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»Aber ganz bestimmt. Alexander glaubt nicht mehr an Mythen und Legenden als du und ich, aber er tut so, als seien sie die pure Wahrheit. Auf diese Weise zeigt er seinen Männern, daß man Träume wagen darf.«
»Du scheinst ihn ja wirklich bis auf den Grund seiner Seele zu kennen«, meinte Ptolemaios sarkastisch.
»Nun, ich habe gelernt, die Menschen zu beobachten - genau wie die Natur.«
»Dann solltest du aber wissen, daß niemand von sich sagen kann, er kenne Alexander. Alle haben seine Taten vor Augen, aber vorhersehbar sind sie nicht, und ihr tieferer Sinn bleibt uns auch oft verborgen. Er glaubt und glaubt nicht, zur selben Zeit, er kann in Liebe schwelgen und einen Moment später einen fürchterlichen Wutanfall bekommen, er ist. . .«
»Was?«
»Er ist einfach anders. Als wir uns zum ersten mal begegnet sind, war er gerade sechs Jahre alt, trotzdem kann ich bis heute nicht behaupten, ihn wirklich zu kennen.«
»Du magst ja recht haben, trotzdem sind in diesem Moment alle seine Männer felsenfest davon überzeugt, daß er der wiedererstandene Achilleus ist, und Hephaistion der Patroklos.« »Klar, und nicht nur seine Männer: Er und Hephaistion glauben das in diesem Moment auch. Aber daran bist du mit schuld, Kallisthenes, schließlich hast du mit deinen astronomischen Berechnungen festgestellt, daß unser Einfall nach Asien im selben Monat stattgefunden hat, in dem vor exakt eintausend Jahren der Trojanische Krieg begann.«
Alexander und Hephaistion hatten inzwischen wieder ihre Rüstungen angelegt und kletterten auf ihre Pferde. Als General Parmenion dann Befehl gab, in die Trompeten zu stoßen, sprang auch Ptolemaios in den Sattel. »Ich muß zu meiner Abteilung. Alexander läßt zum Appell blasen.«
Mehrmals noch erschallten die Trompeten, und die ganze Armee bezog entlang des Strandes Stellung, jede Abteilung mit ihrer Standarte und ihren Insignien.
Das Fußvolk umfaßte insgesamt zweiunddreißigtausend Mann. Links außen waren dreitausend »schildtragende Gardisten« aufgestellt, zur Mitte hin folgte eine Truppe von siebentausend griechischen Bundesgenossen - das war gerade ein Zehntel der Krieger, die einhundertfünfzig Jahre zuvor in Pla-taia gegen die Perser gekämpft hatten. Alle trugen die traditionelle wuchtige Rüstung der griechischen Infanterie und schwere korinthische Helme, die lediglich schmale Schlitze für Augen und Mund hatten und ansonsten ihre Gesichter bis zum Halsansatz bedeckten.
Im Zentrum hatten die sechs Phalanxbataillone mit zirka zehntausend Pezetairoi Stellung bezogen und rechts die aus dem Norden: fünftausend Thraker und Triballer, die - verlockt von der Aussicht auf Sold und einträgliche Plünderungen - Alexanders Einladung gefolgt waren; sie galten nicht nur als unglaublich tapfer und kühn, sondern schienen auch gegen Kälte, Hunger und sonstige Strapazen gefeit. Ihr Anblick war allerdings ziemlich scheußlich, denn sie hatten borstiges rotes Haar, lange Bärte und waren obendrein von Kopf bis Fuß mit Tätowierungen übersät.
Die wildesten und primitivsten unter diesen Barbaren waren die Agrianer aus den illyrischen Bergen. Da sie kein Wort Griechisch sprachen, brauchte man einen Dolmetscher, um sich mit ihnen zu verständigen, aber sie waren hervorragende Kletterer, die mit Hilfe von Haken und Seilen aus Pflanzenfasern jede Felswand bezwangen. Die Thraker und alle anderen Hilfssoldaten aus dem Norden waren mit Lederhelmen und -korsetts ausgerüstet sowie mit kleinen, halbmondförmigen Schilden und langen Säbeln, mit denen man sowohl stechen wie hauen konnte. Sie waren bekannt dafür, daß sie auf dem Schlachtfeld wie die wilden Bestien wüteten und im Nahkampf schon mal zubissen, wenn es anders nicht ging. Wie um sie im Zaume zu halten, folgten ganz außen rechts weitere siebentausend griechische Söldner der schweren und leichten Infanterie.
Auf den Flügeln, vom Fußvolk getrennt, hatte die Reiterei Stellung bezogen: zweitausendachthundert schwerbewaffnete Hetairoi, etwa ebenso viele thessalische Reiter, rund viertausend Hilfssoldaten sowie die fünfhundert Elitereiter der »Alexander-Schwadron«.
Der König ritt das Heer auf Bukephalos Abteilung für Ab-teilung ab. Unter den Kameraden, die ihm dabei folgten, war auch sein Sekretär Eumenes. Er saß stocksteif auf seinem Pferd, denn er trug heute ebenfalls eine Rüstung, und zwar einen athenischen Leinenpanzer, der mit glänzendem Bronzeblech verstärkt und geschmückt war; seine Gedanken beim Abreiten der vielen tausend Soldaten waren eher prosaischer Natur: Er überschlug nämlich im Geiste, wieviel Korn, Hülsenfrüchte, gesalzener Fisch und Rauchfleisch nötig waren, um diese Männer zu sättigen, und wieviel Wein, um ihren Durst zu löschen -es waren Riesenmengen. Woher sollte er das Geld nehmen, um täglich so viel Proviant auf den Märkten zu kaufen? Die Reserven, die er bei sich hatte, würden bald erschöpft sein. Anstatt jedoch zu verzagen, nahm er sich vor, dem König noch heute abend Ratschläge für das Gelingen der Expedition zu geben.
Als sie die Spitze des aufgestellten Heers erreicht hatten, gab General Parmenion auf ein Zeichen Alexanders hin den Befehl zum Aufbruch. Nach und nach setzte sich der lange Zug in Bewegung: in der Mitte das Fußvolk, rechts und links davon in doppelter Reihe die Reiterei. Man marschierte am Meer entlang in Richtung Norden.
Wie ein Reptil schlängelte sich die lange Prozession durch die Landschaft, und Alexanders glänzender Helm, auf dem zwei lange weiße Federn steckten, war weithin sichtbar.
Die schöne Daunia trat in diesem Moment vor das Tor des Athenetempels hinaus und blieb auf der obersten Stufe seiner Treppe stehen. Der junge Mann, den sie in dieser duftgeschwängerten Frühlingsnacht geliebt hatte, wirkte jetzt klein wie ein Kind, und seine Rüstung blitzte in der Sonne, als wäre sie tage- und nächtelang auf Hochglanz poliert worden. Nein, das war nicht mehr er; ihn gab es nicht mehr.
Ein Gefühl der Leere breitete sich in ihr aus, während sie ihm nachsah, und als er schließlich ganz aus ihrem Blickfeld verschwunden war, wischte sie sich rasch mit der Hand über die Augen, ging in den Tempel zurück und zog leise das große Tor hinter sich zu.
Eumenes hatte zwischenzeitlich zwei Stafetten mit Geleitschutz nach Lampsakos und Kyzikos gesandt, mächtige griechische Städte, die am Hellespont lagen - die erste direkt an der Küste und die zweite auf einer Insel unmittelbar davor. Im Auftrag Alexanders sollten die Boten den Bürgern dieser Städte erneut die Freiheit und einen Bündnispakt anbieten. Der König war begeistert von der Landschaft, durch die sie kamen, und drehte sich an jeder Wegbiegung nach Hephaistion um: »Schau nur, das Dorf dort, schau nur, der Baum, schau nur, das Standbild ...« Alles war neu für ihn und erfüllte ihn mit Staunen: die weißen Dörfer auf den Hügeln, die Tempel der griechischen und barbarischen Gottheiten, eingebettet in die ländliche Umgebung, der Duft der blühenden Apfelbäume, das leuchtende Grün der Granatapfelbäume.
Von seinem Exil in den verschneiten Bergen Illyriens einmal abgesehen, war dies Alexanders erste Reise außerhalb Griechenlands.
Hinter ihm ritten Ptolemaios und Perdikkas, während alle anderen Kameraden bei ihren Soldaten waren. Lysimachos und Leonnatos führten die Nachhut an, die dem Zug in einiger Entfernung folgte.
»Warum ziehen wir eigentlich nach Norden?« fragte Leonna-tos.
»Alexander möchte die asiatische Seite der Meerengen unter seine Kontrolle bringen. Danach kann keiner ohne unsere Ein-willigung aus Asien hinaus oder nach Asien herein, und Athen hätte auch einen Grund mehr, uns gewogen zu bleiben, schließlich müssen seine Getreideschiffe alle dort oben durch. Im übrigen wären damit auch die persischen Provinzen am Schwarzen Meer abgeschnitten .. . ein kluger Zug also.«
»Das ist wahr.«
Sie ritten im Schrittempo weiter, während die Sonne langsam ihrem Zenit entgegenging. Nach längerem Schweigen sagte Leonnatos: »Eins verstehe ich nicht. . .«
»Man kann im Leben nicht alles verstehen«, erwiderte Ly-simachos ironisch.
»Schon möglich, aber sag du mir, wieso es hier so ruhig ist. Wir sind am hellichten Tag mit vierzigtausend Mann an Land gegangen, Alexander hat den Tempel von Ilion besucht und ist dreimal um Achills Grab gerannt, und keiner wartet auf uns. Ich meine, kein Perser. Findest du das nicht seltsam?«
»Überhaupt nicht.«
»Warum?«
Lysimachos wandte den Kopf nach hinten. »Siehst du die zwei dort oben?« fragte er und deutete auf die Hügelkette zu ihrer Rechten, auf der verschwommen zwei Reitergestalten zu erkennen waren. »Die folgen uns seit heute früh, und bestimmt haben sie uns gestern schon beobachtet und sind auch nicht die einzigen.«
»Dann müssen wir Alexander warnen!« »Keine Sorge, Alexander weiß das längst, und er weiß auch, daß uns die Perser irgendwo einen würdigen Empfang vorbereiten ...«
Der Marsch verlief ohne irgendwelche Zwischenfälle bis zur Mittagsrast und danach ebenso. Von feindlichen Truppen keine Spur, man begegnete nur Bauern, die auf ihren Feldern arbeite-ten, und Scharen von Kindern, die lachend und schreiend ein Stück Weg mitliefen.
Gegen Abend wurde in der Nähe von Abydos das Feldlager aufgeschlagen. Parmenion postierte ringsherum Wächter und schickte kleine Erkundungstrupps in die umliegende Gegend, um vor Überraschungsschlägen sicher zu sein.
Sobald Alexanders Zelt stand, rief die Trompete zum Kriegsrat, und alle Generäle versammelten sich um einen Tisch, während das Abendessen aufgetragen wurde. Kallisthenes war auch dabei, aber Eumenes fehlte noch; er hatte gebeten, schon einmal ohne ihn anzufangen.
»Jungs, hier ist es hundertmal besser als in Thrakien!« rief Hephaistion. »Ausgezeichnetes Klima, freundliches Volk, hübsche Mädchen und kein Schwanz von einem Perser! Ich komme mir vor wie in Mieza, als wir mit Aristoteles im Wald Insekten fangen gingen.«
»Mach dir mal keine Illusionen«, sagte Leonnatos. »Lysi-machos und ich haben zwei Reiter gesehen, die uns den ganzen Tag gefolgt sind und sich bestimmt auch jetzt irgendwo hier in der Nähe herumtreiben.«
Nun bat Parmenion ums Wort, höflich, wie es sich für einen General von der alten Garde gehörte.
»Du brauchst nicht um Erlaubnis bitten, wenn du sprechen möchtest, Parmenion«, sagte Alexander. »Du bist bei weitem der Erfahrenste unter uns; wir können alle von dir lernen.«
»Danke«, erwiderte der General. »Ich wollte nur wissen, was du für morgen und die nächsten Tage vorhast, Herr.«
»Ins Landesinnere vordringen.«
»Sprich: in persisches Gebiet. . .«
»Jawohl. Sind wir erst mal bei ihnen eingefallen, werden sie keine andere Wahl haben, als uns auf offenem Schlachtfeld gegenüberzutreten. Und dort schlagen wir sie.«
Parmenion schwieg.
»Bist du nicht einverstanden?«
»Nur bis zu einem gewissen Punkt, Herr. Ich bin schon bei unserem letzten Kriegszug an die Perser geraten: Sie sind keine leichten Gegner, das kann ich dir garantieren. Außerdem haben sie jetzt einen hervorragenden Anführer - Memnon von Rhodos.«
»Ein griechischer Vaterlandsverräter!« platzte Hephaistion heraus.
»Nein, ein Berufssoldat, ein Söldner.«
»Das kommt doch aufs gleiche raus . ..«
»Nein, Hephaistion. Es gibt Leute, die in unzähligen Kriegen gekämpft haben und am Ende keinerlei Überzeugung oder Ideal mehr besitzen - dafür sehr viel Können und Erfahrung. Solche Leute verkaufen ihr Schwert an den Meistbietenden, aber wenn sie Männer von Ehre sind, und dieser Rhodier ist ein Mann von Ehre, stehen sie zu ihrem Wort - um jeden Preis; es wird sozusagen zu ihrer neuen Heimat, und sie verteidigen es bis zum letzten Tropfen Blut... Memnon stellt eine Gefahr für uns dar, um so mehr, als er über ein Söldnerheer von zehn- bis fünfzehntausend Mann verfügt, alles Griechen und alle bestens ausgerüstet. Und was die Griechen auf offenem Feld leisten können, brauche ich euch ja nicht zu erzählen . . .«