten - und das waren etwa eintausend -sich wieder mit ihm vereinigten, und bildete mit ihnen ein neues, wenn auch sehr kleines Heer. Dann ritt er eines Nachts -in einen langen Umhang gehüllt und mit einem persischen Turban auf dem Kopf, der sein Gesicht fast völlig verdeckte - in die Stadt hinunter und lenkte sein Pferd zum Haus der Ratsversammlung.
Der große Versammlungssaal befand sich ganz in der Nähe des riesigen Mausoleion, des monumentalen Grabs von Karia Mausolos, der Halikarnassos zur Hauptstadt seiner Satrapie erkoren hatte.
Memnon betrachtete das grandiose Bauwerk im Mondschein: Ein mächtiger Steinwürfel bildete den Sockel für eine Kolonnade aus ionischen Säulen; darüber erhob sich eine Stufenpyramide, auf deren Spitze eine wahrhaft gigantische Bronzeskulp-tur thronte - sie hatte die Form eines von dem Verstorbenen gelenkten Viergespanns.
Die berühmtesten Künstler der Zeit - Skopas, Bryaxis, Leo-chares - hatten das Grabmal mit Episoden aus der griechischen Mythologie ausgeschmückt, Episoden, die längst in die einheimische Erzähltradition eingegangen waren, vor allem natürlich, wenn sie in Asien spielten, wie der Kampf zwischen Griechen und Amazonen.
Memnon vertiefte sich einen Moment lang in die Betrachtung eines Flachreliefs, auf dem ein griechischer Krieger eine Amazone am Haarschopf gepackt hatte und ihr mit dem Fuß in den Rücken trat. Er hatte sich immer gefragt, weshalb in der »erhabenen« griechischen Kunst so häufig Szenen der Gewalt gegen Frauen vorkamen, und er war zu dem Schluß gelangt, daß es sich schlicht und einfach um Angst handeln mußte -dieselbe Angst, welche den griechischen Mann veranlaßte, seine Gemahlin in ein Gynäkeion einzuschließen, so daß er für alle öffentlichen Anlässe auf Gefährtinnen zurückgreifen mußte.
Er dachte an Barsine, die bestimmt schon auf der Königsstraße mit den goldenen Toren war und also in Sicherheit, aber der Gedanke an sie, an ihren gazellenhaften Körper, ihre braune Haut, den Veilchenduft ihrer Haare, den sinnlichen Klang ihrer Stimme füllte ihn mit schmerzlicher Sehnsucht. Mit einem tiefen Seufzer drückte er seinem Pferd die Absätze in die Weichen und ritt weiter, aber sosehr er auch versuchte, die Wehmut zu verscheuchen und sich damit zu trösten, daß ihn der Großkönig in Person schon bald mit den ehrenvollsten Sondervollmachten ausstatten würde - es half alles nichts.
Irgendwann kam er an der Bronzestatue des illustersten Bürgers von Halikarnassos vorüber, nämlich des großen Herodot, Verfasser des monumentalen Geschichtswerks mit dem Titel »Historiae«. Herodot hatte als erster den Titanen-Kampf zwischen Griechen und Barbaren in den Perserkriegen beschrieben, und möglicherweise war er der einzige, der als Sohn eines griechischen Vaters und einer asiatischen Mutter die tieferen Gründe dieser Auseinandersetzung wirklich begriffen hatte.
Vor dem Versammlungssaal angekommen, stieg Memnon vom Pferd, schritt die breite Freitreppe hinauf, die zwei Reihen Öllampen in Form großer Dreifüße erhellten, und klopfte mehrmals an das mächtige Tor. Endlich wurde ihm geöffnet.
»Ich bin Memnon«, sagte er, indem er den Kopf entblößte.
Ein Diener geleitete ihn augenblicklich in den Saal; alle bürgerlichen und militärischen Autoritäten der Stadt waren dort versammelt: die persischen Kommandeure der Garnison, die athenischen Generäle Ephialtes und Trasibulos als Anführer der Söldnertruppen sowie der karische Satrap Orontobates, ein korpulenter Perser, der sich durch seine auffällige Kleidung, Ohrringe, einen ungewöhnlich kostbaren Ring und den herrlichen reingoldenen Akinakes an seiner Seite auf den ersten Blick von allen anderen abhob.
Auch der örtliche Dynast, König Pixodaros von Karien -ein Mann um die Vierzig mit pechschwarzem Bart und graumeliertem Schläfenhaar - war zugegen. Er hatte vor zwei Jahren seine Tochter mit einem Prinzen des makedonischen Königshauses vermählen wollen, aber die Heiratsverhandlungen waren letztendlich gescheitert, und so hatte er mit Orontobates, dem neuen Satrapen von Karien, vorliebnehmen müssen, der nun sein Schwiegersohn war.
Für die Vorsitzenden der Versammlung waren drei Sessel bereitgestellt; zwei von ihnen waren bereits von Pixodaros und Orontobates besetzt, auf den dritten, zur Rechten des persischen Satrapen, bat man nun Memnon. Alles wartete gespannt auf seine Ansprache, das war deutlich zu spüren.
»Männer von Halikarnassos und Männer von Karien«, hob er an. »Der Großkönig hat mir keine geringe Verantwortung übertragen - die Verantwortung, eine Invasion des makedonischen Herrschers und seiner Truppen zu verhindern. Und ich gedenke, ihn nicht zu enttäuschen - koste es, was es wolle- .
In diesem Raum dürfte ich der einzige sein, der Alexander je zu Gesicht bekommen hat und seinem Heer mit Schwert und Lanze gegenübergetreten ist. Deshalb müßt ihr mir glauben, wenn ich euch sage, daß er ein höchst ernstzunehmender Gegner ist. Nicht nur, daß sein Mut auf dem Schlachtfeld an Tollkühnheit grenzt, er ist auch taktisch sehr geschickt und vor allem: unberechenbar. Aus der Art und Weise, wie er Milet eingenommen hat, könnt ihr schließen, wozu dieser Mensch - selbst bei totaler Unterlegenheit auf dem Meer - fähig ist.
Ich gedenke aber nicht, mich von ihm übertölpeln zu lassen: Halikarnassos wird nicht fallen! Wir werden es so einrichten, daß seine Soldaten sich die Zähne an unserer Stadtmauer ausbeißen. Wir lassen sie so lange dagegen anrennen, bis sie ihren letzten Funken Kraft und Energie verbraucht haben. Halikarnassos kann dank der Übermacht unserer Flotte weiter vom Meer aus versorgt werden und einer Belagerung praktisch unbegrenzt standhalten. Im geeigneten Moment werden wir jedoch massiv ausfallen und die erschöpften makedonischen Krieger förmlich über den Haufen rennen.
Hört meinen Plan: An erster Stelle müssen wir dafür sorgen, daß Alexander mit seinen Belagerungsmaschinen nicht zu nahe an die Stadtmauer herankommt - ich glaube, ihr wißt, wie ge-fährlich diese Kampfgeräte sind; die besten Kriegsbaumeister Griechenlands haben sie eigens für König Philipp entworfen . . . Also gut, wenn wir das schaffen, schlagen wir ihn mit seinen eigenen Waffen. In Milet hat der Makedone unsere Flotte daran gehindert, sich mit Trinkwasser und Lebensmitteln zu versorgen, indem er alle Anlegestellen entlang der Küste besetzt hat. Jetzt tun wir dasselbe, indem wir verhindern, daß er seine Kriegsmaschinen in Stadtnähe von den Schiffen abladen kann. Dazu verlegen wir Reiterabteilungen und Sturmtruppen an jeden Strand, in jede Bucht und an jede Flußmündung, die weniger als dreißig Stadien von Halikarnassos entfernt sind. Und das ist noch nicht alles: Der einzige Punkt, von dem aus er überhaupt einen Angriff auf uns wagen könnte, ist die nördliche Stadtmauer; deshalb lassen wir dort einen Graben ausheben, der vierzig Fuß lang und achtzehn Fuß breit ist. Durch einen so breiten Graben kommt Alexander mit seinen Maschinen niemals durch - selbst für den unwahrscheinlichen Fall, daß es ihm gelingen sollte, sie an Land zu verfrachten.
Von meiner Seite war das für den Moment alles. Sorgt dafür, daß die Arbeiten morgen früh mit dem ersten Sonnenstrahl begonnen und Tag und Nacht fortgeführt werden.«
Memnons Plan erschien allen perfekt und wurde einstimmig angenommen. Danach löste die Versammlung sich allmählich auf; die Männer verließen einzeln oder in Grüppchen den Saal und verloren sich in den vollmondbeschienenen Gassen von Halikarnassos. Nur die zwei Athener - Trasibulos und Ephialtes - blieben noch.
»Habt ihr mir etwas zu sagen?« fragte Memnon.
»Ja«, erwiderte Trasibulos. »Ephialtes und ich wüßten gerne, ob wir uns auf dich und deine Männer verlassen können.«
»Dasselbe könnte ich euch fragen«, erwiderte der Rhodier.
»Nein, Memnon, deine Lage ist anders als unsere«, entgegnete Ephialtes, ein vierschrötiger, gut sechs Fuß großer »Herakles«. »Trasibulos und mich beflügelt der Haß auf die Makedonen - sie haben unsere Heimatstadt gedemütigt und dazu gezwungen, einen schändlichen Friedensvertrag anzunehmen. Wir sind Söldner geworden, weil es der einzige Weg war, den Feind zu bekämpfen, ohne unsere Stadt zu gefährden. Was aber treibt dich, Memnon? Wer garantiert uns, daß du der Sache treu bleibst und nicht irgendwann zum Feind überläufst, wenn es dir besser in den Kram paßt? Immerhin bist du ein . . .«
»Berufssöldner?« fragte Memnon.
»Ja, genau . . . Wie es auch deine Männer sind, vom ersten bis zum letzten. Nichts gibt es auf den Märkten von heute so im Überfluß wie Söldner. Ihr behauptet zwar, man könne sich auf euren Haß verlassen, aber stimmt das wirklich? Ich habe schon in vielen Situationen die Angst über den Haß siegen sehen -warum sollte es euch anders ergehen?«
Memnon betrachtete ihn mit ernstem Gesicht und sagte: »Ich habe keine andere Heimat als die Ehre und mein Wort, und darauf müßt ihr euch verlassen. Nichts ist wichtiger für mich -außer vielleicht meine Familie.«
»Der Großkönig soll deine Frau und eure Kinder nach Susa beordert haben . . . Könnte es nicht sein, daß er sie als Geiseln möchte, weil auch er dir nicht völlig vertraut?«
Memnon durchbohrte den Athener mit einem eiskalten Blick: »Um Alexander schlagen zu können, brauche ich volle Unterstützung und blinden Gehorsam. Wenn ihr an meinem Wort zweifelt, will ich euch nicht. Geht, ich spreche euch von eurer Verpflichtung frei. Geht, solange ihr noch Zeit dazu habt.«
Die beiden athenischen Generäle verständigten sich über einen raschen Blickwechsel, dann sagte Ephialtes: »Wir wollten nur wissen, ob das, was man sich über dich erzählt, wirklich wahr ist. Jetzt wissen wir es. Du kannst auf uns zählen, General - bis zu unserem Tod.«
Mit diesen Worten gingen die beiden hinaus und ließen Memnon alleine in dem großen Saal zurück.
20
Alexander liess nach entsprechenden Beratungen mit seinen Offizieren das Feldlager vor der Stadtmauer von Milet abbrechen und gab Nearchos' Männern Befehl, die Belagerungsmaschinen auseinanderzunehmen und auf die Schiffe und Lastkähne zu verfrachten, die in Strandnähe vor Anker lagen. Sobald die Operation beendet war, würde der Admiral Kap Milet umschiffen, um in der unmittelbaren Umgebung von Ha-likarnassos einen günstigen Anlegeplatz auszumachen. Zwei kleine Geschwader von Schlachttrieren unter athenischem Kommando sollten ihn dabei begleiten.
Der Strand wimmelte von Soldaten, und es herrschte ein unglaublicher Lärm: Hammerschläge, Zurufe und das rhythmische Gebrüll der Schiffsmannschaften, die unter großer Anstrengung die demontierten Belagerungsmaschinen an Bord der Schiffe hievten.
Der König warf einen letzten Blick auf die Flotte der Verbündeten - oder was noch davon übrigblieb - und auf Milet, das sich friedlich an seinen Hügel schmiegte, dann gab er das Zeichen zum Aufbruch. Vor ihm öffnete sich ein breites Tal, im Norden von den olivenbewachsenen Hängen des Latmos begrenzt, im Süden vom Grion-Berg, und genau in seiner Mitte schlängelte sich die staubige Straße dahin, die nach Mylasa führte.
Es war heiß, der Himmel wolkenlos, und auf den Berghängen flimmerte silbern das Laub der Olivenbäume. Die blumen-übersäten Wiesen im Tal waren von kleinen Bächen durchzogen, an denen schneeweiße Kraniche Jagd auf Frösche und Setzlinge machten. Beim Vorbeimarsch des Heeres hoben sie neugierig die Köpfe mit den langen Schnäbeln, wandten sich dann jedoch gleich wieder ihrer Nahrungssuche zu.
»Glaubst du die Geschichte von den Kranichen und den Pygmäen?« wurde Kallisthenes von Leonnatos gefragt, der neben ihm ritt.
»Na ja, sie stammt von Homer, und den halten viele für sehr glaubwürdig . . .«, erwiderte Kallisthenes, aber er klang nicht sehr überzeugt.
»Der alte Leonidas konnte sie jedenfalls sehr spannend erzählen . . . wie Pygmäen und Kraniche sich bekriegt haben -die Vögel entführten mit ihren langen Schnäbeln die Kinder der Pygmäen, und die Pygmäen machten dafür die Eier der Kraniche kaputt. Also ich halte das ehrlich gesagt für Märchen, aber wenn Alexander wirklich vorhat, bis an den äußersten Rand des persischen Reichs vorzudringen, wer weiß, vielleicht bekommen wir diese Pygmäen dann ja doch noch zu Gesicht. . .«
»Vielleicht«, wiederholte Kallisthenes schulterzuckend. »Aber an deiner Stelle würde ich mich nicht zu früh freuen; das sind nun einmal Volkserzählungen, und da wird gern übertrieben. Zwar soll es, wenn man den Nil aufwärts fährt, wirklich eine Art Zwergen mit schwarzer Haut geben, aber ich bezweifle, daß sie, wie ihr Name Pygmaio besagt, gerade mal faustgroß sind -und ihre Weizenfelder mit Äxten abernten. Wenn eine Geschichte über Jahrhunderte hinweg nur mündlich weitergegeben wird, kommt alles mögliche zustande, das ist ganz normal. Stell dir mal vor, ich erzähle plötzlich herum, daß die Kraniche den Pygmäen ihre Kinder rauben, um sie kinderlosen Paaren zu schenken... damit hätte ich dieser an sich schon phantastischen Geschichte ein weiteres phantastisches Element hinzugefügt, aber ein Kern von Wahrheit würde trotzdem bleiben. Verstehst du, was ich meine?«
Leonnatos wiegte skeptisch den Kopf und drehte sich dann nach den Maultieren um, die ihnen mit schweren Säcken beladen folgten.
»Was ist eigentlich in diesen Säcken?« wollte Kallisthenes wissen.
»Sand.«
»Sand?«
»Ja.«
»Wozu?«
»Für meine Kampfübungen. Wer weiß, vielleicht treffen wir bald nur noch steiniges Gelände an, und da bin ich dann froh, daß ich meine Sandsäcke dabeihabe.«
Kallisthenes schüttelte verständnislos den Kopf und spornte seine Stute zu etwas schnellerem Tempo an. Kurz darauf wurde er jedoch von Seleukos überholt, der im Galopp zur Spitze des langen Zuges ritt, sein Pferd neben das Alexanders lenkte und auf den Gipfel des Latmos hinaufdeutete. »Hast du gesehen?«
Der König blickte in die angedeutete Richtung. »Was ist das?«
»Ich habe zwei Kundschafter ausgeschickt, damit sie nachsehen: Sie sagen, da ist eine alte Frau, die uns seit heute früh mit einem kleinen Gefolge nachreitet.«