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»Und Königin Olympias?«
»Ich habe nichts unternommen, um es sie wissen zu lassen, aber Olympias hat bekanntlich überall Ohren - sicher weiß sie längst davon.«
»Und das macht dir keine Angst?«
»Der Regent Antipatros sorgt schon dafür, daß mir nichts zustößt. Siehst du den Fuhrmann dort draußen?« Aristoteles deutete auf den Mann, der ihn nach Mieza gebracht hatte und in diesem Augenblick die Maultiere ausschirrte. »In seinem Quersack steckt ein makedonisches Schwert - eins von denen, die von der Palastwache benützt werden.«
Der Bildhauer warf einen Blick auf den Genannten: ein Muskelpaket mit den geschmeidigen Bewegungen einer Katze. Man sah ihm aus der Ferne an, daß er Mitglied der königlichen Garde war. »Bei den Göttern«, entfuhr es Lysipp. »Der könnte mir ja für eine Heraklesstatue Modell stehen!«
Die beiden Männer ließen sich nieder.
»Siehst du?« meinte der Künstler. »Wie in den alten Zeiten: keine einzige Speiseliege. Hier wird im Sitzen gegessen.«
»Besser so«, erwiderte der Philosoph. »Ich könnte gar nicht mehr im Liegen essen. Dann erzähl mal, was weißt du von Alexander?«
»Bist du nicht durch Kallisthenes bestens informiert?«
»Doch, natürlich. Aber ich möchte es aus deinem Mund hören. Was für einen Eindruck hat Alexander bei deinem Besuch auf dich gemacht?«
»Er geht völlig in seinem Traum auf. Nichts wird ihn aufhalten können, bis er sein Ziel erreicht hat.«
»Und was ist deiner Meinung nach sein Ziel?«
Lysippos schwieg eine Weile; es sah aus, als schaue er dem Sklaven zu, der die Glut im Kamin schürte. »Die Welt verändern«, sagte er dann, ohne den Kopf zu drehen.
Aristoteles seufzte. »Ich glaube, du hast recht. Die Frage ist nur,
ob er sie zum Besseren oder zum Schlechteren verändern wird.«
In diesem Moment trat auch der ausländische Gast ein, Eu-hemeros von Kallipolis. Er stellte sich vor und nahm neben den anderen Platz, während ein paar Diener das Abendessen auftrugen: Hühnerbrühe mit Hülsenfrüchten, Brot, Käse und gekochte Eier mit Öl und Salz. Zum Trinken gab es Wein aus Thasos.
»Was kannst du uns über König Alexander von Epeiros berichten?« fragte Lysippos.
»Große Neuigkeiten«, entgegnete der Gast. »Der König zieht an der Spitze seines und unseres Heers von Sieg zu Sieg.
Er hat Messapia und Iapygien unterworfen und mittlerweile ganz Apulien unter seine Herrschaft gebracht - ein Gebiet, das fast so groß ist wie sein Königreich.«
»Und wo befindet er sich jetzt?« wollte Aristoteles wissen. »Im Winterquartier. Nächsten Frühling rückt er dann gegen die Samniter vor, ein barbarisches Volk, das in den Bergen im Norden von Italien lebt. Er hat sich mit anderen Barbaren, den sogenannten Römern, verbündet, die von Norden her angreifen werden, während er von Süden kommt.« »Und was hält man in Tarentos von ihm?« »Ich bin zwar kein Politiker, aber soweit ich es beurteilen kann, ist er sehr beliebt. . . wenigstens für den Moment.« »Was willst du damit sagen?«
»Nun, meine Mitbürger sind seltsame Leute: Ihre Lieblingsbeschäftigungen sind der Handel und das schöne Leben. Sie kämpfen nicht gerne, und wenn sie von außen bedrängt werden, holen sie lieber andere zu Hilfe, als selbst tätig zu werden - genau, wie sie es mit König Alexander von Epeiros gemacht haben. Aber ich könnte schwören, daß es schon jetzt den ein oder anderen gibt, der meint, Alexander würde zu viel helfen, und vor allem zu gut.«
Aristoteles grinste sarkastisch. »Glauben die Tarenter etwa, er hätte seine Heimat und seine junge Frau verlassen, Gefahren und Strapazen auf sich genommen, durchwachte Nächte, tagelange Märsche und blutige Kämpfe, nur damit sie ihrem Handel nachgehen und sich ein schönes Leben machen können?« Euhemeros zuckte mit den Schultern. »Ja, ich fürchte, sie halten das alles für ganz selbstverständlich - als hätten sie ein Recht darauf. Früher oder später wird ihnen die Realität schon noch die Rechnung präsentieren . . . Doch laßt mich jetzt zum eigentlichen Grund meines Besuchs hier kommen: Eigentlich wollte ich nur Lysippos treffen. Gelobt sei Fortuna, daß sie mich nun gar mit dem vortrefflichen Aristoteles zusammengebracht hat, dem größten Denker der griechischen Welt, und das bedeutet zweifellos der ganzen Erde.« Aristoteles zeigte sich wenig beeindruckt von dem hochtönenden Kompliment und wartete, daß der Gast weitersprach. »Eine Gruppe wohlhabender Bürger ist auf die Idee gekommen, Geld für ein grandioses Kunstwerk zu sammeln, das unsere Stadt in der ganzen Welt berühmt machen soll«, erzählte der Mann.
Lysippos, der inzwischen fertig gegessen hatte, spülte sich den Mund mit einem Schluck Rotwein, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und sagte: »Fahre fort.«
»Bei dem Kunstwerk soll es sich um eine gigantische Zeusstatue handeln, diese soll aber nicht in einem Tempel oder Heiligtum aufgestellt werden, sondern im Freien, und zwar mitten auf der Agora.«
Der junge Karetes riß bei diesen Worten ungläubig die Augen auf. Genau von so etwas hatte er schon immer geträumt, wie sein Meister sehr wohl wußte.
Lysippos las in seinen Gedanken und lächelte, bevor er sich erneut dem Gast zuwandte und sagte: »Die Frage ist nur, wie gigantisch.«
Euhemeros zögerte einen Moment. »Sagen wir vierzig Ellen«, stieß er dann in einem Atemzug hervor.
Karetes zuckte zusammen, und Lysippos umklammerte seine Stuhllehnen und setzte sich auf. »Vierzig Ellen? Götter des Himmels, das wäre ja eine Statue, so hoch wie der Parthenon in Athen!«
»In der Tat. Wir Griechen in den Kolonien wollen eben immer hoch hinaus . . .«
Der Bildhauer wandte sich an seinen jungen Assistenten: »Was hältst du von der Sache, Karetes ? Vierzig Ellen ist eine hübsche Größe, meinst du nicht? Schade, daß augenblicklich niemand auf der Welt in der Lage ist, einen solchen Giganten herzustellen.«
»Wir wären bereit, sehr viel dafür zu bezahlen«, setzte Eu-hemeros noch hinzu.
»Das ist keine Frage des Geldes«, erwiderte Lysippos. »Mit den heutigen Techniken ist es einfach unmöglich, geschmolzene Bronze über eine solche Länge hinweg flüssig zu halten; und die Temperatur außerhalb der Gußform kann auch nicht nach Belieben erhöht werden, sonst platzt die Form - womit ich nicht sagen will, daß ein solches Unterfangen grundsätzlich unmöglich wäre, du könntest dich ja an einen anderen Künstler wenden . . . warum nicht an Karetes?« schlug er vor, indem er dem schüchternen jungen Mann das Haar zerzauste. »Er behauptet, er würde eines Tages die größte Statue der Welt machen.«
Euhemeros schüttelte den Kopf. »Wenn selbst der große Ly-sipp das nicht schafft, wer sonst würde es wagen?«
Lysippos lächelte und legte seinem Schüler eine Hand auf die Schulter. »Karetes vielleicht. Wer weiß . . .«
Aristoteles beeindruckte der Blick des jungen Mannes, aus dem eine unglaubliche Phantasie leuchtete. »Woher kommst du, Karetes?«
»Aus Lindos.«
»Aha, von Rhodos also . . .«, erwiderte der Philosoph, als sei ihm diese Insel sehr vertraut. »Dort nennt man solche großen Statuen glaube ich Kolosse, nicht?«
Ein Diener begann abzuräumen und schenkte noch etwas Wein nach. Lysipp nahm einen Schluck, dann sagte er: »Deine Idee fasziniert mich, Euhemeros, auch wenn ich sie für nicht durchführbar halte. In jedem Fall habe ich dieses Jahr und auch die nächsten paar Jahre sehr viel zu tun und gewiß keine Zeit, mir den Kopf über dieses Problem zu zerbrechen. Richte deinen Mitbürgern jedoch aus, daß Lysippos ab diesem Moment immer eine Zeusstatue in Gedanken mit sich trägt; vielleicht nimmt sie ja früher oder später Gestalt an - in einem Jahr, in zehn oder in zwanzig Jahren . . . wer kann das sagen?«
Euhemeros stand auf. »Dann lebe wohl. Und wisse, daß du uns jederzeit willkommen bist, wenn du es dir noch einmal anders überlegen solltest.«
»Leb wohl, Euhemeros. Ich muß in meine Werkstatt zurück, dort warten sechsundzwanzig versteinerte Reiter darauf, in geschmolzener Bronze lebendig zu werden - die Reiter der Alexanderschar.«
39
Aristoteles begab sich in die altvertrauten Gemächer, zündete ein paar Öllampen an und öffnete die kleine Truhe, in der man die für ihn eingegangene Post aufbewahrte. Sie enthielt, wie er gehofft hatte, einen Brief von Kallisthenes - eine versiegelte und mit Lederbändchen umschnürte Papyrusrolle. Das ganze Schreiben war in einem Geheimcode abgefaßt, dessen Schlüssel nur er, sein Neffe und Theophrast besaßen; er bestand aus einem Raster, das man auf das Blatt legen mußte, um aus dem Text völlig willkürlichen Inhalts diejenigen Worte heraus-zufiltern, die hintereinander gelesen die Geheimbotschaft ergaben. Aristoteles machte sich sofort an die Arbeit. Als er mit der Entzifferung des Schreibens fertig war, hielt er den Papyrusbogen über die Flamme einer Öllampe und sah zu, wie ihre blauen Zünglein nach und nach das ganze Blatt und mit ihm die geheime Botschaft seines Neffen Kallisthenes fraßen. Später ging er in die Stallungen hinunter, weckte den Fuhrmann auf, der ihn nach Mieza gebracht hatte, und überreichte ihm ein versiegeltes Päckchen mit einem Brief. Nach allerlei Ermahnungen zur Vorsicht sagte er: »Nimm dir das beste Pferd und reite sofort nach Methone. Das Schiff, mit dem ich aus Piräus gekommen bin, müßte noch dort sein. Sprich mit dem Kapitän und sag ihm, er soll dich in die Stadt bringen, die hier auf dem Brief angegeben ist. Dort begibst du dich zu Teophrast und überreichst ihm diese Sendung. Sollte dir das aus irgendeinem Grund nicht möglich sein, mußt du meinen Neffen Kallisthenes ausfindig machen und dieses Päckchen ihm aushändigen.«
»Ob der noch mal in See stechen will? Wir haben Winter . . .«
Aristoteles zog einen Beutel Geld aus den Falten seines Umhangs und drückte ihn dem Mann in die Hand. »Das wird ihn überzeugen. Und jetzt mach dich schnell auf den Weg.«
Der Mann sattelte sich ein Pferd, steckte das Päckchen des Philosophen in seinen Quersack, gürtete sich sein Schwert um die Hüfte und stob im Galopp davon.
Lysippos, der trotz der späten Stunden noch bei der Arbeit war, trat ans Fenster, als er den Hufschlag hörte, doch er sah nur Aristoteles, der hastig den Portikus des Innenhofs durchquerte. Am nächsten Morgen - Lysippos rasierte sich gerade vor dem Spiegel - sah er den Philosophen dann wieder, diesmal in Reisekleidung und mit umgehängtem Quersack; er war unterwegs zum Stall, vor dem ein Maultiergespann auf ihn wartete. Lysipp trocknete sich das Gesicht ab, um hinunterzugehen und sich von ihm zu verabschieden, aber just in diesem Moment klopfte ein Diener an die Tür und überreichte ihm einen Zettel.
»Aristoteles an Lysippos. Heil! Eine dringende Angelegenheit zwingt mich, sofort aufzubrechen. Ich hoffe, dich bald wiederzusehen und wünsche dir bis dahin frohes Schaffen. Leb wohl.«
Aristoteles kletterte auf den Bock der kleinen Kutsche und entfernte sich auf der Straße, die nach Norden führte. Der Himmel war grau, und es war so kalt, daß man jeden Moment mit Schnee rechnen mußte. Lysippos zuckte mit der Schulter, schloß das Fenster und rasierte sich zu Ende. Dann ging er hinunter, um sein Frühstück einzunehmen.
Der Philosoph rastete nur einmal kurz in einem Gasthof in Kition und legte die ganze Strecke nach Aigai an einem Tag zurück. Als er in der alten Residenzstadt eintraf, war es bereits dunkel. Trotzdem begab er sich augenblicklich zum Grab König Philipps, neben dessen Altar brennende Tripoden standen. Ari-stoteles schüttelte ein Fläschchen wertvolles orientalisches Duftöl in ihre Schalen und verharrte andächtig vor dem großen Steinportal, dessen Architrav eine herrliche Jagdszene schmückte. In diesem Augenblick sah er den König wieder vor sich, wie er im Hof von Mieza vom Pferd stieg, sein lahmes Bein verfluchte und lauthals »Wo ist Alexander?« schrie.
»Wo ist Alexander?« wiederholte der Philosoph leise vor sich hin murmelnd.