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»Niemand wird mich dazu bringen, ihn hinterrücks ermorden zu lassen«, erwiderte der König mit eiserner Miene. »Er ist ein tapferer Mann, der es verdient hat, mit dem Schwert in der Faust zu sterben und nicht vergiftet in einem Bett dahinzusiechen oder in einer dunklen Ecke meuchlings erdolcht zu werden.«
»Hör zu, Alexander. Wir leben nicht mehr in der Zeit Homers«, sagte Ptolemaios, um ihn zur Vernunft zu bringen. »Die Rüstung, die du neben deinem Bett stehen hast, hat nie Achilles gehört; sie ist bestenfalls zwei- bis dreihundert Jahre alt, das weißt du doch selbst. Denk an deine Soldaten: Memnon kann sie zu Tausenden töten. Ist es das, was du willst, nur um deinem Ideal vom Heldentum treu zu bleiben?«
Der König schüttelte den Kopf.
»Ganz abgesehen davon, daß Memnon dasselbe gegen dich vorhaben könnte«, warf Eumenes ein, »beispielsweise einen Meuchelmörder verdingen oder deinen Arzt dazu anstiften, daß er dich vergiftet. . . Hast du dir das einmal überlegt? Memnon verfügt über enorme Summen Geldes.«
»Ist dir je in den Sinn gekommen«, setzte Seleukos nach, »daß er deinen Vetter Amyntas unterstützen könnte, dem du obendrein das Kommando der thessalischen Reiterei anvertraut hast?«
Der König schüttelte erneut den Kopf. »Auf Amyntas ist Verlaß, er hat sich mir gegenüber immer loyal gezeigt. Ich habe keinen Grund, ihm zu mißtrauen.«
»Also, ich bin nach wie vor der Meinung, daß Memnon ein zu großes Risiko darstellt«, sagte Seleukos.
»Ich auch«, pflichtete Eumenes bei.
Alexander zögerte einen Augenblick: Er sah seinen Gegner wieder vor sich, wie er - die Stadtmauer von Halikarnassos im Rücken - vor ihm gestanden hatte, aufrecht, das Gesicht vom brünierten Visier seines Helms verdeckt, von dem die silberne Rose von Rhodos abstach, und er hörte wieder seine Stimme, die sagte: »Ich bin General Memnon.«
Er schüttelte ein drittes Mal und noch entschiedener als vorher den Kopf: »Nein, diesen Befehl werde ich niemals geben. Ein Mann bleibt ein Mann, auch im Krieg, und wie mein Vater immer sagte: Der Sohn eines Löwen ist ein Löwe - und nicht eine giftige Schlange«, fügte er noch hinzu.
»Ich sehe schon, wir stimmen dich nicht um«, meinte Seleukos. »Nun gut, was der König entscheidet, gilt.«
Ptolemaios und Eumenes nickten, aber sie wirkten nicht sehr überzeugt.
»Freut mich, daß ihr einverstanden seid«, sagte Alexander. »Dann laßt uns jetzt auf der Karte unsere Marschroute entlang der Küste festlegen.«
Sie diskutierten bis tief in die Nacht und gingen erst auseinander, als ihnen vor Müdigkeit die Augen zufielen. Eumenes zog sich als erster zurück, und nach ihm verabschiedeten sich Ptolemaios und Seleukos, doch sie waren kaum draußen, als der Sekretär ihnen ein Zeichen gab und sie zu sich in sein Zelt rief. Er bat sie, sich zu setzen, und schickte einen Diener los, damit er auch Kallisthenes holte, der zu dieser Stunde bestimmt schon schlief.
»Was sagt ihr dazu?« begann Eumenes.
»Wozu?« fragte Ptolemaios.
»Ist doch klar: zu Alexanders Weigerung, Memnon umzubringen«, meinte Seleukos.
»Ich verstehe den König«, fuhr der Sekretär fort, »und ihr sicher auch. Abgesehen davon kommt man ja wirklich nicht umhin, diesen Gegner zu schätzen: Memnon ist ein überragender Mann, als Taktiker ebenso wie als Krieger, aber gerade deshalb stellt er eine tödliche Gefahr für uns dar. Stellt euch nur einmal vor, es gelingt ihm, die Griechen gegen uns aufzuwiegeln, Athen, Sparta und Korinth auf seine Seite zu ziehen . . . Die verbündeten Heere würden nach Norden marschieren, um in Makedonien einzufallen, und die persische Flotte würde das Land vom Meer her in die Zange nehmen.
Sind wir wirklich sicher, daß Antipatros mit dieser Bedrohung fertig würde? Und wenn nicht? Und wenn Memnon die Machtgelüste irgendeines Überlebenden der lynkestischen Königshauses wieder weckt, beispielsweise des Anführers der thessalischen Reiterei, und gleichzeitig einen Bürgerkrieg oder einen Militäraufstand anzettelt? Was stünde unserem Land dann bevor, und unserem Heer? Wenn Memnon siegen würde, könnte er die Meerengen blockieren und uns an der Rückkehr hindern, womöglich für immer. Wollen wir dieses Risiko wirklich eingehen?«
»Was bleibt uns anderes übrig? Gegen den Willen Alexanders können wir nicht handeln«, erwiderte Seleukos.
»Doch, das können wir, unter der Bedingung, daß er nichts davon erfährt. Ich will die Verantwortung aber nicht alleine übernehmen: Wenn ihr mitmacht, leite ich die Sache in die Wege, wenn nicht, lassen wir das Schicksal seinen Lauf nehmen und harren der Dinge, die da kommen.«
»Geh einmal davon aus, daß wir mitmachen«, entgegnete Ptolemaios. »Was hättest du konkret vor?«
»Und warum hast du Kallisthenes rufen lassen?« fragte Se-leukos.
Eumenes streckte den Kopf zum Zelt hinaus, um nachzusehen, ob der Geschichtsschreiber schon im Anmarsch war, aber er sah ihn nicht.
»Hört zu: Nach allem, was wir wissen, befindet Memnon sich augenblicklich auf Chios, er wird jeden Moment in Richtung Norden lossegeln - vermutlich nach Lesbos. Dort wird er auf günstige Winde warten, um das Meer nach Griechenland überqueren zu können. Allerdings wird er sich eine Weile auf der Insel aufhalten, weil er Verpflegung und überhaupt alles, was er für seine Expedition braucht, beschaffen und an Bord laden muß. Und genau das ist der günstigste Augenblick, um ihn ein für allemal aus der Welt zu schaffen.«
»Wie?« fragte Ptolemaios. »Durch Gift? Durch einen Meuchelmord?«
»Keins von beiden. Ein gedungener Mörder käme niemals nah genug an ihn heran: Er wird ständig von vier Männern beschützt, die ihm blind ergeben sind und im Nu jeden töten würden, der den Sicherheitsabstand nicht einhält. Und was Gift betrifft, so vermute ich mal, daß er seine Speisen und Getränke vorkosten läßt: Er lebt zu lange unter Persern, um das nicht gelernt zu haben.«
»Es gibt Giftarten, die nicht sofort, sondern erst später wirken«, bemerkte Ptolemaios.
»Stimmt, aber es handelt sich doch immer um Gift - mit allen bekannten Wirkungen und Symptomen. Und wenn herauskäme, daß Memnon vergiftet worden ist, würde sich der Verdacht natürlich augenblicklich gegen Alexander richten, und das dürfen wir nicht zulassen.«
»Ja dann . ..«, meinte Seleukos und zog die Schultern hoch. »Es gibt noch eine dritte Möglichkeit«, sagte der Sekretär und schlug die Augen nieder, fast als schäme er sich für das, was er dachte. »Nämlich?«
»Eine Krankheit, eine Krankheit, von der er nicht geheilt werden kann.«
»Das ist doch unmöglich!« rief Seleukos aus. »Krankheiten kommen und vergehen, wie sie wollen.«
»Nein, anscheinend geht es nicht immer so willkürlich zu«, erwiderte Eumenes. »Gewisse Krankheiten sollen von winzigen Lebewesen verursacht werden, die von einem Körper auf den anderen übergehen. Das menschliche Auge kann sie nicht sehen, aber ich weiß, daß Aristoteles geheime Experimente durchgeführt hat, bevor er nach Athen gezogen ist - Experimente zur spontanen Entstehung von Leben . . .« »Was soll das heißen?«
»Nun, er hat angeblich entdeckt, daß die Entstehung dieser winzigen Lebewesen in gewissen Situationen durchaus nicht spontan ist - es soll sich vielmehr um eine Art. .. eine Art Verbreitung handeln. Kallisthenes wird euch mehr darüber erzählen. Er weiß alles über diese Experimente und könnte vielleicht seinem Onkel schreiben. Anfänglich würde gar nichts passieren, so daß keinerlei Verdacht auf den Koch oder den Leibarzt fiele: Memnon könnte ganz normal auftreten und handeln. Die ersten Anzeichen würden sich erst nach etlichen Tagen bemerkbar machen.«
Die drei Männer sahen sich zweifelnd und ziemlich betreten an.
»Also mir scheint dieser Plan äußerst schwierig durchzuführen«, meinte Ptolemaios. »Damit er funktioniert, müßten unglaublich viele günstige Umstände zusammenkommen . . .«
»Schon, aber eine andere Möglichkeit sehe ich nicht. Außerdem gibt es ein wichtiges Element zu unseren Gunsten: Memnons Leibarzt kommt aus Theophrasts Schule . . .«
Seleukos sah den Sekretär überrascht an: »Ich wußte gar nicht, daß du dich mit Spionage befaßt«, sagte er.
»Freut mich. Das heißt, daß ich meine Arbeit gut mache. Aber offen gestanden hat mich schon König Philipp seinerzeit mit allen seinen Informanten bekannt gemacht - egal, ob Griechen oder Barbaren.«
In diesem Augenblick betrat Kallisthenes das Zelt. »Ihr habt mich rufen lassen?« fragte er mit verschlafener Stimme.
Auch Alexander wollte es nicht gelingen, Schlaf zu finden: Der Gedanke, daß Memnon einen Angriff auf Griechenland oder womöglich sogar Makedonien vorhaben könnte, beunruhigte ihn zutiefst. War der alte Antipatros in der Lage, die Bedrohung abzuwenden? War es nicht doch besser, ihm Parmenion zur Verstärkung zu schicken?
Während Leptine den Tisch abräumte, verließ er sein Zelt und ging am Meer entlang.
Es war eine friedliche, laue Nacht; das gleichförmige Plätschern der Wellen, die sich sanft am Kieselstrand brachen, begleitete seine Schritte. Der Vollmond ergoß sein bleiches Licht über die Inseln, die sich draußen auf dem Meer aneinanderreihten, und über die weißen Häuser, die sich um die kleinen
Buchten und Häfen drängten.
Irgendwann war der Strand zu Ende, eine Felswand ragte vor ihm auf, aber anstatt nun umzudrehen, beschloß Alexander, sie zu erklimmen, denn von dort oben war die Aussicht bestimmt noch viel schöner.
Der Hang war steil, das Klettern mühsam, zu der körperlichen Anstrengung kam noch die enorme seelische Belastung, der er seit Wochen ausgesetzt war, und so befielen ihn plötzlich, ohne daß er es sich recht erklären konnte, tödliche Müdigkeit und das heftige Bedürfnis, sich an irgend jemanden anlehnen zu können. Vielleicht kam ihm deshalb sein Vater in den Sinn. Fast glaubte er ihn zu sehen, dort oben, auf dem Felsriff - er hätte sich gewünscht, es wäre wahr. Er hätte ihm wie damals bei seinem Besuch in Mieza entgegenlaufen und »Papa!« schreien, und danach bei einem Becher Wein zusammensitzen und ihn um Rat fragen wollen.
Tief in Gedanken versunken erreichte er den Gipfel des Riffs, von wo aus sich der Blick auf den nächsten Küstenabschnitt öffnete, und was Alexander dort sah, erfüllte ihn mit Staunen. Auf der andern Seite des Felsvorsprungs entdeckte er nämlich eine Art Nekropolis, Dutzende von monumentalen Grabdenkmälern, die teils in den Fels gehauen waren, teils entlang des Strandes, vom Meer umspült, einsam und gespenstisch im blassen Mondlicht aufragten.
Und bei den Gräbern am Strand stand ein Mann. Er wandte ihm den Rücken zu und stützte sich auf einen Stab, an dem eine brennende Laterne hing.
Alexander wollte seinen Augen nicht trauen: Dieser Mann hatte genau die Statur seines Vaters, und er trug einen goldverbrämten weißen Umhang wie Philipp am Tag seiner Er-mordung. Er starrte die seltsame Gestalt an, als erwarte er, sie könne jeden Augenblick zu ihm hochsehen und ihn mit der Stimme seines Vaters ansprechen. Doch sie blieb reglos stehen; nur der weiße Mantel wehte leise im Wind.