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Er wohnte in einem kleinen Haus am Stadtrand, das ihm noch von damals gehörte. Dort verbrachte er den ganzen nächsten Tag mit dem Lesen und Ordnen gewisser Aufzeichnungen.
Das Wetter verschlechterte sich zusehends; über dem schneebedeckten Gipfel des Bermion zogen sich schwarze Wolken zusammen. Aristoteles wartete, bis es dunkel war, dann hängte er sich einen Umhang über die Schulter, zog sich die Kapuze über den Kopf und durchquerte die nahezu menschenleeren Gassen von Aigai.
Er ging am Theater vorbei, in dem der König auf dem Gipfel seines Ruhmes blutend in den Staub gefallen war, dann schlug er den Weg ein, der aufs Land hinausführte. Er suchte ein einsames Grab.
Irgendwann kam er zu einer Gruppe von uralten Eichen, die hoch inmitten der Landschaft aufragten. Er versteckte sich zwischen ihren knorrigen Stämmen und wurde bald völlig von der Dunkelheit verschluckt. Nicht weit von ihm entfernt war ein unscheinbarer Grabhügel zu erkennen, der mit einem schmucklosen Felsbrocken markiert war. Der Philosoph harrte still und reglos aus.
Von Zeit zu Zeit hob er die Augen zum bleiernen Himmel hinauf und wickelte sich fester in seinen Umhang, um sich gegen den eisigen Wind zu schützen, der von den Bergen herabfegte.
Endlich hörte er zu seiner Linken leise Schritte auf dem Weg. Er wandte den Kopf und erkannte eine zierliche Frauengestalt, die rasch an ihm vorübereilte und zu dem Grabhügel ging.
Er beobachtete, wie sie davor niederkniete und etwas auf die Erde legte, dann schmiegte sie Kopf und Hände an den nackten Stein und umhüllte ihn mit ihrem Mantel, als wolle sie ihn erwärmen. Mittlerweile hatte es zu schneien begonnen.
Aristoteles zitterte vor Kälte und versuchte seinen Umhang noch enger um sich zu schlingen, aber just in diesem Moment blies ihm ein Windstoß so heftig ins Gesicht, daß er laut niesen mußte. Die Frau sprang auf und drehte sich erschrocken nach dem kleinen Eichenwäldchen um.
»Wer ist da?« fragte sie mit zitternder Stimme.
»Einer, der die Wahrheit sucht.«
»Dann tritt hervor und gib dich zu erkennen«, erwiderte die Frau.
Aristoteles verließ sein Versteck und ging auf die Frau zu.
»Ich bin Aristoteles aus Stagyra.«
»Der große Weise«, die Frau nickte. »Was treibt dich an diesen traurigen Ort?«
»Das habe ich dir schon gesagt: die Suche nach der Wahrheit.«
»Welche Wahrheit?«
»Die Wahrheit über den Tod König Philipps.«
Die Frau, fast noch ein Mädchen mit großen dunklen Augen, senkte den Kopf und beugte den Rücken wie unter einer großen Last. »Ich kann dir nicht helfen«, sagte sie.
»Warum besuchst du bei Nacht dieses Grab? Hier liegt Pau-sanias begraben, der Mörder des Königs.«
»Er war mein Liebster, wir wollten heiraten, ich hatte bereits die Hochzeitsgeschenke von ihm bekommen . . .«
»Das habe ich die Leute erzählen hören, und genau aus diesem Grund bin ich heute abend hier. Stimmt es, daß Pausanias ein Liebhaber des Königs war?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich . . . ich weiß nicht.«
»Als Philipp seine letzte Frau, die junge Euridike, geheiratet hat, soll Pausanias ihm eine Eifersuchtsszene gemacht haben, und das wiederum soll den Vater der Braut, den Adligen Attalos, fürchterlich in Rage versetzt haben.« Aristoteles beobachtete beim Sprechen das Gesicht der jungen Frau und erkannte bald die ein oder andere Träne auf ihren bleichen Wangen. »Es wird gemunkelt, Attalos habe Pausanias in seine Jagdhütte eingeladen und später von seinen Jagdhelfern eine ganze Nacht lang brutal vergewaltigen lassen.«
Die junge Frau brach in verzweifeltes Schluchzen aus, aber der Philosoph ließ sich nicht beeindrucken und fuhr gnadenlos fort: »Angeblich hat Pausanias daraufhin vom König verlangt, daß er ihn rächt, und da der König dies ablehnte, brachte er ihn um. Hat es sich so zugetragen?«
Das Mädchen wischte sich die Tränen ab.
»Ist das die Wahrheit?«
»Ja«, erwiderte sie schluchzend.
»Die ganze Wahrheit?«
Diesmal bekam Aristoteles keine Antwort.
»Daß die Geschichte mit Attalos' Jagdhütte stimmt, weiß ich aus sicherer Quelle. Doch was war der wahre Grund? Tatsächlich nur enttäuschte Männerliebe mit all ihren Folgen?«
Die junge Frau schien die Unterhaltung an diesem Punkt endgültig abbrechen zu wollen, denn sie machte Anstalten zu gehen. Der Schal, den sie über dem Kopf trug, war schon ganz weiß, und auch den Boden bedeckte inzwischen eine dünne Schicht Schnee. Aristoteles packte sie am Arm: »Also? Was antwortest du mir?« fragte er, indem er seine kleinen grauen Raubvogelaugen auf sie heftete.
Das Mädchen schüttelte nur den Kopf.
»Komm«, sagte der Philosoph, und seine Stimme klang plötzlich viel wärmer. »Ich habe ein Haus hier in der Nähe, und das Feuer im Kamin sollte noch brennen.«
Die junge Frau gab ihren Widerstand auf und folgte Aristoteles willig in dessen Wohnung, wo er sie neben dem Kamin Platz nehmen ließ und das Feuer noch einmal kräftig schürte.
»Leider kann ich dir nichts außer einem heißen Kräutertee anbieten, ich bin nämlich nur auf der Durchreise hier.«
Er nahm einen Krug vom Feuer und goß den dampfenden Tee in zwei Tonschalen.
»Also, erzähl mir, was du weißt. Bitte.«
»Pausanias war nie ein Liebhaber des Königs - er hatte überhaupt nie etwas mit Männern zu tun. Ihm gefielen nur Mädchen. Er war ein einfacher junger Mann von ärmlicher Herkunft. Und ob König Philipp je Liebschaften mit Männern hatte, weiß auch niemand. Da ist viel geklatscht worden, aber nachweisen konnte ihm keiner was.«
»Du scheinst ja gut informiert zu sein. Wie kommt das?«
»Ich bin Bäckerin im Königspalast.«
»Verstehe. Du meinst also, daß König Philipp nichts mit Pausanias zu tun hatte. Aber vielleicht hat es sich ja um eine einzelne Episode gehandelt, eine Ausnahme .. .«
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil Pausanias mir erzählt hat, daß er Attalos zufällig bei einer Unterredung überrascht hat; anscheinend ging es um eine geheime, sehr gefährliche Sache.«
»Hat er vielleicht gelauscht?«
»Schon möglich.«
»Und worum ging es? Hat er dir das auch erzählt?«
»Nein, aber mit dem, was sie ihm angetan haben, wollten sie ihn bestimmt einschüchtern - sie wollten ihn kaputtmachen, ohne ihn richtig zu töten. Der Mord an einem königlichen Leibwächter hätte zuviel Aufsehen erregt.«
»Gut, nehmen wir mal an, Pausanias überrascht Attalos bei einer gefährlichen Unterhaltung, einer Verschwörung vielleicht. Er droht, alles zu verraten, und wird daraufhin von Attalos an einen abgelegenen Ort eingeladen - angeblich, um mit ihm zu verhandeln, in Wahrheit, um ihn von seinen Jagdhelfern brutal mißhandeln zu lassen. Die Frage ist jetzt nur: Warum tötet Pausanias daraufhin König Philipp? Das macht doch keinen Sinn!«